Menschen in der Wiener Innenstadt
Reuters/Lisi Niesner
Gegeneinander statt miteinander

Das Virus als gesellschaftlicher Spaltpilz

Mit „Geschlossenheit und Solidarität“, „Gemeinsamkeit und Zusammenhalt“ und auch mit „Teamstimmung in der Bevölkerung“ soll die Coronavirus-Pandemie bekämpft werden. Das fordert nicht nur die heimische Regierung immer wieder, auch in vielen anderen Ländern gibt es gleichlautende Appelle. Doch das Virus und die Maßnahmen dagegen entpuppten sich schon seit Beginn der Pandemie als gesellschaftlicher Spaltpilz – und das auf mehreren Ebenen.

Schon die Haltung zur Pandemie polarisiert: Seit Monaten gibt es ohnehin kaum ein anderes Gesprächsthema, egal ob in der Öffentlichkeit, im privaten Rahmen oder in Sozialen Netzwerken: Welche Maßnahmen sind – oder waren – sinnvoll, und welche verursachen womöglich mehr Schaden, als sie Nutzen bringen. Die Fronten laufen quer durch die Gesellschaft, durch Familien und Arbeitsteams, mit den Besorgten auf der einen Seite und den Sorglosen auf der anderen.

Dass die Debatten häufig auch so emotional aufgeladen sind, ist wenig überraschend, stehen doch oft auch existenzielle Ängste dahinter: Die Furcht um die eigene Gesundheit und die der Nächsten auf der einen Seite, die Furcht um die wirtschaftliche Existenz auf der anderen.

Appelle kommen kaum mehr an

Dass in einem solchen gesellschaftlichen Klima Appelle von oben vielleicht nicht mehr so wirken wie im Frühjahr, liegt auf der Hand. Und das hat auch der Regierungsberater und Rot-Kreuz-Manager Gerry Foitik in seinem geleakten Strategiepapier von Mitte Oktober angesprochen: Eine Gruppe brauche die Appelle nicht mehr, weil sie das bereits wisse und „selbst sinnvolle Maßnahmen“ setze. Aber andere Gruppen erreiche man immer schwerer oder gar nicht mehr: die, die es „satt“ haben, und die Gruppe, die „genau das Gegenteil“ glaubt, schreibt Foitik. Und „die meisten haben mittlerweile andere Probleme“.

Ost-West-Spaltung

Für Aufregung hatte ein anderer Punkt in Foitiks Papier gesorgt: der Vorschlag, die Teststrategie zu ändern, um so „bessere“ Zahlen und damit für den Wintertourismus „eine ‚grüne‘ Einschätzung der EU-Partner“ zu bekommen. Dass kurz darauf ein Hotelier in der ORF-Sendung „Im Zentrum“ einen Lockdown im November forderte, damit die Tourismussaison im Westen gerettet werden könne, stieß vielen sauer auf. Im Rest Österreichs, vor allem im Osten, entstand vielfach der Eindruck, man müsse die Maßnahmen vor allem über sich ergehen lassen, damit der Westen keinen Schaden durch ausbleibende Urlauber erleidet.

Skitouristen in Kaprun
picturedesk.com/EXPA/JFK
Auch ohne Apres-Ski soll die Wintersaison genügend Gäste anlocken, wünscht man sich in den Skigebieten

Diese Ost-West-Spaltung hatte freilich schon viel früher begonnen: Schon zu Beginn der Pandemie hatten die Vorgänge in Ischgl und der Tiroler Umgang damit im Osten für weit mehr Kopfschütteln gesorgt als in Tirol selbst. Als dann im September in Wien die Infektionszahlen rasant zu steigen begannen, hörte man in anderen Bundesländern in privaten Gesprächen da und dort auch so etwas wie Genugtuung, „dass es jetzt auch Wien erwischt“. Doch das Bild von Wien als Coronavirus-Sündenpfuhl hielt nicht lange, schon rasch stiegen auch in den anderen Bundesländern die Infektionszahlen wieder.

