Angestellte in einem Bürogebäude bei Nacht
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Wirtschaft nach CoV

„Wir können die Spielregeln ändern“

Die Coronavirus-Pandemie hat die Welt auf den Kopf gestellt, nichts scheint mehr so zu sein, wie es einmal war. Viele sehen aber genau darin die Chance eines großen Neubeginns – nicht zuletzt von unserer Wirtschaft. Pionierin auf dem Gebiet ist die US-Wissenschaftlerin Riane Eisler. Im Gespräch mit ORF.at erzählt sie, wie sich unsere Wirtschaft verändern muss, welche Rolle Fürsorge dabei spielt und was Katzen mit Klimaleugnern zu tun haben.

Das Coronavirus löste eine weltweite Wirtschaftskrise aus, die laut Prognosen der Weltbank bis zu 115 Millionen Menschen in extreme Armut stürzen könnte. Gleichzeitig erreichte das Vermögen der Reichen und Superreichen „neue Höhen“, wie aus dem „Billionairs Report“ hervorgeht. Einige Millionäre und Millionärinnen sahen sich daher dazu veranlasst, höhere Steuern zu fordern, selbst der Papst wurde zum Kapitalismuskritiker und das Weltwirtschaftsforum startete bereits eine neue Initiative mit dem Titel „The Great Reset“ (Dt.: „Der große Neustart“).

Die US-Soziologin Eisler fordert seit Jahrzehnten einen wirtschaftlichen Wandel. Ihr Buch „Die verkannten Grundlagen der Ökonomie“, das nun erstmals auch auf Deutsch erschienen ist, scheint inmitten der Coronavirus-Krise relevanter als je zuvor. Das Coronavirus und der damit einhergehende Zusammenbruch der globalen Wirtschaft habe, so Eisler, viele tiefgehende Probleme des derzeitigen Systems aufgedeckt. Doch: „Wir können die Spielregeln ändern.“

Bilder der Erdkugel vor einer nächtlichen Skyline
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Ein neues Wirtschaftsmodell soll sowohl für den Menschen als auch für den Planeten bessere Bedingungen schaffen

Fürsorge im Fokus

Im Vorwort ihres Buches beschreibt sie das heutige Wirtschaftssystem als „weder nachhaltig noch gerecht“. Es sei nicht in der Lage, aktuelle oder zukünftige Herausforderungen zu bewältigen. Die Pandemie zwinge uns daher, unser „altes Normal“ zu hinterfragen, schließlich ließen sich Probleme nicht mit der gleichen Denkweise lösen, mit der sie geschaffen wurden, zitiert Eisler hier Einstein.

Buchcover
Büchner-Verlag
In „The Real Wealth of Nations“ (engl. Originaltitel, Anm.) fasst Eisler ihre jahrzehntelangen disziplinübergreifenden Forschungen zu einem alternativen Wirtschaftsmodell zusammen.

„Wir müssen zu einem Wirtschaftssystem übergehen, das ich ‚Caring Economy of Partnerism‘ genannt habe“, sagt Eisler mit ruhiger, aber bestimmter Stimme. Eisler zeichnet im Gespräch mit ORF.at ein detailliertes Bild eines wirtschaftlichen Partnerschaftssystems, das auf Fürsorge aufbaut. Fürsorge gegenüber Menschen und der Natur.

Was ist „wirtschaftlich produktiv“?

Es ist ein Modell, das den Wert von Umweltschutz sowie von Pflege und Fürsorge, beginnend bei der frühesten Kindheit, anerkennt, indem „überlebensnotwendige“ Beiträge von Privathaushalten, Kommunen und der Natur auch wirtschaftlich berücksichtigt werden. Ein Wandel der Wirtschaft könne schließlich nur gelingen, wenn neu definiert werde, was als wirtschaftlich produktiv gilt, so die Überlegung.

Eislers Center for Partnership Studies hat daher die Kennzahl des Sozialen Wohlstandsindex entwickelt, die – anders als das Bruttoinlandsprodukt (BIP) – die Rentabilität von Investitionen in Fürsorge für Mensch und Mitwelt sichtbar macht. Denn erst durch den achtsamen Umgang mit wertvollem Human- und Naturkapital kann „wahrer“ Wohlstand erzeugt werden.

