Graffiti wirbt für Morales in in El Alto, Bolivien
APA/AFP/Aizar Raldes
Bolivien-Wahl

Morales’ gewichtiges Vermächtnis

Fast ein Jahr nach dem Regierungsende von Staatschef Evo Morales wählt Bolivien am Sonntag nun einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament. Die Hoffnung vieler, dass dadurch die Krise in dem politisch gespaltenen Land überwunden werden könnte, wird durch einen Blick auf die vergangenen Monate jedoch stark getrübt. Und obwohl sich Morales derzeit im Exil befindet, spielt sein politisches Erbe eine entscheidende Rolle.

Laut aktuellen Umfragen gilt der Kandidat von Morales’ sozialistischer Partei MAS (Movimiento al Socialismo, Bewegung zum Sozialismus, Anm.) Luis Arce derzeit als Favorit der Wahl. Der Ex-Wirtschaftsminister und Vertraute von Morales liegt knapp vor dem ehemaligen konservativen Präsidenten Carlos Mesa, Kandidat der Allianz Bürgergemeinschaft (Comunidad Ciudadana). In Umfragen kam Arce zuletzt auf rund 34 Prozent, Mesa auf 27.

Sowohl die rechtsgerichtete interimistische Präsidentin Jeanina Anez als auch der ehemalige Kurzzeitpräsident Jorge Quiroga legten ihre Kandidatur bereits zurück. Damit wollen sie laut eigenen Worten die Stimmen der konservativen Wählerschaft bündeln und eine Rückkehr der MAS verhindern. „Wenn wir uns nicht vereinen, gewinnt die Diktatur“, sagte Anez. Während es laut Beobachtern und Beobachterinnen als sicher gilt, dass Arce aus der ersten Runde als Sieger hervorgeht, könnte ihn die – sehr wahrscheinliche – Stichwahl die Präsidentschaft kosten.

Evo Morales und Luis Arce Catacora
Reuters/Agustin Marcarian
Arce und Morales bei einem Parteitreffen – in Umfragen liegt Arce zwar vorn, ein Sieg ist jedoch keinesfalls garantiert

Wahlkampf von Gewalt geprägt

Der Wahlkampf war laut Berichten geprägt von gewaltsamen Zwischenfällen. Das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte in Bolivien registrierte seit Anfang September mehr als 40 Gewaltattacken. Sowohl die EU als auch die Vereinten Nationen riefen bereits zu einer friedlichen Stimmabgabe auf. Doch auch zwischen den politischen Kontrahenten herrscht eine „aggressive Stimmung, die von Tag zu Tag steigt“, wie das Magazin „Blickpunkt Lateinamerika“ schrieb. Und weiter: „Beide Seiten werfen der jeweils anderen vor, das Ergebnis der ersten Runde der Präsidentenwahl fälschen zu wollen.“

Arce prangerte in einem offenen Brief Diffamierungs- und Sabotageversuche der Regierung an und forderte die internationale Gemeinschaft dazu auf, die Wahlen genau zu beobachten, schließlich gehe es um die Wiederherstellung der Demokratie in Bolivien, so Arce auf Twitter. Zudem zeigte er sich angesichts der massiven Erhöhung des Polizei- und Militäraufgebots der Regierung besorgt. Das Onlineportal Amerika21 schrieb, dass der Innenminister den Einsatz Tausender bewaffneter Polizeikräfte bei den Wahlen angekündigt habe.

Präsidentschaftskandidat Carlos Mesa
Reuters/Manuel Claure
Mesa war bereits einmal, von 2003 bis 2005 Präsident Boliviens. Bei der vergangenen Wahl unterlag er seinem Rivalen Morales

„Gute alte Zeiten“ als Wahlmotiv

Einige Analysten halten diese Wahlen für die wichtigsten des demokratischen Boliviens. „Wie selten in der Geschichte des Landes liegt die Zukunft in unseren Händen“, sagt etwa der Wirtschaftswissenschaftler Gonzalo Chavez von der Katholischen Universität in La Paz. Der bolivianische Politikberater Vigmar Vargas kritisierte indes, dass niemand ein alternatives Projekt für die Zukunft des Landes habe.

