Polizeiband vor einer gesperrten Straße in Wien
Reuters/Lisi Niesner
Terror in Wien

Mythen, Helden und falsche Gerüchte

Verletzte und Tote: Der Terroranschlag in Wien hat für Schockwellen gesorgt – bei jenen, die den Terror in der City live miterleben mussten. Und bei vielen, die von einem Tsunami von Handyvideos per Social Media, WhatsApp und auch in Medien heimgesucht wurden. Doch die Nacht hatte auch andere Facetten: junge Männer, die als Helden gefeiert werden. Wirte, die ihre Gäste mit Freigetränken beruhigten. Und ein Mann, der den Angreifer – angeblich – mit den Worten „Schleich di, du Oaschloch“ bedachte.

Auch am Tag nach dem Anschlag in der Wiener Innenstadt mit fünf Toten, darunter der Attentäter, sind viele zentrale Fragen unklar. Das offenbar islamistische Attentat sei das „schlimmste unserer jüngeren Geschichte“, sagte Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Der Attentäter war am letzten Abend vor dem zweiten Lockdown durch die City gestürmt. Temperaturen von bis zu 20 Grad hatten viele Menschen zu einem vorerst letzten geselligen Abend in die Stadt gezogen. Wien hatte sich auf neue Einschränkungen gefasst gemacht und wurde nun hinterrücks von den Ereignissen überrascht.

Ein Zeuge befand sich am Tatort, weil er sein Touristikgeschäft in der Innenstadt für den Lockdown schließen wollte. „Plötzlich fielen Schüsse, erst so 20, dann acht und dann wieder 20“, schilderte der Mann. Er habe das Geschehen anfangs gar nicht einordnen können: „Wer denkt denn in Wien an einen Anschlag?“

„Helden von Wien“

Auf seinem Weg erschoss der 20-jährige Attentäter Passanten, ein Polizist wurde schwer verletzt. In Sozialen Netzwerken plädierten Politik, Polizei und viele andere Menschen dafür, nichts zu tun, was den Plänen des oder der Attentäter in die Hände spielen könnte: keine Bilder von der Polizei im Einsatz, keine Videos mit brutalem Inhalt.

Augenzeuge half verletztem Polizisten

Ein junger Mann war am Montagabend in der Wiener Innenstadt unterwegs, als sich der Terroranschlag ereignete. Er kam einem verletzten Polizisten zu Hilfe.

Das spalterische Anliegen des Terroristen durchkreuzte auch, dass sich augenscheinlich zwei türkischstämmige Wiener und ein Palästinenser als „Helden von Wien“ entpuppten, wie mehrere Medien die jungen Männer nannten. Sie riskierten ihr Leben, um einer Frau und einem verletzten Polizisten zu helfen. „Wir wollten den letzten Kaffee vor den Ausgangssperren trinken und dabei sind wir mitten im Gefecht gelandet“, schilderte Mikail Özen die Situation auf Instagram. Die beiden Kampfsportler Özen und Recep Gültekin hörten nach eigenen Aussagen auf dem Schwedenplatz in der Wiener Innenstadt plötzlich Schüsse und sahen blutende Passanten. Ein Anrainer nahm die dramatischen Szenen aus seiner Wohnung in einem oberen Stockwerk auf.

Die beiden Männer halfen zunächst einer älteren Frau, sich in Sicherheit zu bringen. Danach sahen sie einen verwundeten Polizisten. „Wir konnten einfach nicht nur zuschauen. Wir sind hingelaufen und haben ihn zum Krankenwagen befördert“, so Özen. Dabei riskierten die beiden Wiener selbst ihr Leben. In Videos auf ihrem Instagram-Account ist zu sehen, wie die Männer verletzt wurden und bluteten. Sie schienen aber auch nach ihrem Einsatz völlig ruhig. Gültekin musste wegen einer nach eigenen Aussagen „kleinen Schusswunde“ am Bein im Krankenhaus behandelt werden. Allerdings tauchten später in den Sozialen Netzwerken Screenshots auf, die zumindst bei einem der beiden eine Verbindung zu türkischen Nationalisten nahelegen.

