MNS-Maske mit aufgedruckter EU-Fahne
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CoV-Zahlen steigen

Situation in EU-Ländern überschattet Gipfel

Brexit, Klimaschutz, Türkei – der am Donnerstag gestartete EU-Gipfel hätte sich um zahlreiche große Baustellen kümmern sollen. Doch vor allem ein Thema bestimmte am ersten Tag das Geschehen: Die Coronavirus-Pandemie beschäftigt die Mitgliedsländer momentan enorm, die Zahlen steigen überall deutlich. Dass die Lage ernst ist und sich durch die ganze EU zieht, wurde gleich zum Auftakt symbolträchtig verdeutlicht.

Die Debatte über das Coronavirus nahm den Großteil des ersten Gipfeltages in Anspruch. Die EU-Staats- und -Regierungschefs tauschten sich über die Situation in ihren Ländern aus. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sagte nach dem ersten Tag, dass „sehr schnell ersichtlich“ geworden sei, dass die Situation „in allen europäischen Ländern gleich“ sei. „Alle Länder sprechen davon, dass wir mitten in der zweiten Welle angelangt sind“, so Kurz.

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sagte, die Mitgliedsstaaten hätten vereinbart, sich „regelmäßig über Videokonferenzen auszutauschen“. Man habe sich darüber unterhalten, wie man die Infektionsketten angesichts stark steigender Ansteckungen noch nachverfolgen könne und wer etwa in Quarantäne geschickt werden solle. „Das ist eine ganz große Herausforderung“, so Merkel.

Kurz: „Zweiten Lockdown verhindern“

„Alle erleben den gleichen Trend“, sagte Kurz. Ihm zufolge war die Pandemie am ersten Gipfeltag unter den Staats- und Regierungschefs „das am ausführlichsten diskutierte Thema“. Kurz betonte, alle wollten „einen zweiten Lockdown verhindern“. Das könne aber nur gelingen, „wenn die Länder, die jetzt besonders betroffen sind, auch reagieren und die Bevölkerung diese Maßnahmen auch mitträgt“.

„Die Frage, wie wir aus dieser Pandemie jetzt herauskommen“, entscheide darüber, wie viele Menschen sterben müssten – „und sie entscheidet auch über unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit“, sagte Merkel. Allen sei „ganz klar, dass jeder von uns sehr hart arbeiten muss mit seinen Regierungen, um dieses Thema zu bewältigen“. Es müsse sichergestellt werden, dass es „kein ungebremstes Wachstum“ bei den Infektionszahlen gebe.

Von der Leyen musste Gipfel verlassen

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte schon zu Beginn des Gipfels, dass man sich innerhalb der EU besser koordinieren müsse. Die Lage werde zunehmend besorgniserregend. Die EU-Staaten hätten sich zwar in dieser Woche auf eine europäische Ampelkarte verständigt. Darüber hinaus soll es aber auch eine Einigung auf die Länge einer Quarantäne und auf die Notwendigkeit von Tests geben, so von der Leyen.

Ursula von der Leyen und Xavier Bettel
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Von der Leyen war nur kurz auf dem EU-Gipfel – und verabschiedete sich dann in die Quarantäne

Nur eine halbe Stunde später rückte von der Leyen selbst in den Mittelpunkt: Sie musste den Gipfel plötzlich verlassen, denn ein Mitarbeiter aus ihrem Büro wurde positiv getestet. „Ich wurde soeben darüber informiert, dass ein Mitglied meines Büros heute Morgen positiv auf Covid-19 getestet wurde“, schrieb von der Leyen auf Twitter. Zwar sei ihr eigenes Testergebnis negativ, dennoch habe sie als „Sicherheitsmaßnahme“ den Gipfel sofort verlassen und begebe sich nun in Quarantäne.

