Wien feiert Tcherniakovs „Eugen Onegin“

In der Neuaufstellung der Repertoires ist der Wiener Staatsoper gestern Abend wohl jene Produktion gelungen, die so ziemlich alle Fraktionen im Haus am Ring zufriedenstellen konnte: Die Wien-Premiere von Dmitri Tcherniakovs Regieklassiker „Eugen Onegin“, 2006 zum ersten Mal am Bolschoi gezeigt und seither auch mehrfach prämiert, präsentierte Oper letztlich als überzeugende Form von Theater.

Man durfte zu diesem Abend durchaus Interpretationen aus dem Theaterfach bemühen, etwa Alvis Hermanis’ „Platonov“-Arbeit, in der Art, wie hier die russische Sehnsuchtsgesellschaft in einen Bühnenguckkasten gesetzt wurde. Und sich an Gustav Mahler, der den „Onegin“ (damals in der deutschen Fassung) erstmals im Haus am Ring gezeigt hatte, erinnern, dass „rein musikalische Erfolge auf dem Theater gar keine Erfolge“ seien. Hier sieht man nun Programmatik und Handschrift der erneuerten Staatsoper.

Szene aus „Eugen Oniegin“ in der Wiener Staatsoper
Wiener Staatsoper/Michael Poehn
Nicole Car sprang für die erkrankte Tamuna Gochashvili in der Rolle der Tatjana ein und wurde gefeiert

Back to Puschkin

Tcherniakov bringt Tschaikowskis Oper nicht nur zurück auf den Kern der puschkinschen Gesellschaftsdurchdringung, in der sich Sozialtableau und Groteske zum Verwechseln ähnlich sehen (so wie es die Versvorlage des Originals vorsieht); ihm gelingt auch die Verwandlung des scheinbar distanzierten Außenblicks zum großen Psychogramm. So verwundert es nicht, dass eigentlich nicht Onegin, gesungen vom Wien-erfahrenen Südtiroler Andre Schuen, der Held des Schlussapplauses sein kann. Die Großen dieses Stücks sind die Kontrastfiguren und -folien zu diesem „unnützen Helden“, den Puschkin noch vor Lermontow oder Gontscharow auf die Landkarte der russischen Literatur setzt.

Die in letzter Minute eingesprungene Nicole Car, die eigentlich erst viel später für ihr Wien-Debüt vorgesehen war, interpretiert die Tatjana und ihre Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung so überzeugend, dass man sich die Augen reiben darf. Immerhin ist Tcherniakov ein Regisseur, der mit seinen überpräzisen Anweisungen bis hin zum letzten Komparsen nicht gerade als Typ für die Integration von Einspringerinnen steht.

Szene aus „Eugen Oniegin“ in der Wiener Staatsoper
ORF.at/Gerald Heidegger
Kräftiger Schlussapplaus für alle: Regisseur Dmitri Tcherniakov (Vierter von rechts) konnte mit seinem Wien-Debüt mehr als zufrieden sein

Doch die Umsetzung der traumhaften Sequenzen aus dem zweiten Bild der Oper, in dem Tatjana Onegin den Sehnsuchtsbrief schreibt (und aus dem motivisch schon das Adagio aus Mahlers Fünfter herausleuchtet), wird zu einer der Sternstunden des Abends. Überhaupt punktet diese Tschaikowski-Interpretation mit den ruhigen, reflexiven Stellen der Oper: Bogdan Volkov als Lenski brilliert in seiner letzten Arie vor dem Duelltod ebenso wie Dimitry Ivashchenko bei seinem Wien-Debüt als Fürst Gremin.

Szene aus „Eugen Oniegin“ in der Wiener Staatsoper
Wiener Staatsoper/Michael Poehn
„Es gibt kein Zurück in die Vergangenheit“: Spät erkennt Onegin (Andre Schuen) vertanes Liebesglück; die Pistole, die er sich selbst an die Brust setzt, bleibt wie vieles Pose

Beeindruckende Lichtregie

Sensationell in dieser extremen Guckkastensituation, mit der die Inszenierung spielt: die Lichtregie. Es sind nicht zuletzt die überzeugend eingesetzten indirekten Lichteffekte, die Tcherniakovs Spiel von Nähe und Distanzierung tragen. Musikalisch hätte die Umsetzung durch Tomas Hanus noch ein paar Akzente verkraftet: Am Beginn der Oper zerfloss die Orchesterführung ein wenig sehr im Lyrismus.

„Ich habe erkannt, dass es in diesem Leben keine Helden gibt“, singt Helene Schneidermann als Larina zu Beginn der Oper. Die russische Literatur wird diese heldenlose Welt über ein Dreivierteljahrhundert bis zur Erschöpfung ausleuchten. Gestern in der Wiener Staatsoper war man irgendwie bei der Urszene dieser Anti-Helden-Epik dabei.