Großbritanniens Premierminister Boris Johnson
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Brexit

Johnson droht EU mit „No Deal“-Szenario

Großbritanniens Premierminister Boris Johnson bereitet die Wirtschaft seines Landes auf einen harten Brexit vor. Sollte die EU ihren Ansatz in den Verhandlungen nicht grundlegend ändern, werde es einen Brexit ohne Handelsabkommen geben, sagte Johnson am Freitag. Die EU verhandle nicht ernsthaft. Sein Land müsse sich deswegen ab Jänner 2021 auf eine neue Situation einstellen.

Die EU habe offenkundig kein Interesse an einem von Großbritannien gewünschten Freihandelsabkommen wie mit Kanada, sagte Johnson in London. Dementsprechend erwarte man nun eine Beziehung wie mit Australien, also ohne Vertrag. Gleichwohl ließ Johnson eine Hintertür offen, doch weiter mit der EU über einen Handelspakt zu verhandeln. Dafür müsse die EU allerdings ihre Haltung ändern, sagte der Premier in einem im Fernsehen übertragenen Statement.

Wenn es keine „fundamentalen Änderungen“ an der Position der EU gebe, werde man sich wohl nicht einigen können. Sollte die EU zu Zugeständnissen bereit sein, sei London zu Gesprächen bereit. Johnson hatte eine Einigung bis zum EU-Gipfel am Donnerstag verlangt, was nicht gelang. Danach erwog Johnson den Abbruch der Verhandlungen. Eine klare Entscheidung verkündete er nun aber nicht, sondern kündigte die Vorbereitung auf einen Bruch ohne Deal an.

„Es ist alles nur Rhetorik“, sagte ein Diplomat der Nachrichtenagentur Reuters. Johnson habe nicht gesagt, dass es keine weiteren Gespräche geben werde. Das betonte auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: Die EU arbeite weiter für ein Abkommen, allerdings nicht um jeden Preis. Nächste Woche werde es in London dazu Verhandlungen geben. Nach Angaben aus EU-Kreisen akzeptierte London die Fortsetzung von Verhandlungen. Von britischer Seite wurde das nicht bestätigt.

EU bot London intensivierte Verhandlungen an

Die EU bot Johnson zuvor intensivere Verhandlungen für die nächsten zwei, drei Wochen an mit dem Ziel, bis Ende Oktober oder Anfang November eine Einigung zu erzielen. Gleichzeitig verlangte der EU-Gipfel aber Zugeständnisse von London, worauf die britische Regierung enttäuscht reagiert hatte. „Uns wurde gesagt, dass es das Vereinigte Königreich in den nächsten Tagen sein muss, das alle Kompromisse macht“, so der britische Außenminister Dominic Raab.

Bei den Verhandlungen geht es um einen umfassenden Handelsvertrag ab 2021. Großbritannien hatte die Staatengemeinschaft Ende Jänner verlassen, ist aber während einer Übergangszeit bis zum Jahresende noch Mitglied des EU-Binnenmarkts und in der Zollunion. Erst danach kommt der wirtschaftliche Bruch. Ohne Vertrag drohen Zölle und hohe Handelshürden. Die Wirtschaft auf beiden Seiten warnte vor erheblichen Verwerfungen. Einbußen sind bereits jetzt zu spüren.

EU-Gipfel in Brüssel
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Die EU-Staats- und -Regierungschefs erklärten sich bereit, noch einige Wochen über ein Handelsabkommen verhandeln zu wollen

„Ein Abkommen wäre in beiderseitigem Interesse“, sagte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel am Freitag in Brüssel: „Auch hier drängt die Zeit.“ Sicher müsse bedacht werden, dass es zu keiner Vereinbarung kommen könne, sagte sie. Merkel wiederholte ihre Aufforderung, dass sich alle Seiten bewegen müssten.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hoffte zudem weiter auf ein Abkommen. Kurz wollte am Freitag nach dem EU-Gipfel die jüngsten Aussagen des britischen Premierministers aber nicht bewerten. Er hoffe, dass es zu einem geordneten und nicht zu einem ungeordneten Brexit komme, sagte Kurz.

Fischerei als Zankapfel

In den seit Monaten gehenden Verhandlungen gab es lange Zeit fast keine Bewegung. Hauptstreitpunkte waren von Anfang an der Zugang von EU-Fischern zu britischen Gewässern sowie die Forderung der Staatengemeinschaft nach gleichen Wettbewerbsbedingungen für die Wirtschaft, also gleiche Umwelt-, Sozial- und Subventionsstandards. Im Gegenzug soll Großbritannien Waren ohne Zoll und Mengenbeschränkung auf den EU-Binnenmarkt liefern können.

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Auch Nordirland wieder Thema

Dritter wichtiger Punkt für die EU sind Regeln zur Schlichtung für den Fall, dass eine Seite gegen das Abkommen verstößt. Das rückte zuletzt in den Vordergrund, weil ein britisches Gesetz Teile des bereits gültigen EU-Austrittsvertrags aushebeln soll. Dabei geht es um Sonderregeln für den britischen Landesteil Nordirland. Brüssel reagierte empört auf das Binnenmarktgesetz.

Die britischen Wählerinnen und Wähler hatten 2016 mit knapper Mehrheit für den EU-Austritt gestimmt. Johnsons Torys gewannen 2019 die Parlamentswahl unter anderem mit der Ansage, den Brexit tatsächlich durchzuziehen.

Schottische Regierungschefin besorgt

Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon äußerte sich am Freitag besorgt. „Ich bin frustriert und traurig über die Aussicht eines No-Deal-Brexits nach der Übergangsphase Ende Dezember“. Eigentlich sei gerade eine Zeit, in der „100 Prozent unserer Zeit und Energie“ gebraucht würden, um die Corona-Pandemie einzudämmen. Angesichts der knappen verbleibenden Zeit geht Sturgeon selbst im besten Fall nur noch von einem minimalen Kompromiss aus.