Menschen vor einem Wahllokal
Reuters/Andrew Kelly
US-Umfragen

Auch ein Vorsprung muss nichts heißen

Vor wichtigen Wahlen sollen Umfragen dabei helfen, Siegeschancen einzuschätzen. Bei der US-Wahl nächste Woche gleicht das aber eher einem Blick in die Glaskugel. Seit Wochen führt der demokratische Herausforderer Joe Biden bei den Demoskopen vor Amtsinhaber Donald Trump. Aufgrund mehrerer Faktoren sind die Umfragen heuer aber wenig verlässlich.

Die Wahl am kommenden Dienstag ist aus vielen Gründen einzigartig – nicht zuletzt wegen der Pandemie. Durch sie ergeben sich Faktoren, die auf den Wahlausgang großen Einfluss haben können. Auch deswegen ist der Ausgang der US-Wahl im Jahr des Coronavirus so schwer vorherzusagen. Die landesweiten Umfragen sind seit Wochen recht eindeutig, Bidens Vorsprung pendelte sich zwischen sieben und zwölf Prozent ein. Die renommierte Politseite FiveThirtyEight, die zahlreiche Umfragen auswertet und gewichtet, sieht Biden bei 52 Prozent der Stimmen, Trump bei 43 Prozent.

So wie bei jeder US-Präsidentschaftswahl ist allerdings die Aussagekraft dieser nationalen Befragungen enden wollend: Wegen des Wahlsystems in den USA ist nur wichtig, wie die Stimmen in den einzelnen Bundesstaaten ausfallen. Daher blicken Biden und Trump besonders auf die Swing States, in denen keine der beiden Parteien von einer fixen Mehrheit ausgehen kann.

Sicher wie Russisches Roulette

Die Datenexperten von FiveThirtyEight errechneten für dieses Jahr eine Wahrscheinlichkeit von weniger als eins zu sechs für einen Trump-Sieg. Doch auch sie betonten den völlig offenen Ausgang der Wahl: FiveThirtyEight-Chef Nate Silver verglich die Wahrscheinlichkeit kürzlich mit der beim russischen Roulette – das lebensgefährlich ist, auch wenn nur in einer von sechs Kammern eine Kugel steckt.

US-Präsident Donald Trump
Reuters/Tom Brenner
Trump hält nur etwas von den „richtigen“ Umfragen

Ein Faktor, der heuer dazukommt und die Prognosekarten neu mischt, ist das große Anwachsen alternativer Wahlarten. Wegen der Pandemie wählen zahllose Menschen nicht am Wahltag im Wahllokal, sondern entweder per Brief oder beim Early Voting, der Möglichkeit, die Stimme schon im Vorfeld persönlich in einem Wahllokal abzugeben. Viele Bundesstaaten machten die Briefwahl heuer einfacher oder verlängerten Fristen. Manche Staaten wie zum Beispiel Kalifornien, Ohio und New Jersey schickten die Wahlunterlagen sogar unaufgefordert an die Bürger. Die Bedeutung der Briefwahl könnte sich dieses Mal als entscheidend herausstellen, nicht umsonst hegt Trump bereits Wochen vor der Wahl Zweifel an der Legitimität.

Detaillierte Ansicht der Wahlleutestimmen pro Bundesstaat sowie der Stimmen Alaskas und Hawaiis auf der interaktiven Karte mittels Zoomfunktion

Wahlbeteiligung soll Rekordwert erzielen

Im Wahljahr 2016 stimmten 33 Millionen Menschen per Brief ab, rund ein Viertel der Wähler. 2020 könnte dieser Wert enorm – und schwer vorhersehbar – steigen. Experten zufolge könnte fast jede zweite Stimme per Post kommen, also rund die Hälfte des Elektorats. Rund eine Woche vor der Wahl waren es bereits mehr als 60 Millionen, die entweder vorzeitig oder per Brief wählten, so das U.S. Elections Project der Uni Florida. Somit stünden auch die Chancen gut, dass beim Urnengang selbst die höchste Wahlbeteiligung seit über einem Jahrhundert erreicht wird.

US-Präsidentschaftskandidat Joe Biden
Reuters/Kevin Lamarque
Biden führt in nationalen Umfragen und auch in vielen Bundesstaaten. Die Wahl entschieden hat er noch nicht.

