„Bleiben Sie zu Hause, schützen Sie das Gesundheitssystem, retten Sie Leben“, appellierte der britische Premierminister Boris Johnson Samstagabend an seine Landsleute. Die Engländer sollen ihre Wohnungen nicht mehr ohne triftige Gründe verlassen – etwa zur Arbeit, zum Sporttreiben, zur Erholung und zu Pflege Angehöriger. Treffen mit anderen Haushalten sind bis auf wenige Ausnahmen verboten.
„Das Virus breitet sich derzeit schneller aus, als es unsere wissenschaftlichen Berater in einem ‚Worst Case‘-Szenario angenommen haben“, sagte Johnson. „Jetzt ist es Zeit zu handeln, denn es gibt keine Alternative.“ Die Maßnahmen seien notwendig, um den staatlichen Gesundheitsdienst NHS vor einer erneuten Überlastung zu schützen. In den ersten Regionen im Norden Englands sind bereits erste Operationen wieder verschoben werden, weil die Covid-19-Fälle auf den Intensivstationen drastisch zunehmen.
Um die Schließungen für betroffene Unternehmen finanziell abzufedern, kündigte Johnson eine Verlängerung des „Furlough“-Programms an, das der österreichischen Kurzarbeit ähnelt. Dieses sollte eigentlich zu Ende Oktober auslaufen und durch ein weniger großzügiges Unterstützungsprogramm ersetzt werden. Arbeitnehmer, die wegen des Lockdowns in dem Zeitraum nicht arbeiten können, sollen 80 Prozent ihres Gehalts vom Staat erhalten.
Knapp 22.000 Neuinfektionen
Am Samstag meldete Großbritannien knapp 22.000 Neuinfektionen. Damit durchbrach das Land die Schwelle von einer Million bestätigten Coronavirus-Fällen seit Beginn der Pandemie. In den vergangenen zwei Wochen zählte das Vereinigte Königreich 451 Fälle pro 100.000 Einwohner.
Gesundheitsberater Patrick Vallance warnte, die zweite Welle könnte noch mehr Menschen das Leben kosten als die erste, wenn die Infektionsrate sich nicht radikal ändere. Mittlerweile übersteigt die Zahl der Toten mit Covid-19 auf dem Totenschein die Schwelle von 60.000 Menschen, womit Großbritannien bisher das am schwersten von der Pandemie getroffene Land in Europa ist. Johnsons Regierung wurde schon im Frühjahr vorgeworfen, zu spät reagiert zu haben.
Kritik an Johnson nimmt zu
Der Druck auf Johnson, schärfere Maßnahmen zu ergreifen, stieg zuletzt deutlich. Der regionale Ansatz, bei dem jedoch selbst in Regionen mit der höchsten Warnstufe noch Restaurants und Freizeiteinrichtungen geöffnet bleiben dürfen, habe sich nicht als effektiv bewährt, kritisieren Mediziner und Wissenschafter.
Sie hatten – genauso wie die Opposition – schon vor Wochen einen temporären Lockdown gefordert. Schottland, Wales und Nordirland machen ihre eigenen Regeln. Dort gelten bereits weitgehend deutlich schärfere, temporäre Maßnahmen als bisher in England. In Wales trat am 23. Oktober ein zweiwöchiger Lockdown in Kraft. 3,1 Millionen Menschen sind in dem britischen Landesteil von der Maßnahme betroffen. Johnson selbst hatte nur wenige Tage zuvor härtere CoV-Beschränkungen für den Großraum Manchester angekündigt.