Laut „Kurier“ hatte zuvor schon der junge Palästinenser Osama Joda den Beamten hinter einer Betonbank in Sicherheit gebracht und ihn erstversorgt. Er habe zudem auf Bitten eines weiteren Polizeibeamten die in der Nähe stehende Rettung alarmiert. Jodas Familie war voriges Jahr bereits einmal in die Schlagzeilen gekommen. Die niederösterreichische Gemeinde Weikendorf hatte sich geweigert, der Familie einen Hauskauf zu ermöglichen. Nun wurde Joda laut dem Bericht die Goldene Ehrenmedaille verliehen.

Erdogan telefonierte mit türkischen Rettern

Unterdessen rief der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die beiden „Helden“ des Attentats per Videocall an und dankte ihnen für ihre Zivilcourage. „Ich bin mir sicher, dass ihr den Frieden und das Schöne repräsentieren werdet“, sagte Erdogan laut einem Tweet des türkischen Staatssenders TRT vom Dienstag. Der Sender berichtete, wie die beiden Männer den Videocall mit Erdogan per Handy gemeinsam mit anderen Männern führten.

„Wie lange bist du schon in Österreich?“, ist die Stimme des Präsidenten samt deutscher Untertitelung auf dem Video zu erkennen. „Seit 31 Jahren. Als Sie in Haft waren, habe ich (meinen Sohn, Anm.) Recep Tayyip nach Ihnen benannt“, antwortet einer der Versammelten. Die Geehrten zeigten sich sehr erfreut über den Anruf des türkischen Präsidenten.

Ruhige Stimmung

Am Montagabend waren Hunderte Menschen stundenlang in Hotels, Veranstaltungsräumen und Lokalen in der Innenstadt gefangen. Die Polizei hatte Vorstellungen in Theatern unterbrochen, die Kammerspiele in der Josefstadt befanden sich in der unmittelbaren Gefahrenzone des Terroranschlags. Das Theater ermöglichte den Zuschauern eine Rückzugsmöglichkeit in einem nahen Hotel.

Auch das Hotel Sacher war in der Nähe des Geschehens. „Wir haben gestern sofort das Erdgeschoß von der Straße weggelagert, die Lichter abgedreht und den Gästen, die zum Essen da waren, haben wir angeboten hier zu schlafen“, berichtete Sacher-Chef Matthias Winkler. „Die Mitarbeiter waren auch hier und haben auch hier übernachtet.“ Die Unterbringung der zusätzlichen Gäste war kostenlos. „So haben wir versucht, es in dieser Tragödie richtig zu machen.“

In der Wiener Staatsoper erfuhren die rund 1.000 Zuschauer nach der Vorstellung von der Lage. Sie durften stundenlang nicht hinaus, dennoch kam keinerlei Panik auf. Markant sei die ruhige Stimmung der Besucher gewesen, so die Sprecherin der Oper, die am Abend selbst dort war. Die Buffets waren geöffnet worden, auch Wirte in der Innenstadt gaben Freigetränke aus, um die in den Lokalen eingesperrten Menschen zu beruhigen.

TV- und Radiohinweis

ORF2, ORF1 und ORF III sowie die ORF-Radios berichten umfassend über den Anschlag in Wien – mehr dazu in tv.ORF.at.

Am Dienstag war die Innenstadt fast leer, die Polizei hatte dazu aufgerufen, zu Hause zu bleiben. Rund 90 Prozent der Händler in der City haben geschlossen. „Ich habe Angst und bin froh, dass ich bald wieder nach Hause kann“, sagte die Verkäuferin einer Bäckerei nahe der U-Bahn-Station Schottentor der APA.

