Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel
Reuters/Fabrizio Bensch
Ab Montag

Quasi-Lockdown in Deutschland

Mit strengen Kontaktbeschränkungen will Deutschland die steigenden CoV-Zahlen in den Griff kriegen: Wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in einer Pressekonferenz nach Beratungen mit den Ministerpräsidenten der Länder bekanntgab, gelten ab Montag strenge Maßnahmen im ganzen Land. Freizeiteinrichtungen, Bars und Clubs sowie viele Dienstleistungsunternehmen werden geschlossen. Offen bleiben Kinderbetreuungseinrichtungen, der Einzelhandel sowie Restaurants zur Lieferung und Abholung.

„Wir müssen handeln, und zwar jetzt“, sagte Merkel. Es gehe darum, eine akute nationale Gesundheitsnotlage zu vermeiden: „Die Kurve muss wieder abflachen.“ Man brauche jetzt im November eine befristete „nationale Kraftanstrengung“.

Eine politische Priorität sei gewesen, das Wirtschaftsleben so weit wie möglich intakt halten zu können, so Merkel. Das bedeute im Umkehrschluss, dass man harte Einschnitte im privaten Bereich setzen müsse. Künftig ist der gemeinsame Aufenthalt in der Öffentlichkeit nur noch Angehörigen des eigenen und eines weiteren Hausstandes mit maximal zehn Personen gestattet. Das gelte verbindlich, Verstöße gegen diese Kontaktbeschränkungen würden von den Ordnungsbehörden sanktioniert. Private Feiern in Wohnungen und öffentlichen Bereichen seien inakzeptabel, so Merkel.

Freizeitparks, Thermen, Schwimmbäder, Theater, Opern und Konzerthäuser werden ab Montag bis Ende November geschlossen werden, dasselbe gilt für Gastronomiebetriebe mit Ausnahme von Kantinen bzw. Lokalen, die Liefer- und Abholdienst anbieten. Dienstleistungsbetriebe werden eingeschränkt: Kosmetikstudios, Massagepraxen und Tattoostudios werden geschlossen, weil hier der Mindestabstand nicht eingehalten werden kann. Medizinisch notwendige Behandlungen etwa beim Physiotherapeuten werden möglich bleiben, und Friseure dürfen weiter arbeiten.

Homeoffice, „wo immer dies umsetzbar ist“

Touristische Übernachtungsangebote in Deutschland dürfen nur noch für notwendige Zwecke wie zwingende Dienstreisen zur Verfügung stehen. Unternehmen werden eindringlich aufgefordert, Heimarbeit zu ermöglichen – wo immer das umsetzbar ist.

Der Freizeit- und Amateursportbetrieb wird ebenfalls eingestellt, Individualsport ist davon ausgenommen. Profisportereignisse wie die Bundesliga dürfen stattfinden, allerdings ohne Zuschauer.

Nach zwei Wochen – also etwa um den 11. November – wollen die Kanzlerin und die Regierungschefs erneut beraten, die durch die Maßnahmen erreichten Ziele bewerten und notwendige Anpassungen vornehmen. „All das dient dem Zweck, im Dezember das öffentliche Leben wieder besser gestalten können – unter Corona-Bedingungen, wie wir es heute kennen.“

Deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und Innenminister Horst Seehofer
APA/AFP/Kay Nietfeld
Merkel wollte strengere Maßnahmen schon vor zwei Wochen, die Ministerpräsidenten der Länder stimmten dem damals nicht zu

Bis zu zehn Mrd. Entschädigung für Firmen

Unternehmen, die im Zuge der neuen Maßnahmen schließen müssen, sollen von der Regierung entschädigt werden. Laut Finanz- und Wirtschaftsministerium sollen kleine Firmen 75 Prozent ihres Umsatzes als Entschädigung erhalten. Für größere Firmen sei ein Betrag von 70 Prozent vorgesehen. Bezugsgröße sei der Umsatz des Vorjahresmonats, hieß es. Ein Teilnehmer zitierte laut „Bild“ Finanzminister Olaf Scholz (SPD) mit den Worten: „Die Lage ist sehr, sehr ernst. Wir brauchen tiefgreifende Maßnahmen, die wir finanziell abfedern müssen.“ Die Kosten habe Scholz für vier Wochen auf sieben bis zehn Milliarden Euro beziffert.