Konkurrenzkampf auch in der Politik

Befeuert wurde das auch immer wieder von kleinen und größeren gegenseitigen Spitzen in Politikerreden und kleinen sprachlichen Nuancen in ebendiesen: „Tatsache ist einfach, dass Tirol bei der Entwicklung der Infektionszahlen mittlerweile sogar Wien überholt hat“, sagte etwa die Tiroler Bildungslandesrätin Beate Palfrader (ÖVP) bei einer Demo von Schülerinnen und Schülern gegen Schulschließungen in Innsbruck vergangene Woche. Auch bei den Maßnahmen lässt sich durchaus Konkurrenz ablesen. So setzten Salzburg, Tirol und Vorarlberg auf vorgezogene Sperrstunden in der Gastronomie, Wien, Niederösterreich und später auch Oberösterreich hingegen auf Gästeregistrierung.

Jugend als Pandemietreiber?

Doch nicht nur politisch und geografisch vergrößert die Pandemie die Kluft – auch zwischen den Generationen. Seit dem Beginn der Pandemie wurde immer wieder das Bild der verantwortungslosen Jugend (Stichwort: Wiener Donaukanal) gezeichnet, die mit Partys zunächst ihre eigene und dann die Gesundheit der Älteren, wenn nicht gleich das gesamte Gemeinwohl, gefährdet.

Menschen genieflen die Abendsonne am Donaukanal
picturedesk.com/Andreas Tischler
Solche Bilder sorgten bereits im Frühjahr für Aufregung – auch wenn eine Ansteckung im Freien eher unwahrscheinlich ist

„Wenn wir am Wochenende und am Abend mehr Disziplin üben, hat das zur Folge, dass die Kinder in die Schule und den Kindergarten gehen können und wir alle arbeiten gehen können“, sagte Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) vergangene Woche. Auch wenn „wir“ gesagt wurde, entstand doch ein klares Bild, wer gemeint sein könnte.

Warnung vor Pauschalurteilen

Gewiss waren es in den Sommermonaten vor allem Junge, die infiziert wurden. Trotzdem mehren sich die Zweifel, ob man mit moralisierenden Botschaften das Ziel erreichen kann, Unbesorgte zu mehr Problembewusstsein zu bringen. Vor allem in Deutschland wird diese Debatte derzeit geführt, man warnt vor Pauschalurteilen gegen die Jugend. Tatsächlich bescheinigen Umfragen – zuletzt von der Tui-Stiftung in Deutschland und von Credit Suisse in der Schweiz – der Jugend, die allerorts verhängten Maßnahmen nicht minder mitzutragen als andere Altersgruppen.

Gleichzeitig blicken Jugendliche aber, und das war auch schon in andern Umfragen so, auch in Österreich, pessimistischer in die Zukunft. Das Einschränken von Sozialkontakten trifft sie weit härter, weil das Sozialleben in diesem Alter eine andere Rolle spielt und wichtigere Funktionen erfüllt als bei anderen. Und auch was Ausbildung, Jobchancen und Arbeit an sich betrifft, gehören sie zu den am stärksten betroffenen Gruppen.

Soziale Kluft wächst

Die wahrscheinlich nachhaltigste Spaltung ist die wachsende soziale Kluft – und das praktisch weltweit. Wie vom Sozialministerium in Auftrag gegebene Studien festgestellt haben, treffen die Pandemie und die Maßnahmen zur Bekämpfung Arme und Armutsgefährdete – wenig überraschend – noch härter als den Rest der Bevölkerung. Von Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit und damit einhergehenden Gehaltseinbußen sind vor allem kleine und mittlere Einkommen betroffen. Auch andere Maßnahmen vergrößerten die soziale Kluft: Bei Schulschließungen und Distance-Learning waren vor allem Kinder aus sozial schwachen und bildungsfernen Milieus die Verlierer.

Umgekehrt belegen Zahlen des „Global Wealth Report“ des Versicherungskonzerns Allianz, dass Reiche und Superreiche in der Krise sogar eher profitiert haben. Auch ähnliche Studien für einzelne Ländern kommen durchwegs zu diesem Ergebnis. Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich also weiter geöffnet, sowohl in der Bevölkerung auf nationaler Ebene als auch zwischen armen und reichen Staaten.

