Demonstranten protestieren in Warschau gegen ein verschärftes Abtreibungsgesetz
Reuters/Agencja Gazeta
Abtreibungsgesetz

Proteste und Verhaftungen in Polen

Mehrere hundert Menschen haben in Warschau Donnerstag und Freitag gegen eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes protestiert. Jüngst hatte das polnische Verfassungsgericht entschieden, dass eine Abtreibung aufgrund schwerer Fehlbildungen eines Fötus verfassungswidrig sei. Die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatovic, sprach von einem „traurigen Tag für die Rechte der Frauen“.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer hielten nach Angaben der Agentur PAP Spruchbänder wie „Sie haben Blut auf ihren Roben“ und „Das Gesetz soll uns beschützen“ in die Höhe. Kleinere Proteste gab es auch in anderen Städten des Landes. Die Polizei verhaftete rund 15 Personen und verhinderte laut eigenen Angaben, dass die Demonstrantinnen und Demonstranten zum Haus des Vizeministerpräsidenten und Vorsitzenden der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Jaroslaw Kaczynski, marschieren konnten.

Polen hat eines der strengsten Abtreibungsgesetze in Europa. Die nun verworfene Ausnahme – schwere Fehlbildung beim Fötus – vom generellen Abtreibungsverbot ging auf einen Kompromiss aus dem Jahr 1993 zurück. Zuvor war das Gesetz liberaler gewesen. Nach Ansicht des Höchstgerichts verstößt die bisherige Regelung gegen das in der Verfassung garantierte Recht auf Leben. Abtreibungen sind damit nur nach Vergewaltigungen und bei Gefahr für Leib und Leben der Mutter legal möglich.

PiS wandte sich an Verfassungsgericht

Das Gericht habe am Donnerstag mit einer Mehrheit der Senatsmitglieder entschieden, gab die Präsidentin des Verfassungsgerichts, Julia Przylebska, bekannt. Zwei der 13 Mitglieder gaben eine abweichende Meinung ab. Mehr als 100 Abgeordnete, überwiegend aus den Reihen der Regierungspartei PiS und der oppositionellen ultrarechten Konföderation, hatten sich mit ihrer Kritik an der Gesetzeslage an das Höchstgericht gewandt.

Demonstranten stoßen in Warschau während eines Protestes gegen ein verschärftes Abtreibungsgesetz mit der Polizei zusammen
APA/AFP/Wojtek Radwanski
In der Nacht auf Freitag kam es zu Zusammenstößen in Polen. Auch in weiteren Städten wurde demonstriert

Das Gesetz verstoße gegen die Artikel 30 und 38 der Verfassung, argumentierten sie. Diese Artikel garantieren, dass die Würde des Menschen „ihm angeboren und unveräußerlich“ sei und die Republik Polen „jedem Menschen rechtlichen Schutz des Lebens gewährleistet“. Justizminister Zbigniew Ziobro unterstützte den Antrag der Abgeordneten. Die betreffende Regelung im Gesetz widerspreche der Verfassung, schrieb er dem Gericht als Generalstaatsanwalt.

Das von 1956 bis 1993 geltende liberale Abtreibungsgesetz Polens erlaubte Frauen in „schwierigen Lebensbedingungen“ einen Abbruch der Schwangerschaft. In den 80er Jahren wurden bis zu 140.000 Abbrüche pro Jahr gezählt. Nach Inkrafttreten des folgenden Gesetzes gab es zunächst nur noch sehr wenige registrierte Schwangerschaftsabbrüche. 2005 waren es 225. 2019 wurden in Krankenhäusern rund 1.100 Schwangerschaftsabbrüche ausgeführt – in 97 Prozent der Fälle aufgrund des nun für verfassungswidrig erklärten Paragrafen.

Scharfe Kritik von Ärztinnen und Ärzten

Frauenrechtsorganisationen kritisierten das Urteil. Die Zahl der illegalen Abtreibungen mit gefährlichen Methoden werde damit steigen. Krystyna Kacpura von der Organisation für Frauenrechte und Familienplanung sagte: „Es ist grausam und verstößt gegen Menschenrechte, wenn Frauen gezwungen werden, eine Schwangerschaft zu Ende zu führen, obwohl der Fötus schwer geschädigt ist.“ Das sei „institutionalisierte Gewalt des Staates gegen Frauen“. Die Organisation geht davon aus, dass jedes Jahr 120.000 bis 150.000 polnische Frauen in Nachbarländer ausweichen, in denen es liberalere Gesetze gibt.

Auch Gruppen von Ärzten und Ärztinnen protestierten gegen die Entscheidung des Gerichts. Sie setze das Leben und die Gesundheit schwangerer Frauen aufs Spiel, hieß es. Mehr als 900 Ärzte und Ärztinnen unterzeichneten vor dem Urteil einen entsprechenden Appell. Mit der bisherigen Abtreibungsgesetzgebung erklärte sich einer Umfrage von 2019 zufolge die Hälfte der Polen zufrieden.