„Müssen uns an Covid-19 anpassen“

Es gab Kritik daran, dass der Gipfel überhaupt stattfindet. Dänemarks Ministerpräsidentin Mette Frederiksen hätte es wegen der aktuellen Lage lieber gesehen, wenn der Gipfel online statt in Brüssel abgehalten worden wäre. Es wäre aufgrund der steigenden Infektionszahlen in ganz Europa angebrachter gewesen, eine Videokonferenz abzuhalten, so Frederiksen. Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki nimmt wiederum gar nicht erst teil – er ist ebenfalls in Quarantäne.

EU-Gipfel in Brüssel

Die Staats- und Regierungschefs der EU beraten bei ihrem Gipfel in Brüssel über Themen wie den Brexit und die Klimapolitik. Doch das Coronavirus steht momentan im Mittelpunkt.

Am Abend verteidigte Ratspräsident Michel den Gipfel. „Es steht fest, dass wir uns an Covid-19 anpassen müssen“, sagte der Belgier während einer Pause. Es gebe jedoch einige Themen, bei denen die persönliche Anwesenheit der EU-Staats- und Regierungschefs unabdingbar sei, um Entscheidungen zu treffen.

Nachbarländer im Krisenmodus

Österreichs Nachbarländer befinden sich jedenfalls im Krisenmodus. Die Neuinfektionen mit dem Coronavirus steigen überall, vielerorts wird von neuen Höchstwerten gesprochen. Trotz strengerer Maßnahmen steigen die Zahlen etwa in Tschechien weiter. Am Mittwoch wurden 9.544 neue Fälle verzeichnet, wie das Gesundheitsministerium in Prag am Donnerstag bekanntgab. Das war der höchste Wert an einem Tag seit Beginn der Pandemie.

Die Regierung in Prag kündigte an, rund 4.000 Krankenhausbetten zu kaufen, um Behelfseinrichtungen für einen möglichen Ansturm einrichten zu können. Kritikerinnen und Kritiker aus Ärztekreisen merkten an, das Problem sei nicht die verfügbare Bettenzahl, sondern der Mangel an Pflegepersonal.

Seit Mittwoch sind alle Restaurants und Bars geschlossen. Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit ist verboten. Alle Schulen haben Fernunterricht eingeführt. Es dürfen sich sowohl drinnen als auch draußen nur noch maximal sechs Menschen treffen. Sport- und Kulturveranstaltungen sind untersagt. Die Maskenpflicht wurde ausgeweitet. Der EU-Mitgliedsstaat hat knapp 10,7 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner.

Teil-Lockdown in Slowenien

Slowenien führt angesichts steigender Zahlen für den Großteil des Landes einen Teil-Lockdown ein. Ab Freitag werden sieben von zwölf Regionen mit den höchsten Infektionszahlen unter Quarantäne gestellt, die Bewohnerinnen und Bewohner werden nur unter Ausnahmen ihre Region verlassen dürfen. In den Risikoregionen wird außerdem ein Versammlungsverbot gelten, Bars und Restaurants werden geschlossen, Maskenpflicht wird es auch im Freien geben. Die Einschränkungen werden voraussichtlich für die nächsten zwei Wochen gelten, sagte der slowenische Innenminister Ales Hojs bei einer Pressekonferenz am Donnerstag. Die Regierung hatte die schärferen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus am Mittwochabend beschlossen.

Passagiere in Bus in Rom
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Öffentliche Verkehrsmittel in Italien dürfen nur zu 80 Prozent besetzt werden

Das Verlassen von „roten“ Regionen wird mit mehreren Ausnahmen geregelt. In die Arbeit oder etwa für einen Arztbesuch wird man weiterhin über die Regionalgrenzen hinweg pendeln dürfen. Transit wird ebenfalls erlaubt. Wer für die Herbstferien in der letzten Oktober-Woche bereits Urlaub außerhalb der eigenen Region gebucht hat, wird diesen trotz Einschränkungen realisieren können. Davon wird laut Hojs jedoch abgeraten.

Dazu werden ab Montag die Schulen im ganzen Land für eine Woche überwiegend auf Fernunterricht übergehen, bevor die einwöchigen Herbstferien eintreten. Slowenien verzeichnete den zweiten Tag in Folge einen Rekord von Neuinfektionen mit SARS-CoV-2. Nachdem für Dienstag 707 neue Fälle vermeldet wurden, stieg die Zahl für Mittwoch auf 745.