Die Wahlbeteiligung ist auch ein Faktor, der heuer eine Prognose besonders schwierig macht. Per Briefwahl und Early Voting stimmen zuvorderst demokratische Anhänger ab. Das bedeutet für Biden jedoch keine Entspannung. Es wird erwartet, dass Trumps Wählerinnen und Wähler scharenweise am Wahltag in die Wahllokale strömen. Die starke Polarisierung im Wahlkampf, die Spaltung der Öffentlichkeit in Fragen wie Rassismus und dem Umgang mit der Pandemie sowie nicht zuletzt das Wahlmotiv Trump – dafür oder dagegen – machen die Wahlbeteiligung und somit auch die Unterstützung für Trump zum Geheimnis, das wohl frühestens am Wahltag gelöst wird.

Fehler der Demoskopen

Trump selbst sagt zum Stand der Umfragen, diese seien schon bei der Wahl 2016 falsch gelegen, „und sie liegen dieses Mal noch falscher“. Die „echten Umfragen zeigen, dass ich gewinne“, so Trump auf Twitter. Bei einem Wahlkampfauftritt in Pennsylvania sagte er auch, er werde die Wahl angesichts der „echten Umfragen“ sehr „leicht“ gewinnen, aber die Medien unterdrückten diese Information.

Meinungsforscher glauben an Biden

Bei der US-Präsidentschaftswahl 2016 ernteten fast alle Meinungsforscher mit dem prognostizierten Clinton-Sieg Spott und Hohn. Nun sagen sie eine Niederlage von Amtsinhaber Trump und den Sieg des demokratischen Herausforderers voraus.

Die Demokraten fürchten hingegen, noch einmal in die Falle zu tappen und sich wegen guter Umfragen fälschlicherweise auf einen Wahlsieg zu freuen. Trump siegte 2016, nachdem er ebenfalls in den Umfragen zurückgelegen war, durch seine Siege in einigen Swing-States. Er hatte keine Mehrheit der Stimmen, aber in einigen bis dahin demokratisch gefärbten Bundesstaaten gelang ihm knapp die Mehrheit der Wahlleute.

TV-Hinweis

Das „Weltjournal“ zeigt am Mittwoch um 22.30 Uhr in ORF2 unter dem Titel „Melania Trump – Ikone der Konservativen“ ein Porträt der First Lady der USA – mehr dazu in tv.ORF.at

Diese Siege in den Bundesstaaten waren nicht prognostiziert worden, 2016 lagen hier etliche Meinungsforschungsinstitute in den Bundesstaaten falsch, wie es von Ipsos Public Affairs gegenüber der Nachrichtenagentur AFP hieß. Es seien etwa Bürgerinnen und Bürger ohne Hochschulabschluss in ihren Umfragen unterrepräsentiert gewesen, eine entscheidende Wählergruppe. Viele Institute passten seither die Befragungen an. Ein letzter großer Brocken, mit dem die Demoskopen 2020 kämpfen, sind die „Shy Trumpers“, Trump-Wählerinnen und -Wähler, die sich in Umfragen nicht deklarieren wollen. Über die Größe dieser Gruppe kann allerdings nur spekuliert werden.

Prognose zur US-Wahl

US-Politikwissenschaftler Allan Lichtman hat das Ergebnis jeder Präsidentschaftswahl seit 1984 korrekt vorhergesehen, mit einer Ausnahme im Jahr 2000.

Einer ist sich seiner Sache sicher: Der US-Historiker und Politikwissenschaftler Allan Lichtman prognostiziert seit 1984 die Gewinner der US-Wahlen richtig – mit einer Ausnahme: Beim Wahlchaos im Jahr 2000 (George W. Bush gegen Al Gore) lag auch er falsch, es war allerdings eines der knappsten Rennen aller Zeiten. Für 2020 sagte Lichtman den Sieg Bidens voraus. Für ihn gibt es allerdings zwei Unsicherheitsfaktoren: eine mögliche Einmischung Russlands und die Möglichkeit, dass die Republikaner die Wählerschaft der Demokraten vom Wählen ausreichend fernhalten könnten.

Meinungsforscher Cahaly sagt Trumps Wiederwahl voraus

Robert Cahaly, Vorsitzender des Umfrageunternehmens Trafalgar Group, ist davon überzeugt, dass es „versteckte Trump-Wähler“ gibt, die von traditionellen Umfragen nicht erreicht werden.

Robert Cahaly, der Vorsitzende des Umfrageunternehmens Trafalgar Group, sagte 2016 ebenfalls Trumps Triumph voraus. Anders als Lichtman ist er nun aber davon überzeugt, dass es „versteckte Trump-Wähler“ gibt, die von traditionellen Umfragen nicht erreicht werden. 2020 werde sich, so der Meinungsforscher im ZIB2-Interview, der Sieg des amtierenden US-Präsidenten wiederholen.