Demo in Warschau
APA/AFP/Janek Skarzynski
Rigides Abtreibungsgesetz

Polens Gesellschaft gefährlich gespalten

Die Verschärfung des ohnehin höchst rigiden Abtreibungsverbots und die anhaltenden Proteste dagegen machen die sozialen und politischen Differenzen in Polen offensichtlich. Die martialische Wortwahl der rechten Regierung schürt noch die Aggression. Der Präsident versucht sich nun als Mediator – seine Erfolgschancen sind gering.

„Polen befindet sich an der Schwelle grundlegender Veränderungen. Zwar steht nicht die Einführung eines neuen politischen Systems im Raum, aber eine radikale Veränderung des zivilisatorischen Denkens. Mit ihren Schritten – wie dem Verbot von Abtreibungen mit Hilfe des politisierten Verfassungsgerichts – spaltet die konservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) weiter die Gesellschaft. Das Land steuert auf eine offene Konfrontation zu“: So kommentierte die liberale Zeitung „Hospodarske noviny“ aus Tschechien die derzeitige Lage in ihrem Nachbarland.

Und tatsächlich deutet wenig auf eine politische Beruhigung hin. Am Mittwoch gingen den siebenten Tag in Folge Menschen gegen die Verschärfung des Abtreibungsverbots auf die Straße – landesweit kamen laut Polizei mehr als 430.000 Menschen zu Kundgebungen zusammen. Die Verfassungsrichter hatten in der vergangenen Woche entschieden, dass Frauen auch dann nicht abtreiben dürfen, wenn ihr Kind schwere Fehlbildungen hat. Ein entsprechender Passus im bisherigen Abtreibungsrecht – ohnehin eines der restriktivsten in Europa – sei verfassungswidrig.

Zahl der Schwangerschaftsabbrüche stark gesunken

Das von 1956 bis 1993 geltende liberale Abtreibungsgesetz Polens erlaubte Frauen in „schwierigen Lebensbedingungen“ einen Abbruch der Schwangerschaft. In den 1980er Jahren wurden bis zu 140.000 Abbrüche pro Jahr gezählt. Nach Inkrafttreten des folgenden Gesetzes gab es zunächst nur noch sehr wenige registrierte Schwangerschaftsabbrüche. 2005 waren es 225. 2019 wurden in Krankenhäusern rund 1.100 Schwangerschaftsabbrüche ausgeführt – in 97 Prozent der Fälle aufgrund des nun gekippten Paragrafen.

Demo gegen Abtreibungsverbot in Warschau
APA/AFP/Janek Skarzynski
Seit einer Woche protestieren in ganz Polen Menschen gegen die Entscheidung des Verfassungsgerichts

Kaczynski heizt Stimmung auf

Seit dem Spruch des Höchstgerichts sind die Proteste nicht mehr einzufangen, werden im Gegenteil noch gezielt geschürt, allen voran von Polens wohl einflussreichstem Politiker, dem Parteichef der Regierungspartei PiS, Jaroslaw Kaczynski. In martialischen Tönen rief er die „Patrioten“ auf, das Land und seine Kirchen „um jeden Preis“ zu verteidigen, nachdem Protestierende am Sonntag Messen gestört und Kirchen besprüht hatten. Die Demonstrationen würden darauf abzielen, Polen zu zerstören, so Kaczynski. „Verteidigen wir Polen, verteidigen wir den Patriotismus“, sagte er.

Von manchen wird Kaczynskis Aufruf offenbar als Erlaubnis zur Gewalt interpretiert: Mittwochabend griffen Männer aus einer rechtsextremen Gruppierung Frauen an, die an Protesten in Wroclaw (Breslau), Poznan (Posen) und Bialystok teilnahmen.

Regierung appelliert an Protestierende

Für Freitag haben Frauenrechtlerinnen zu neuen Massenprotesten in Warschau aufgerufen. Angesichts der Pandemieentwicklung – am Donnerstag meldete Polen mit 20.156 neuen SARS-CoV-2-Infizierten binnen eines Tages einen Rekord –, versucht die Regierung nun gegenzusteuern.

Premierminister Mateusz Morawiecki rief dazu auf, den Streit im Dialog, nicht durch anhaltende Massenversammlungen beizulegen. Er appellierte an die Demonstranten, ihre Wut lieber auf ihn zu konzentrieren, aber jene Mitbürger zu verschonen, die als Folge der Proteste möglicherweise in zwei Wochen von dem Virus betroffen wären. „Als Demonstranten seid ihr im Kontakt mit älteren Menschen, und das könnte dramatische Folgen haben.“

Andrzej Duda
Reuters/Aleksandra Szmigiel
Präsident Andrzej Duda stellte sich erstmals gegen die harte Linie der PiS

Duda geht auf Distanz

Indessen zeigen sich auch in der Politspitze des Landes erste Meinungsverschiedenheiten. Am Donnerstag übte Präsident Duda überraschend Kritik an dem verschärften Abtreibungsgesetz und richtete sich damit gegen die herrschende Meinung in der ihm nahestehenden PiS. „Es kann nicht sein, dass das Gesetz diese Art von Heldentum von einer Frau verlangt“, sagte Duda in einem Interview mit dem Radio RMF FM. Frauen sollten weiterhin das Recht haben, Föten mit angeborenen Gendefekten abzutreiben. In der vergangenen Woche hatte Duda die Entscheidung des Gerichts noch begrüßt.

Auch in einem anderen Punkt signalisierte Duda Meinungsverschiedenheiten mit Kaczynski: Der Schutz der Öffentlichkeit solle allein der Polizei obliegen und nicht irgendwelchen anderen uniformierten Kräften, betonte er. Die Worte des Präsidenten dürften allerdings wenig Gewicht haben: Weder kann er Einfluss auf das Urteil des Höchstgericht nehmen, noch wird erwartet, dass seine Worte zur Beschwichtigung der Protestierenden beitragen können.

„Selbstverständnis steht in Frage“

Wenig optimistisch fiel am Donnerstag auch ein Kommentar der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ („FAZ“) aus. Darin hieß es: „Weil die regierende Rechte die bestehenden Widersprüche in der polnischen Gesellschaft mutwillig anheizt – aus Verantwortungslosigkeit, Zynismus, ideologischem Eifer oder was auch immer – , rutscht Polen inmitten der Pandemie in eine Krise, in der das ganze Selbstverständnis des Landes in Frage steht.“