Flut von Bildern und Videos

Der Abend sorgte für einen enormen Schock in der Stadt. Rasch ergab sich in Sozialen Netzwerken ein Tsunami an Über- und auch Falschinformation. Abertausende Bilder wurden geteilt, Videos unverifiziert verbreitet. Von weiteren Schießereien war die Rede, von einer Geiselnahme, von weiteren Toten – allesamt Falschmeldungen. Die Polizei bat darum, keine relevanten Videos in Sozialen Netzwerken zu teilen und stattdessen auf der Upload-Seite des Innenministeriums hochzuladen, um der Polizei zu helfen. „Man muss sich immer fragen: Was sind die Konsequenzen, wenn ich das teile?“, so die Publizistin und Digitalexpertin Ingrid Brodnig – mehr dazu in fm4.ORF.at.

Bürger (ORF) über die Rolle von Politikern in Krisenzeiten

Hans Bürger (ORF) analysiert die Reaktionen von Politikern sowie die Rolle der Medien und spricht über ungesicherte Informationen in Sozialen Netzwerken.

Bereits Dienstagmittag hatte die Veröffentlichung von Videos von der Tatnacht rund 700 Beschwerden beim Presserat ausgelöst. Sie richteten sich vor allem gegen Oe24.tv und gegen die „Kronen Zeitung“ (Onlineausgabe), sagte Geschäftsführer Alexander Warzilek am Dienstag zur APA. Der zuständige Senat werde sich eingehend damit beschäftigen, kündigte er an.

Der Presserat wies eindringlich darauf hin, den Persönlichkeitsschutz zu achten. Der Senat werde sich außerdem mit der Frage auseinandersetzen, inwiefern die Interessen der Terroristen befördert würden, wenn zu viele Bilder gezeigt werden, sagte Warzilek. Der Presserat mahnte zur Zurückhaltung: „Verbreiten Sie keine Gerüchte, behindern Sie nicht die Polizei, verzichten Sie auf Aufnahmen und deren Verbreitung, gefährden Sie weder sich selbst noch die Ermittlungen!“

Handelsketten reagieren

Billa kündigte in der Folge an, Inserate in „Österreich“ (Onlineausgabe) und auf Krone.at zu stoppen, die Spar-Gruppe und Hofer setzten alle Werbeanzeigen auf Oe24at aus. Diskussionen gab es auch rund um „Falter“-Chefredakteur Florian Klenk. Für einen Tweet zu einer angeblichen Geiselnahme entschuldigte er sich später. „Im Stress der Nacht und auch im Schock der Ereignisse habe auch ich die Nachricht eines Polizisten an mich verbreitet. Die Quelle war seriös, die Nachricht war zum Glück falsch. Sorry.“

„Schleich di, du Oaschloch!“ ein Mythos?

Vielfach kommentiert wurde in Social Media auch der Ausruf eines Mannes, der dem Attentäter in einem der zahlreichen Montagnacht veröffentlichten Videos angeblich „Schleich di, du Oaschloch!“ nachruft. Unter anderem wurde diese Aussage als typisch wienerisch gewürdigt. Doch möglicherweise handelt es dabei um so etwas wie Mythenbildung: Vielleicht ist dieser Ausspruch tatsächlich gefallen, bewiesen ist der Ruf „Arschloch“, der in einem Handyvideo zu hören ist. Dennoch: Er wurde zum Wiener Slogan gegen den Terror und ziert mittlerweile viele Profilbilder in den Sozialen Netzwerken.

Über Soziale Netzwerke kam zudem eine Welle der Solidarität im Aus- und Inland. Virtuelle Kerzen brachten Beileid zum Ausdruck, zahllose Bekundungen des Mitgefühls wurden geteilt.

Die Bundesregierung beschloss in einer Sondersitzung eine dreitägige Staatstrauer. Bis inklusive Donnerstag werden die öffentlichen Gebäude mit Trauerbeflaggung versehen. Außerdem gab es eine Schweigeminute, in den Schulen solle zu Unterrichtsbeginn am Mittwoch der Todesopfer gedacht werden.