Leerer Hauptplatz in Eggenfelden
APA/AFP/Christof Stache
Negative Folgen

Lockdown für WHO „letzte Wahl“

Wegen der steigenden Coronavirus-Zahlen schränken Regierungen weltweit das öffentliche Leben wieder ein. In Frankreich gibt es ab Freitag neue strenge Ausgangsbeschränkungen, in Deutschland ab Montag einen Quasi-Lockdown. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnete einen landesweiten Lockdown allerdings als „letzte Wahl“ und warnte vor den negativen Folgen.

Zwar könnten strikte Beschränkungen dabei helfen, Ansteckungsketten zu unterbrechen, und zur Erholung des Gesundheitswesens beitragen, sagte der Europadirektor der Organisation, Hans Kluge, am Donnerstag. Allerdings habe das seinen Preis: So sei mit einem Anstieg bei psychischen Erkrankungen und häuslicher Gewalt zu rechnen. Kluge verwies auch auf den wirtschaftlichen Schaden durch strenge Einschränkungen.

„Angesichts dieser Realitäten betrachten wir nationale Lockdowns als das Mittel der letzten Wahl, weil sie die nach wie vor bestehende Möglichkeit umgehen, jeden an grundlegenden und effektiven Maßnahmen zu beteiligen“, so der Experte. Schon Anfang Oktober sagte die WHO, die Behörden sollten „harte Lockdowns“ vermeiden. Manchmal gebe es keine andere Wahl, aber wo möglich sollten die harten Maßnahmen vermieden werden, die so schwere Folgen für „die Gemeinschaften, die Gesellschaft und alles andere“ hätten.

Leere Straße in Paris
Reuters/Christian Hartmann
In vielen Ländern kommt es wieder zu rigorosen Ausgangsbeschränkungen

Europa wieder Zentrum der Pandemie

WHO-Experte Kluge sagte, dass Europa wieder zum Zentrum der Pandemie geworden sei. Auch die Todesfallrate und die Zahl der Krankenhauspatienten und – patientinnen steige wieder. Eine weitere Ausweitung der Testkapazitäten in größerem Stil sei angesichts der massiven Ausbreitung des Virus nicht mehr möglich, so Kluge. „Wir müssen eruieren, worauf wir unsere Ressourcen konzentrieren sollten.“ Dazu gehöre es, die Strategie beim Testen und der Kontaktverfolgung „anzupassen“. Beides müsse „gezielt“ geschehen, damit eine „maximale Wirkung“ gewährleistet sei.

Das Europadirektorat der WHO umfasst 53 Länder, darunter auch Russland und mehrere Staaten der früheren Sowjetunion in Zentralasien. Bis Donnerstag wurden in der Region nach WHO-Angaben mehr als zehn Millionen Coronavirus-Fälle nachgewiesen. Laut einer Zählung der Nachrichtenagentur Reuters haben sich weltweit inzwischen mehr als 44,66 Millionen Menschen mit dem Coronavirus infiziert, über 1,176 Millionen starben.

Die USA bleiben mit knapp 8,9 Millionen bestätigten Fällen und fast 228.000 Toten das am stärksten betroffene Land gefolgt von Indien und Brasilien. Nach der Reuters-Zählung wurden zudem erstmals weltweit mehr als 500.000 Neuinfektionen an einem Tag verzeichnet. Getrieben wird der Anstieg dabei von Rekordzunahmen auf der Nordhalbkugel. Am Freitag vergangener Woche war erstmals ein Anstieg von 400.000 Fällen registriert worden.

Weitere Schritte in Österreich geplant

Auch in Österreich stehen weitere Verschärfungen der Maßnahmen an. Die Bundesregierung wird am Samstag bekanntgeben, welche es genau seien werden. In Medien wurden bereits über „Lockdown light“, „lockdownähnlich Maßnahmen“ und „nächtliche Ausgangssperren“ geschrieben. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) wollte sich am Donnerstag dazu nicht äußern. Genannt wurde lediglich der Fahrplan, Fragen zu Details zu den Maßnahmen wurden nicht beantwortet.

„Wir sind nicht in einer Phase, wo es um Stunden geht“, sagte Kurz. Die Entwicklung sei seit Langem absehbar. Am Freitag wird es ihm zufolge Gespräche mit den Sozialpartnern geben, am Samstag mit den Landeshauptleuten und der Opposition sowie dem Bundespräsidenten. Im Anschluss an diese Gespräche werde die Öffentlichkeit über die notwendigen Maßnahmen informiert, kündigte Kurz an. Unklar blieb am Donnerstag auch, ab wann die neuen Maßnahmen gelten sollen. Wichtig sei, „kühlen Kopf zu bewahren und entschlossen zu handeln“.

Empört reagierte die Opposition, sie kritisierte die Kommunikationspolitik der Bundesregierung scharf. Für die SPÖ ist es zwar erfreulich, dass Sozialpartner, Parlamentsfraktionen und Landeshauptleute an einen Tisch geholt werden sollen, „völlig unverständlich“ sei aber, warum die Regierung damit bis zum Wochenende wartet. Die FPÖ sprach von einem „Tiefpunkt des Regierungsmarketings“, NEOS ortete ein „Versagen“ von Türkis-Grün.

Kinder besonders gefährdet

In Österreich stellten Fachleute der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit bereits im Juni, also nach den Maßnahmen im März, fest, dass während der Coronavirus-Zeit der Blick auf die Kinder vernachlässigt wurde. Insbesondere Kinder aus ökonomisch schwächeren Familien hätten nicht selten den Anschluss an die Schule verloren. Die Gewalt in der Familie sei gestiegen, „Rat auf Draht“ habe ein Drittel mehr Anrufe wegen Gewalt an Kindern gezählt.

Geschlossenes Kaffeehaus in Eggenfelden
APA/AFP/Christof Stache
Experten und Expertinnen warnen vor psychischen und wirtschaftlichen Folgen eines Lockdowns

Auch Europol warnte vor einer zunehmenden Gefährdung von Kindern durch die Pandemiemaßnahmen. „Während des Lockdown verlagerte sich das Leben von Kindern von der realen Welt zunehmend in die online-virtuelle Welt.“ Das nutzten Täter aus, um die Gruppe ihrer möglichen Opfer zu vergrößern.

Europol befürchtet, dass der Missbrauch von Kindern „auf Bestellung“ und im Livestream zunehmen werde. Ermittler und Ermittlerinnen stellten im Frühjahr fest, dass in Foren von Sextätern die Nachfrage nach Webcamvideos stark zugenommen habe. Dabei gehe es um selbst aufgenommenen Missbrauch – aber auch um Aufnahmen von Kindern selbst, die ohne ihr Wissen gehandelt würden.