CoV in Bolivien

Bolivien zählt mit rund 140.000 bestätigten Fällen und mehr als 8.400 Toten im Verhältnis zu seiner Bevölkerung (elf Mio. Einwohnerinnen und Einwohner) zu den am stärksten von der Pandemie betroffenen Ländern der Welt. Wegen der Coronavirus-Krise wurde die Wahl bereits zweimal verschoben.

Dass die sozialistische MAS-Partei in den Umfragen führt, lässt laut einer Analyse von Reuters vor allem den Wunsch der Bevölkerung nach Stabilität und Sicherheit der Vergangenheit erkennen. Schließlich erlebe das Land nicht nur eine politische, sondern auch wirtschaftliche Krise, die durch die Pandemie zusätzlich verschärft wurde.

Experten und Expertinnen sprechen bereits von einer möglichen Rückkehr der „Evonomics“, ein Wortspiel aus „Wirtschaft“ (Economics) und dem Vornamen Morales’ (Evo). Gemeint ist damit eine Mischung aus Verstaatlichung, Bereitstellung öffentlicher Ressourcen und Arbeit sowie einigen branchenfreundlichen Maßnahmen für Sektoren wie die Landwirtschaft, wodurch Bolivien unter Morales’ 13 Jahre andauernder Präsidentschaft Jahre des Wirtschaftswachstums und der Stabilität erlebte.

Fotostrecke mit 5 Bildern

13.10.20 Bolivien Wahlvorschau Haupt
ORF.at/Tamara Sill
Morales lebt derzeit im argentinischen Exil. Am Tag seiner Ankunft kam es zu Solidaritätsprotesten vor der bolivianischen Botschaft in Buenos Aires.
Demonstration in Buenos Aires 2019
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Moarles’ Anhänger und Anhängerinnen demonstrierten gegen den „Putsch“
Demonstration in Buenos Aires 2019
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Frauen spielen in Protestbewegungen Lateinamerikas eine große Rolle – so auch im November 2019 bei der Bolivien-Demo in Buenos Aires
Demonstration in Buenos Aires 2019
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„Evo Morales ist der beste Präsident Boliviens“ und „Gegen den Putsch in Bolivien“ steht auf den Plakaten der Demonstrierenden
Demonstration in Buenos Aires 2019
ORF.at/Tamara Sill
Die bunten Wiphala-Flaggen sind das Symbol der indigenen Bevölkerung Boliviens – 2009 stellte Morales die Flaggen der Nationalflagge Boliviens gleich

„WP“: Bolivien flirtet mit Rückkehr Morales’

Auch die „Washington Post“ („WP“) schrieb kürzlich davon, dass Bolivien „mit der Rückkehr von Evo flirtet“, allerdings bestünde bei einem Wahlsieg der MAS laut Beobachtern die Gefahr, dass es lange zu keiner freien Wahl mehr kommen könnte. Schließlich überwand Morales bereits einmal die Gesetze, als er vergangenes Jahr für eine vierte Amtszeit antrat. Die Verfassung hätte eine weitere Kandidatur eigentlich nicht zugelassen, das Verfassungsgericht gestand ihm das aber dennoch zu.

Präsidentschaftskandidatin und Interimspräsidentin Jeanine Anez
AP/Juan Karita
Die erzkonservative Übergangspräsidentin Anez zog ihre Präsidentschaftskandidatur bereits zurück, um eine Rückkehr von Morales zu verhindern

Sein Streben nach Macht und sein von Kritikern als autoritär verurteiltes Verhalten gegen Ende seiner Amtszeit scheint Morales dann auch zum Verhängnis geworden zu sein. Nach der Präsidentschaftswahl im Oktober 2019 kam es zu Massenprotesten, bei denen 35 Menschen starben. Auf Druck des Militärs musste Boliviens erster indigener Präsident zurücktreten. Ihm wurde Wahlbetrug vorgeworfen, Morales setzte sich ins Ausland ab, zuerst nach Mexiko, dann nach Argentinien, und eine rechtsgerichtete Interimsregierung übernahm.

Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) stellte in einem Bericht „schwerwiegende Unregelmäßigkeiten“ fest und forderte, die Wahl für ungültig zu erklären. Einer im März erschienenen Studie von unabhängigen Experten des US-amerikanischen Massachusetts-Instituts für Technologie (MIT) zufolge sei das Ergebnis des OAS-Berichts jedoch fehlerhaft – die Wahl sei korrekt abgelaufen und Morales der rechtmäßige Sieger. Auch die Anhänger von Morales sowie seine Verbündeten in der Region sehen in den Vorgängen einen Putsch, er selbst sprach vom „heimtückischsten und schändlichsten Staatsstreich der Geschichte“.

Evo Morales als bolivianischer Präsident 2018
AP/Juan Karita
Morales im Jahr 2018 – von 2006 bis 2019 war der frühere Kokabauer und Gewerkschafter an der Macht

Gericht verbietet Morales Kandidatur

Weil der langjährige Staatschef im Exil lebt, wurde ihm die Kandidatur für einen Sitz im bolivianischen Senat gerichtlich untersagt. Morales steht in Bolivien zudem wegen Volksverhetzung, Terrorismus und Genozid für seine Rolle bei der Gewalt nach den Wahlen des vergangenen Jahres unter Anklage. Außerdem befindet er sich wegen angeblicher Beziehungen zu Minderjährigen im Fokus der Justiz. Morales bestreitet die Vorwürfe.

Nach wie vor hat der 60-Jährige aber großen politischen Einfluss in seinem Heimatland. Das zeigte sich etwa bei den Straßenblockaden mitten in der Coronavirus-Pandemie. Hunderte Demonstrierende schnitten Städte von der Versorgung ab. Sie stehen der MAS-Partei des Ex-Präsidenten nahe, der laut Berichten aus dem Ausland zur Mobilisierung aufrief.

Lithium-Abbau in Bolivien
APA/AFP/Pablo Cozzaglio
Lithiumabbau in Bolivien: Die Salar de Uyuni ist die größte Salzpfanne der Welt, hier lagern 5,4 Millionen Tonnen „weißes Gold“ – und somit ein „Milliardenschatz“

Der Kampf um das „weiße Gold“

Und dann gibt es bei dieser Wahl noch einen weiteren Aspekt: Lithium. Jenes Alkalimetall, das derzeit unabdingbar bei der Herstellung von Akkus ist. Jedes Smartphone enthält etwa zwei Gramm davon, ein Elektroauto etwa 20 Kilogramm – der Bedarf steigt rasant. Eines der weltweit größten Vorkommen findet sich in der Salar de Uyuni im Südwesten Boliviens. Hier in der größten Salzpfanne der Welt lagern rund 5,4 Millionen Tonnen des „weißen Goldes“ und somit ein „Milliardenschatz“, wie „Le Monde Diplomatique“ schrieb.

Das gespaltene Land

Bolivien ist nicht nur in Hoch- und Tiefland gespalten, sondern auch in indigene Mehrheit und europäisch-stämmiges Establishment – das spiegelt sich auch in der Politik wieder.

Morales sorgte dafür, dass die satten Gewinne größtenteils im Land blieben und auch der indigenen Bevölkerungsmehrheit zugutekamen. Bei seinem Amtsantritt versprach er, dass es zu keiner „Ausraubung“ des Landes kommen werde. Vom Abbau des Rohstoffes bis zur Verarbeitung zum Endprodukt, den Lithium-Ionen-Akkus, sollte die gesamte Wertschöpfungskette in staatlicher Hand bleiben. Sollte die Rechte bei den Wahlen als Sieger hervorgehen, könnte es wieder zu Privatisierungen kommen, analysierte „Le Monde“.

Versprechungen und Appelle bei Abschlusskundgebung

Beim Wahlkampfabschluss am Freitag versicherte Arce, dass sein Einzug in den Präsidentenpalast das Projekt von Morales zu Ende bringen und die Rohstoffausbeutung vor dem Zugriff transnationaler Konzerne schützen werde.

Beobachter rechnen bei einem Sieg der MAS-Partei jedoch auch mit einer Rückkehr Morales’. Gegen diese stellt sich der konservative Mesa jedoch vehement. Bei seiner Abschlusskundgebung am Freitag sagte er: „Wir sagen Nein zu Evo Morales, damit der Autokrat sich im Klaren darüber ist: Wenn er nach Bolivien zurückkehrt, dann nur, um Rede und Antwort zu stehen.“