Auf der Suche nach klaren Antworten

Insgesamt sorgen Pandemie und die Maßnahmen dagegen vor allem für eines: große Verunsicherung. Woran kann man sich halten? Auch hier reiht sich ein Dilemma ans nächste: Gewünscht werden „klare Regeln“. Nur müssen diese auch Sinn ergeben, sollten also auf die genaue Situation abgestimmt sein. Die ist aber – schon rein geografisch – überall ein bisschen verschieden. Will man darauf eingehen, entsteht der viel beklagte Fleckerlteppich.

Regeln werden dann akzeptiert und befolgt, wenn sie auch individuell nachvollziehbar sind. Das ausreichend zu erklären ist – oder wäre – auch eine Aufgabe der Politik. Nur haben mehrere Monate Pandemie die gefühlt halbe Nation zu Hobbyvirologen gemacht: Man starrt – gemeinsam mit Politik und Medien – täglich auf die Zahl der neuen positiven Tests im Tagesvergleich. Die Zahl scheint im Dickicht der unterschiedlichen Meinungen harte Fakten zu liefern, auch wenn der Wert nur ein Schlaglicht auf die Pandemieentwicklung ist, und wahrscheinlich, das legen zumindest die wissenschaftlichen Expertisen nahe, auch nicht das relevanteste.

Menschen mit Maske in der Straßenbahn
AP/Ronald Zak
Eine Gesellschaft auf Distanz – die aber gleichzeitig solidarisch sein soll

Studien für jede Meinung

Und wohl noch nie wurde über so viele wissenschaftliche Studien gesprochen. Der Haken: Die Breite der Forschungsergebnisse liefert für fast jede Geschmacksrichtung – von den in Panik verfallenen Überängstlichen bis zu den durchgeknallten Coronavirus-Leugnern – das passende Futter. Zur Not tun es für manche auch „Experten“ auf YouTube.

Im Widerspruch zur weit verbreiteten Meinung, dass wissenschaftliche Erkenntnisse immer „wahr“ sein müssen, wurde in den vergangenen Monaten vor den Augen der Weltöffentlichkeit demonstriert, wie wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn tatsächlich funktioniert: Nämlich mit unzähligen Studien, aber auch immer mit Kritik und Widerspruch – auch wenn der eigentlich notwendige Zweifel an wissenschaftlichen Erkenntnissen zuletzt in der öffentlichen Debatte auch von Wissenschaftsleugnern gekapert worden ist – mehr dazu in science.ORF.at.

Wissenschaften liefern keine „letztgültigen Antworten“

Studien werden im wissenschaftlichen Diskurs, also von anderen Studien, bestätigt, relativiert, widerlegt oder ignoriert. Widersprüchlichkeit ist eine Notwendigkeit, kein Makel – ganz besonders dann, wenn ein Phänomen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven und mit unterschiedlichem Fokus untersucht wird: Allein in der Medizin haben Virologie, Infektiologie und Epidemiologie, Immunologie und etliche andere unterschiedliche Zugänge und Methoden und damit auch unterschiedliche und eben auch sich vielleicht widersprechende Ergebnisse. Es gibt keine „letztgültige Antwort“, schon gar nicht von einer einzelnen Studie und schon gar nicht im Schnellverfahren.

Leben mit der Komplexität – und dem Virus

Spätestens wenn man die sozialen, ökonomischen, psychischen und alle anderen Folgen dann mitdenkt, wird es noch komplexer. Seit einigen Tagen kursiert ein Bild in Sozialen Netzwerken, das dem zumindest ein wenig Rechnung trägt. Man könne Covid-19 ernst nehmen und sich trotzdem um soziale und wirtschaftliche Auswirkungen sorgen und sich über zunehmend autoritäre Maßnahmen Gedanken machen.

Foto zeigt Facebook-Posting
ORF.at

Statt einfache Antworten und Regeln zu suchen, ist es vielleicht der vielversprechendere Weg, die Komplexität und die Unsicherheit zu akzeptieren und mit ihr leben zu lernen, genauso wie man wohl in den nächsten Monaten auch lernen muss, mit dem Virus zu leben. Und das sind vielleicht auch die ersten Schritte, der gesellschaftlichen Spaltung, die Virus und Maßnahmen begünstigen, entgegenzuwirken.