Italien erwägt beschränkte Lockdowns

Indes erwägt ein weiteres Nachbarland Österreichs strengere Regeln. Nachdem Italien am Donnerstag 8.804 Neuinfektionen verzeichnete – so viele wie noch nie binnen 24 Stunden –, prüft die Regierung in Rom die Möglichkeit, auf lokaler Basis beschränkte Lockdowns einzuführen. Die Maßnahme könnte Provinzen der Lombardei und der süditalienischen Region Kampanien betreffen, in denen die Zahl der Infektionen stark gestiegen ist.

Premier Giuseppe Conte sagte, er wolle seinem Land einen neuen Lockdown nach jenem im März und April ersparen, doch alles hänge vom Verhalten der Bürgerinnen und Bürger ab. Prioritär sei es jetzt, die Zunahme der Ansteckungen zu stoppen. „Wenn die Zahl der Personen in den Intensivstationen steigt, sind wir erneut in Schwierigkeiten“, so Conte.

Deutsche Regierung ruft zu „viel mehr“ Vorsicht auf

Die deutsche Regierung rief eindringlich zu mehr Disziplin und Vorsicht auf. Gesundheitsminister Jens Spahn und Kanzleramtsminister Helge Braun betonten am Donnerstag, dass die bei einem Bund-Länder-Treffen am Mittwochabend gefassten Beschlüsse womöglich nicht ausreichen werden. Spahn sagte im Deutschlandfunk: „Wir haben es gemeinsam selbst in der Hand.“ Den Menschen müsse klar sein, dass sie heute entscheiden, ob Weihnachten in gewohnter Form stattfinden könne.

Mann verlässt eine Kirche in Gelsenkirchen
AP/Martin Meissner
In Deutschland wird die Lage kritischer, der Appell der Regierung schärfer

Am Vorabend hatten sich Bund und Länder nach achtstündigen Verhandlungen auf neue Einschränkungen geeinigt. Kanzlerin Merkel und die 16 Ministerpräsidenten beschlossen im Kanzleramt Kontaktbegrenzungen für alle Regionen, in denen die Zahl der Neuinfektionen über 50 Fälle pro 100.000 Einwohner in einer Woche geht. Schon bei einer Zahl ab 35 Fällen sollen erste Maßnahmen greifen.

Kanzleramtsminister Braun bezeichnete die Vereinbarungen als wichtigen Schritt. „Aber sie werden nicht ausreichen“, unterstrich er. Braun sprach von einer „enormen Infektionsdynamik“. Deutschland stehe am Beginn einer „sehr großen zweiten Welle“, sagte er in der ARD. Nun komme es auf die Bevölkerung an, hob Braun hervor. Die Deutschen müssten „sehr viel vorsichtiger“ werden. Im Grunde müssten nun alle Kontakte halbiert werden, um die Pandemie einzudämmen.

Europa im Krisenmodus

Im Coronavirus-Krisenmodus sind viele Länder, in ganz Europa greift die Politik wieder zu strengeren Auflagen.

Neuer Rekordwert in Deutschland

Die Zahl der registrierten Neuinfektionen erreichte in Deutschland am Freitag einen neuerlichen Höchstwert mit 7.334 neuen Infektionen innerhalb von 24 Stunden. Bereits am Vortag war mit 6.638 neuen Fällen der bis dato höchste Wert seit Beginn der Pandemie in Deutschland registriert worden. Der nun erreichte Rekordwert heißt Experten zufolge aber nicht, dass das Virus bereits schlimmer wütet als im Frühjahr. Zudem wird nun auch in ganz Europa mehr getestet.

Als aussagekräftiger als die bloßen Zahlen an Neuinfektionen gilt jedoch die 7-Tage-Inzidenz, also die Anzahl der positiv diagnostizierten Fälle über die vergangenen sieben Tage pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Diese lag in Deutschland am Mittwochabend bei 31,5. In Österreich lag sie am Donnerstag bei 89.