Deutsche Bundesregierung verhängt Quasi-Lockdown

Ab Montag verbietet die deutsche Bundesregierung für den gesamten November Freizeiteinrichtungen, Bars und Clubs sowie vielen Dienstleistungsunternehmen das Aufsperren. Offen bleiben Kinderbetreuungseinrichtungen, der Einzelhandel sowie Restaurants zur Lieferung und Abholung.

Nach Einschätzung des Handelsverbands Deutschland (HDE) kommen die neuen Beschränkungen einem Lockdown gleich. Zwar dürften die Geschäfte geöffnet bleiben, „aber es werden voraussichtlich nur wenige Kunden den Weg in die Stadtzentren finden“. Dieser „faktische Lockdown“ gefährde zahlreiche Einzelhändler in der Innenstadt. Positiv wertete der HDE, dass in den Geschäften statt wie ursprünglich geplant ein Kunde pro 25 Quadratmeter nun ein Kunde pro zehn Quadratmeter Verkaufsfläche zugelassen sein soll.

Die Gewerkschaften in Deutschland forderten unterdessen einen besseren Schutz der Beschäftigten in Schulen und Kindergärten, die offen bleiben. Zudem warnten sie vor dem Verlust zahlreicher Arbeitsplätze im Gastgewerbe. Die Branche brauche nun „dringend Hilfe“, hieß es nach dem Beschluss der Maßnahmen. Ansonsten drohe ein „Jobkahlschlag“.

Zweite Welle „intensiver und schwerwiegender“

Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verteidigte die geplanten neuen Einschnitte. „Wenn wir warten, bis die Intensivstationen voll sind, ist es zu spät“, sagte er am Mittwoch im Südwestrundfunk. Es sei besser, jetzt „die Welle zu brechen“ und dann Richtung Weihnachten die Situation wieder eher unter Kontrolle zu haben. SPD-Parlamentsgeschäftsführer Carsten Schneider sagte in Berlin, die derzeitige zweite Welle sei „intensiver und schwerwiegender“ als die erste. Darauf müsse reagiert werden. Bei den Maßnahmen sei eine „einheitliche Linie“ nötig, mahnte er zugleich mit Blick auf das bisher unterschiedliche Vorgehen der Bundesländer.

Schüler mit Masken in Klassenraum bei geöffneten Fenstern
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Schulen dürfen weiter geöffnet haben

FDP-Chef Christian Lindner zog die Verfassungsmäßigkeit der neuen Maßnahmen in Zweifel. Merkel wolle „unter anderem die Gastronomie komplett stilllegen“, sagte er. „Das hielte ich für unnötig und deshalb auch für verfassungswidrig.“ Als „vielfach unverhältnismäßig und ineffektiv“ bezeichnete Linksfraktionschef Dietmar Bartsch die Pläne. AfD-Chef Jörg Meuthen erklärte, ein erneuter Lockdown werde „zum Knockdown für zahlreiche Unternehmen und Arbeitnehmer“ werden. „Wo sinnvolle Hygienekonzepte den Betrieb aufrechterhalten können, wie beispielsweise in Hotellerie und Gastronomie, darf es keinen Lockdown geben.“

Intensiv- und Notfallmediziner warnen vor Überlastung

Intensiv- und Notfallmediziner in Deutschland beobachten die überproportional steigenden Fallzahlen mit großer Sorge. Noch seien genug Intensivbetten in Deutschland frei. Doch es gebe die Befürchtung, bei weiter steigenden Infektionszahlen die intensivmedizinische Versorgung bald nicht mehr in vollem Umfang gewährleisten zu können, sagte Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI).

Mit einem YouTube-Video wandte er sich an die Bevölkerung. Darin bittet er darum, Kontakte zu minimieren, größeren Veranstaltungen fernzubleiben und die Teilnahme an Festen zu vermeiden. „Ohne Ihre Hilfe werden wir es nicht schaffen!“, so Janssens. Abstand, Hygiene, Alltagsmasken, Lüften und die Nutzung der Corona-Warn-App würden helfen.