Zweifel an Legitimität des Höchstgerichts

Die Opposition zweifelt an der Legitimität des Verfassungsgerichts. Die EU-Kommission hatte 2017 ein Sanktionsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge gegen Polen eingeleitet, weil sie den dortigen Rechtsstaat bedroht sieht. Kritiker und Kritikerinnen betonten, dass die PiS den Verfassungsgerichtshof mit loyalen Richtern und Richterinnen besetzt.

Die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Mijatovic, schrieb am Donnerstag auf Twitter: Es sei ein „trauriger Tag für die Rechte der Frauen“. „Fast allen legalen Abtreibungen in Polen die Grundlage zu entziehen kommt einem Verbot gleich und verletzt die Menschenrechte.“ SPÖ-Europaabgeordnete Evelyn Regner, Vorsitzende des Ausschusses für Frauenrechte und Gleichstellung, kritisierte die Entscheidung scharf: „Frauen haben ein Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Wer an diesem Grundsatz rüttelt, greift alle Frauen in Europa an!“

Die Grünen sprachen von einer „massiven Verletzung der Grundrechte“ und einem „fundamentalen Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen“. Kritik kam von Monika Vana, Delegationsleiterin der Grünen im Europaparlament, und Meri Disoski, Bundesfrauensprecherin der österreichischen Grünen. „Auch in Österreich geraten die reproduktiven Rechte von Frauen immer wieder unter Beschuss“, so Disoski: „Bei den hart erkämpften Frauenrechten darf es keine Rückschritte geben, nicht in Österreich und nicht in Polen. Hier dürfen wir keinen Millimeter weichen.“

Forderungen an EU-Kommission

Die Menschenrechtsorganisationen Amnesty International, das Zentrum für Reproduktive Rechte und Human Rights Watch (HRW) hielten in einer gemeinsamen Aussendung fest, dass die Entscheidung Frauen und Mädchen weiter schaden und ihre Menschenrechte verletzen werde. Sie forderten Polen auf, das Recht mit anderen EU-Mitgliedsstaaten in Einklang zu bringen. Auch die Europäische Kommission und die EU-Mitgliedsstaaten müssten sich dringend mit Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit und deren Auswirkungen auf die Grundrechte in Polen befassen.

„Gesetzliche Verbote von Schwangerschaftsabbrüchen verhindern sie nicht, sondern gefährden die Gesundheit von Schwangeren. Sie drängen Schwangerschaftsabbrüche in die Illegalität oder zwingen Schwangere, ins Ausland zu reisen, um Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen zu erhalten, die sie benötigen und auf die sie ein Recht haben,“ sagte Esther Major, leitende Forschungsberaterin bei Amnesty. Marginalisierte Gruppen von Frauen würden es sich nicht leisten können zu reisen und würden „unverhältnismäßig stark“ unter den Folgen des Handelns der Richter in Polen leiden.

Die EU-Kommission wollte am Freitag zum Abtreibungsverbot nicht Stellung nehmen. „Gemäß den Verträgen hat die EU keine Zuständigkeit beim Abtreibungsrecht. Die Gesetzgebung auf diesem Gebiet ist Sache der Mitgliedsstaaten“, sagte ein Sprecher in Brüssel auf Anfrage.

Bischöfe begrüßen Entscheidung

Die katholischen Bischöfe hingegen begrüßten die Entscheidung des Gerichtshofs. Der Vorsitzende der polnischen Bischofskonferenz, Erzbischof Stanislaw Gadecki, sprach am Donnerstagabend von einer „epochalen Gesetzesänderung“. Die Entscheidung bestätige, „dass der Begriff des ‚lebensunwürdigen Lebens‘ in krassem Widerspruch zum Prinzip eines demokratischen Rechtsstaats steht“, sagte Gadecki laut Kathpress. „Jeder Mensch mit einem gerechten Gewissen ist sich bewusst, wie unerhört barbarisch es ist, jemandem das Recht auf Leben zu verweigern, besonders wegen seiner Krankheit.“

Die größte Oppositionsfraktion, die rechtsliberale Bürgerkoalition (KO), und die Linke kritisierten das Verbot mit deutlichen Worten. Borys Budka, einer der Anführer der Bürgerkoalition, sprach von einem „Tag der Schande“. PiS-Chef Kaczynski habe unter Beweis gestellt, dass er ein „unglaublicher Feigling und Zyniker“ sei: „Ein Feigling, weil er sich vor einer offenen Diskussion fürchtete, und ein Zyniker, weil er mitten in einer Pandemie, in der alles auf die Rettung von Leben, die Rettung der Gesundheit der Polinnen und Polen ausgerichtet sein sollte, einen weiteren ideologischen Krieg lostritt.“