Vater prüft Temperatur auf Stirn von krankem Kind
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Sich um andere kümmern liegt der Expertin zufolge in der Natur aller Menschen – und nicht nur in der Hand von Frauen

„Gegenpol“ zu Kapitalismus und Sozialismus

„Die lebenserhaltenden Tätigkeiten in den Privathaushalten, im Non-Profit-Bereich und in der Ressourcenwirtschaft bilden die Basis unserer Wirtschaft, und dennoch fehlen sie sowohl in der kapitalistischen als auch in der sozialistischen Wirtschaftstheorie“, kritisiert Eisler. Beide Modelle seien in der postindustriellen Ära, in der wir uns befinden, jedoch nicht nur unvollständig, sondern auch einfach nicht mehr zeitgemäß.

„Sowohl der Sozialismus als auch der Kapitalismus wurzeln in einer dominanzgeprägten Tradition. Für (Adam, Anm.) Smith genauso wie für (Karl, Anm.) Marx war die Natur einzig dafür da, um ausgebeutet zu werden“, erklärt Eisler. Ähnlich habe es sich mit den Frauen verhalten: Ihnen wurde die Fürsorgearbeit im Haushalt überantwortet – natürlich unbezahlt. Ein Grundproblem, das zwar bis heute Bestand habe, von Ökonomen aber meist übersehen werde. Als Ausnahme nennt Eisler den indischen Wirtschaftswissenschaftler und Philosophen Amartya Sen, dessen Forschung zur globalen Gerechtigkeit mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet wurde.

Ist der Mensch dafür gemacht?

Eislers Partnerschaftssystem lässt sich als „Gegenpol zu dem kapitalistischen und sozialistischen Dominanzsystem“ verstehen. Doch ist der Mensch wirklich für so ein System gemacht? Ein Blick auf die Welt und die vergangenen Monate wirft Zweifel auf. Zweifel, die Eisler so nicht gelten lassen will und mit einer Reihe von Beispielen aus der Kulturgeschichte sowie mit neuesten Erkenntnissen aus den Neurowissenschaften zu widerlegen vermag.

So sei etwa Charles Darwin völlig missinterpretiert worden, ist es bei der menschlichen Evolution doch nie um das Überleben des Stärksten oder Anpassungsfähigsten gegangen. Vielmehr habe Kooperation und Empathie die ausschlaggebende Rolle bei der Evolution gespielt. Der Übergang von partnerschaftlich zu dominanzgeprägten Gesellschaften sei erst vor 5.000 bis 10.000 Jahren passiert.

Jägerinnen und Sammlerinnen

Und: Vor 9.000 Jahren, in der Jungsteinzeit, griffen sowohl Männer als auch Frauen zu Speer und Projektil, um die Gemeinschaft mit Fleisch zu versorgen, wie eine neue Studie nun belegte. Eine Rollenverteilung nach Geschlecht, wie bisher immer angenommen wurde, habe es damals nicht gegeben. Frauen waren sowohl Sammlerinnen als auch Jägerinnen – mehr dazu in science.ORF.at.

Dass die Natur des Menschen nach wie vor „prädestiniert“ für ein Partnerschaftssystem sei, würden auch neurologische Experimente zeigen. Kümmern wir uns um andere, leuchten Lustzentren in unseren Gehirnen auf – stärker noch, als wenn wir jemanden besiegen. Bei Männern übrigens genauso wie bei Frauen.

Illegale Rodung im Regenwalfd von Brasilien
AP/Brasilianisches Umweltministerium/Felipe Werneck
„System change, not climate change“ – um das Klima zu retten, müssen wir unser Wirtschaftssystem ändern, so die Überzeugung

Vom Katzen- zum Klimawandelleugner

Allerdings wird die Hirnarchitektur stark durch unsere Umgebung beeinflusst. Studien hätten gezeigt, dass, wer etwa in dominanzgeprägten Familien aufwächst, später eher eine Art von Politik wählen werde, die den Kindheitserfahrungen ähnlich kommt. Diese Menschen könnten dann auch mit Veränderung schwieriger umgehen. So wurde Probanden ein Bild von einem Hund präsentiert, der sich langsam in eine Katze verwandelt.

Das Ergebnis: „Sie konnten die Katze einfach nicht sehen. Also kein Wunder, dass sie dann auch den Klimawandel leugnen“, so Eisler, die mit ihrem Wirtschaftsmodell auch für einen stärkeren Klima- und Umweltschutz eintritt. Den Plan der EU, Wiederaufbauhilfen mit Klimaschutzmaßnahmen zu verbinden, sieht Eisler als „wichtigen Schritt“ im Kampf gegen die weltweite Zerstörung unserer natürlichen Lebenserhaltungssysteme.