Covid-Station im Universitätsklinikum Essen
APA/AFP/Ina Fassbender
In den Spitälern steigt die Zahl der CoV-Patienten

„Nur wenn wir alle an einem Strang ziehen, wird es uns gelingen, die Kurve der derzeit steigenden Infektionszahlen wieder flach zu halten“, ergänzte Janssens. Damit werde Druck aus den Krankenhäusern, insbesondere den Intensivstationen herausgenommen.

Experten gespalten

Gespalten zeigen sich unterdessen die Forschungsverbände und Ärztevereinigungen in Deutschland. Eine Fraktion sprach sich für einen raschen, kurzen Lockdown aus, eine andere für lokale Maßnahmen je nach Auslastung der Spitäler, dafür aber verstärkten Schutz vulnerabler Gruppen.

Momentan sei die Inzidenz in Deutschland noch vergleichsweise niedrig, erklärte Virologe Christian Drosten. „Wenn wir jetzt einmal auf die Bremse treten würden, dann hätte das einen ganz nachhaltigen Effekt. Das würde uns ganz viel Zeit einspielen.“ Etwa drei Wochen – etwas mehr als eine Quarantänezeit – brauche man aus Sicht des Wissenschaftlers dafür. „Die Inzidenz ist danach erheblich gesenkt und ist dann auch unter bestimmten Umständen auf lange Frist gesenkt.“

Die Deutsche Nationale Wissenschaftsakademie Leopoldina und fünf andere Forschungsgemeinschaften hatten am Dienstag eine drastische Reduzierung von sozialen Kontakten gefordert. Notwendig sei angesichts steigender Infektionszahlen eine Verringerung der Kontakte ohne Vorsichtsmaßnahmen auf ein Viertel, nach bundesweit einheitlichen Regeln, heißt es in der Erklärung von Leopoldina, Deutscher Forschungsgemeinschaft, Fraunhofer-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft, Leibniz-Gemeinschaft und Max-Planck-Gesellschaft. Gemeint sind damit Kontakte, die ohne die aktuell geltenden Hygiene- und Vorsichtsmaßnahmen stattfinden.

Streeck fordert „mehr Mut“

Wie die „Süddeutsche Zeitung“ am Mittwoch berichtete, fordern andere Wissenschaftler, Ärzte und Verbände eine neue Strategie in der Pandemie. Es sei an der Zeit, die gewonnenen Erkenntnisse stärker zu berücksichtigen, heißt es in der „Gemeinsamen Position von Ärzteschaft und Wissenschaft“, die laut „SZ“ federführend von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung sowie von den Virologen Hendrik Streeck von der Universität Bonn und Jonas Schmidt-Chanasit von der Universität Hamburg formuliert wurde.

Es sollten demnach relevante Kennzahlen wie Infektionszahlen, Anzahl der durchgeführten Tests, stationäre und intensivmedizinische Behandlungskapazitäten gemeinsam in eine CoV-Ampel fließen, damit so lokal Maßnahmen und Lockerungen ermöglicht werden. „Es geht darum, dass wir nicht versuchen, jede Infektion zu verhindern“, so Streeck gegenüber der „SZ“. „Wir sollten mehr Mut erlauben.“

Unterstützt wird das Papier von zahlreichen ärztlichen Berufsverbänden, darunter dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) und dem Berufsverband der Deutschen Chirurgen – also den Vertretungen praktizierender Ärzte. Wissenschaftlich-medizinische Fachgesellschaften finden sich dagegen kaum unter den Unterzeichnern.

Neuer Rekord an Neuinfektionen

Die deutschen Gesundheitsämter meldeten nach Angaben des Robert Koch-Instituts von Mittwochfrüh 14.964 Coronavirus-Neuinfektionen binnen eines Tages – das ist ein Rekord seit Beginn der Pandemie. Die Zahl der Ansteckungen pro 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen lag deutschlandweit am Dienstag bei 87. In der Woche zuvor meldete das RKI eine Inzidenz von 48,6 Fällen. Nach RKI-Angaben haben rund 70 Prozent der Kreise eine Inzidenz von über 50, acht Kreise liegen nach diesen Angaben sogar bei über 200.