Wahlkarte zeigt Wiener Sprengel
ORF.at/SORA
Vor und nach der Wahl

Die Bedeutung der Wiener Peripherie

Der Sieg der Wiener SPÖ bei der Wiener Gemeinderatswahl hat viel mit dem Abschneiden der Partei in den Flächenbezirken und an den Stadträndern im Süden und Osten zu tun. Die Peripherie spielt aber nicht nur für die Sozialdemokratie eine Rolle: Auch die ÖVP konnte hier in für sie ungewöhnlichen Gebieten punkten – und selbst innerstädtisch starke Parteien wie die Grünen profitieren von den Stimmen aus den Außenbezirken.

In den flächenmäßig großen Bezirken gibt es bereits jetzt Zehntausende Stimmen abzuholen. Für die Parteien bergen sie zudem Potenzial für die Zukunft. Im 10. Wiener Gemeindebezirk Favoriten, wo große Bauprojekte wie das Sonnwendviertel umgesetzt wurden, ist die Bevölkerung in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten von knapp über 159.000 im Jahr 2004 auf fast 205.000 gewachsen. In der Donaustadt, dem 22. Bezirk, kamen im selben Zeitraum von 142.000 auf 191.000 neue Einwohnerinnen und Einwohner dazu.

Wie wichtig die Donaustadt für die SPÖ ist, zeigte sich bei der Gemeinderatswahl 2015. Damals holte die Sozialdemokratie elf Prozent ihrer Stimmen in diesem Bezirk. Prozentuell war die SPÖ im Jahr 2015 in der Brigittenau stärker als in der Donaustadt, ebenso ist es bei der diesjährigen Wahl. Die Stimmen aus dem 22. Bezirk hatten maßgeblichen Anteil daran, dass die Sozialdemokratie das vom damaligen Bürgermeister Michael Häupl ausgerufene „Duell um Wien“ mit den Freiheitlichen für sich entscheiden konnte.

Mit den Sprengeln werden auch die Hochburgen der größeren Parteien sichtbar. Die Karten beruhen auf SORA-Hochrechnungen von Sonntag.

Für die kleineren Parteien kann dagegen selbst ein geringes prozentuelles Ergebnis in den Flächenbezirken Großes bewirken, wie sich am Beispiel der Grünen zeigt. Die Hochburgen der Ökopartei liegen in den Bezirken zwischen Ring und Gürtel. 2015 holten die Grüne in Wien-Neubau 26 Prozent, in der Donaustadt waren es nur 6,7. „Allerdings war die Donaustadt der Bezirk mit den zweitmeisten absoluten Stimmen für die Grünen“, so der Politikwissenschaftler Flooh Perlot vom Institut für Strategieanalysen in einem Gespräch mit ORF.at. Auch 2020 sammelten die Grünen in der Donaustadt insgesamt mehr Stimmen als etwa in Neubau.

Türkisfarbener Schimmer am Stadtrand

Die ÖVP konnte bei der diesjährigen Gemeinderatswahl ihre Bastionen in der Inneren Stadt sowie den gutbürgerlichen Außenbezirken Hietzing, Währing und Döbling halten. Allerdings schimmern nicht nur der Nordwesten und Westen Wiens türkisfarben. Im Süden und Osten der Stadt wechselten viele frühere Wählerinnen und Wähler der FPÖ zur ÖVP. Das führte unter anderem dazu, dass die ÖVP laut OGM-Untersuchung zur zweitstärksten Kraft in den Gemeindebauten aufstieg, wo die SPÖ eine knappe „Absolute“ erreichte – mehr dazu in wien.ORF.at.

Bereits bei der Nationalratswahl 2019 legte die ÖVP auf Kosten der FPÖ auch in Wien stark an Stimmen zu. Bei der Gemeinderatswahl 2020 profitierte die ÖVP neuerlich vom schwachen Abschneiden der Freiheitlichen, wenn auch in geringerem Ausmaß. Jene, die den Wechsel zur ÖVP vollzogen, sorgten aber dafür, dass die ÖVP etwa in den Bezirken im Süden Wiens stärker wurde, „als man es bei vergangenen Wahlen gewohnt war“, so Perlot. Das gilt etwa für Liesing, wo die ÖVP ein Plus von fast 15 Prozent einfahren konnte und nun bei über 24 Prozent liegt.

FPÖ mit großem Potenzial

Die FPÖ erlebte bei der Wien-Wahl ein Debakel. Mit 7,1 Prozent fielen die Freiheitlichen auf den fünften Platz zurück, noch hinter NEOS. Mehr als an die anderen Parteien verloren die Freiheitlichen an das Nichtwählerlager. 101.000 FPÖ-Wählerinnen und -Wähler blieben nach dem „Ibiza“-Skandal und der Spesen-Causa um den ehemaligen FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache heuer den Urnen fern.

Wohnhäuser an der Donaustadtbrücke
ORF.at/Christian Öser
Blick von der Leopoldstadt Richtung „Transdanubien“: Die äußeren Bezirke bieten für alle Parteien ein großes Stimmenpotenzial

In den großen Bezirken Favoriten, Simmering, Floridsdorf und der Donaustadt setzte es herbe Verluste für die FPÖ. Bei der Gemeinderatswahl vor fünf Jahren hatte die FPÖ in Floridsdorf sogar mehr Stimmen erhalten als die Sozialdemokratie, in Simmering wurde mit Paul Stadler zum ersten Mal überhaupt ein Freiheitlicher zum Bezirksvorsteher gewählt – beides ist seit Sonntag passe. In den Bezirken rund um die Innenstadt gab es für die Partei von Dominik Nepp wenig zu holen – mit Ausnahme der Landstraße und der Leopoldstadt blieb man dort unter fünf Prozent.

Der Weg zurück zu alter Stärke führt für die Freiheitlichen über die äußeren Bezirke. Perlot bescheinigt ihr in den Flächenbezirken ein ähnlich großes Potenzial wie der SPÖ. In besagten Gebieten sind viele Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Personen mit einem formal niedrigen Bildungsabschluss zu Hause – und diese tendieren, sofern sie wahlberechtigt sind, in Wien nach wie vor zu SPÖ und FPÖ.

„Zeit arbeitet für die Grünen“

Wien wächst. 2027 werden Prognosen zufolge erstmals seit mehr als einem Jahrhundert wieder über zwei Millionen Menschen in der Stadt leben. Am stärksten ist das Bevölkerungswachstum derzeit in Simmering, der Brigittenau und der Donaustadt. Welche Parteien daraus Kapital schlagen können, hängt laut Perlot auch von der Art der Bauprojekte in den jeweiligen Gebieten ab. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Gemeindebauten und generell sozialem Wohnbau könnten SPÖ und FPÖ stärken, Projekte privater Bauträger könnten dagegen eher ÖVP, NEOS und bis zu einem Grad auch den Grünen zu mehr Stimmen verhelfen.

Bei Klick auf den Sprengel erscheinen die Stimmenanteile der Listen, die Karte wurde nach Veröffentlichung des Briefwahlergebnisses neu berechnet

Die Grünen könnten dem Politologen zufolge auch von den innerstädtischen Bewohnerinnen und Bewohnern profitieren, die eine Familie gründen und sich in den äußeren Bezirken niederlassen. „Bis zu einem gewissen Grad arbeitet die Zeit für die Grünen“, sagt der Politikwissenschaftler. Grün-Stimmen würden gewissermaßen aus den inneren Bezirken „importiert“, so Perlot – freilich mit Einschränkungen: „Wenn die Leute einmal dort wohnen, können sich Präferenzen auch wieder ändern.“