Riane Eisler
Chris Latesta

Riane Eisler wurde 1931 in Wien geboren und floh vor den Nationalsozialisten zuerst nach Kuba und dann in die USA. Heute ist sie Kulturhistorikerin, Systemwissenschaftlerin und Soziologin und leitet das Center for Partnership Studies. Für ihre transdisziplinäre Forschung wurde sie vielfach ausgezeichnet.

Appell, Geschlechterrollen zu überwinden

Neben einem gerechteren Umgang mit der Natur zielt Eislers Modell vor allem aber auch auf ein gerechteres Verhältnis zwischen Männern und Frauen ab. Eine zentrale Rolle kommt dabei der Fürsorgearbeit zu – für Eisler „die wichtigste menschliche Arbeit“. Doch Studien zeigen, dass sich die Gleichberechtigung in den vergangenen Monaten stark verschlechtert hat – gerade in der Zeit der Lockdowns waren es oft Frauen, die zu Hause blieben und sich um die Kinder kümmerten, während Männer ihrer bezahlten Arbeit nachgingen.

Eisler appelliert, unser „von längst überholten Geschlechterrollen geprägtes Wertesystem“ zu überwinden. Denn in diesem erfahre alles, was traditionellerweise Frauen zugeschrieben wird, wie Kindererziehung, Pflege von Angehörigen und Haushaltsführung, eine geringere Wertschätzung als das, was mit Männern assoziiert wird. „Dieser wirtschaftliche Doppelstandard gründet auf dem Weltbild, das uns aus dominanzgeprägten Kulturen überliefert wurde und in dem Männer als Übergeordnete und Frauen als Untergeordnete betrachtet werden“, heißt es dazu in ihrem Buch.

„Man hat uns die falschen Geschichten erzählt“

Als Positivbeispiel nennt Eisler indessen nordeuropäische Länder, wo Frauen einen höheren Status besitzen und auch stark in Regierungen vertreten sind. Das führe unter anderem dazu, dass mehr Geld in fürsorgende Maßnahmen wie eine allgemeine Gesundheitsvorsorge, hochwertige Kinderbetreuung und großzügig bezahlte Elternzeit investiert werde und sich der Lebensstandard aller dadurch dementsprechend verbessere.

„Man hat uns einfach die falschen Geschichten erzählt. Wir wurden alle einer Gehirnwäsche unterzogen. Wir müssen erkennen, dass Fürsorgearbeit eine menschliche Aktivität ist und sowohl Frauen als auch Männer dazu in der Lage sind“, konstatiert Eisler. Es liege an uns, welche Geschichte wir erzählen. Für Eisler ist klar: „Wir müssen die Geschichte der Wirtschaft verändern.“ Und diese beginne eben mit einer neuen Werteskala, schließlich werde die Wirtschaft immer von den Werten und Ansichten innerhalb einer Gesellschaft getragen.

„Black Lives Matter“ Demonstration in Portland, USA
AP/Noah Berger
Egal ob „Black Lives Matter“-Proteste, feministische Demonstrationen oder die Klimabewegung – sie alle kämpfen Eisler zufolge gegen Dominanztraditionen

Das Ziel: Ein gutes Leben für alle

Wertekategorien wie rechts-links, religiös-säkular, östlich-westlich oder kapitalistisch-sozialistisch seien dabei jedoch nicht zielführend, schließlich habe es „in jeder dieser Kategorien“ Gewaltregime gegeben, die die Mehrheit der Menschheit, nämlich Frauen und Kinder, entweder marginalisierte oder ignorierte, sagt Eisler gegen Ende des Gesprächs.

Es brauche daher einen neuen und einheitlichen Rahmen, sonst gebe es „die Klimabewegung da, den feministischen Aktivismus dort und die Anti-Rassimus-Protestbewegung hier“. Dabei hätten all diese Bewegungen, sobald man das ganze Bild betrachte, immer das gleiche Ziel, nämlich zu einem partnerschaftlicheren System zu kommen und vorherrschende Dominanztraditionen zu überwinden.

Uns von unserem „dominanzgeprägten Erbe zu befreien“, dafür biete die Pandemie nun die Chance, zeigt sich Eisler überzeugt. Auf lange Sicht gesehen vertraue sie aber ohnehin in die menschliche Kreativität, Probleme zu lösen, so die 89-Jährige, die von ihren Freunden als „realistische Visionärin“ bezeichnet wird. Ihr Ziel ist „ein gutes Leben für alle“. Mit ihrer Arbeit möchte sie dazu beitragen, die „auf dem Kopf stehende Realität“ wieder aufzurichten. Diesmal aber mit der richtigen Seite nach oben.