Police officers search next to a street after exchanges of gunfire in Vienna, Austria November 3, 2020. REUTERS/Radovan Stoklasa
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Anschlag in Wien

Spur führt in die Schweiz

Einen Tag nach dem Anschlag in Wien mit vier Todesopfern und 23 teils schwer Verletzen sind noch viele Fragen offen. Wer hinter der Tat steckt, ist eine davon. Zwar reklamierte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) den Anschlag bereits für sich, die Stimmen, dass es sich bei dem Angreifer um einen Einzeltäter gehandelt haben dürfte, mehren sich jedoch. Eine weitere Spur führt unterdessen in die Schweiz.

Am Dienstag meldete die Schweiz zwei Festnahmen im Zusammenhang mit dem Anschlag. Die beiden 18 und 24 Jahre alten Schweizer seien in Winterthur in Gewahrsam genommen worden, teilte die Polizei mit. Die Festgenommenen dürften eng mit dem Attentäter von Wien in Kontakt gestanden sein.

Wie die Schweizer Justizministerin Karin Keller-Sutter am Abend bei einem Podiumsgespräch des „St. Galler Tagblatts“ sagte, handelt es sich bei den Verhafteten um Freunde des Attentäters. „Die drei Männer haben sich auch physisch getroffen“, wurde sie in der Onlineausgabe des Blatts zitiert. Das Bundesamt für Polizei teilte am Abend auf Twitter mit, die beiden Verhafteten seien den Behörden aus Terrorismusverfahren der Bundesanwaltschaft bekannt. Der Informationsaustausch mit den österreichischen Behörden und allen nationalen Partnern laufe auf Hochtouren.

Derzeit kein Hinweis auf zweiten Täter

Die Analyse zahlreicher Handyvideos vom Tatort ergab bisher aber keinen Hinweis auf weitere Attentäter. Das teilte Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) Dienstagnachmittag in einer Pressekonferenz mit. Man könne aber „noch nicht genau sagen, wie viele Täter verantwortlich sind“.

Laut Nehammer werde die Auswertung von 20.000 zugeschickten Handyvideos von dem Anschlag noch andauern. Nach wie vor könnten weitere Täter daher nicht vollständig ausgeschlossen werden. Die erhöhte Warnstufe werde so lange gelten, bis das gesamte Videomaterial ausgewertet ist, sagte der Sprecher des Innenministeriums, Harald Sörös.

Anschlag in Wien: Der Tag danach

Vier Todesopfer, 23 Verletzte und 14 vorläufige Festnahmen. Das ist die traurige Bilanz des Terroranschlags in Wien. Der getötete Attentäter, ein 20-Jähriger mit österreichisch-nordmazedonischer Doppelstaatsbürgerschaft, war bereits polizeibekannt und bis vor Kurzem in einem Deradikalisierungsprogramm.

18 Razzien, 14 Festnahmen

Nehammer sagte zudem, dass es im Umfeld des 20-jährigen erschossenen Attentäters 18 Razzien und 14 Festnahmen gegeben habe. Im Laufe des Tages hatte es Hausdurchsuchungen in Wien, Linz und St. Pölten gegeben. Die Festgenommenen stammen aus dem Bekannten- und Freundeskreis des 20-Jährigen. Nach ersten Erkenntnissen gab es keine Hinweise, dass sie aktiv in den Anschlag involviert waren.

Laut Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) gebe es die Angst vor Nachahmungstätern. Auch er wollte nicht endgültig ausschließen, dass es nicht doch noch einen zweiten flüchtigen Täter geben könnte. Zwar gehe man mittlerweile davon aus, dass es nur einen Täter gegeben habe, „aber wir haben noch keine hundertprozentige Gewissheit“, so Kurz. Die Hinweise auf einen Einzeltäter würden sich verdichten, es gelte aktuell aber, Trittbrettfahrer abzuhalten, sagte auch der Wiener Landespolizeipräsident Gerhard Pürstl.

Ein Mann zündet eine Kerze am Tatort des gestrigen Attentates in der Wiener Innenstadt.
APA/Helmut Fohringer
Ein Mann zündet eine Kerze am Tatort des gestrigen Attentates in der Wiener Innenstadt an und gedenkt der Opfer

IS reklamiert Anschlag für sich

Unterdessen reklamierte der IS den Anschlag bereits für sich. Ein „Soldat des Kalifats“ habe die Attacke mit Schusswaffen und einem Messer verübt und in der österreichischen Hauptstadt rund 30 Menschen getötet oder verletzt, darunter auch Polizisten, teilte der IS am Dienstag auf seiner Plattform Naschir News mit.

Hinweise zur Untermauerung der Erklärung gab es allerdings nicht. Das Innenministerium prüft derzeit das Bekennerschreiben. Es könne noch nicht gesagt werden, ob es echt ist oder nicht, hieß es gegenüber der APA.

In der Vergangenheit reklamierte die Terrormiliz immer wieder Anschläge für sich – auch in diesem Fall könnte der Attentäter den Anschlag möglicherweise auch nur unter einem „IS-Label“, also im Namen des IS begangen, aber selbst organisiert und durchgeführt haben, erklärte der Nahost-Experte und Politologe Thomas Schmidinger Dienstagvormittag gegenüber der APA.

Mann wollte sich IS anschließen

Nehammer hatte bereits am Vormittag mitgeteilt, dass es sich bei dem Attentäter, der nach dem Anschlag bei der Ruprechtskirche in der Wiener Innenstadt von der Polizei erschossen wurde, um einen 20-jährigen Mann gehandelt hatte. Der Erschossene war österreichisch-nordmazedonischer Doppelstaatsbürger und einschlägig wegen terroristischer Vereinigung (Paragraf 278b StGB) vorbestraft.

Der Mann sei zweifelsfrei ein Anhänger der radikalislamischen Terrormiliz IS gewesen. Er wurde am 25. April 2019 zu 22 Monaten Haft verurteilt, weil er versucht hatte, nach Syrien auszureisen, um sich dort dem IS anzuschließen.

Am 5. Dezember wurde er vorzeitig bedingt entlassen – er galt als junger Erwachsener und fiel damit unter die Privilegien des Jugendgerichtsgesetzes (JGG). Dem Angreifer gelang es zudem offenbar, eine erfolgreiche Teilnahme an einem Deradikalisierungprogramm vorzutäuschen.

Kritik an frühzeitiger Entlassung

Sowohl Kurz als auch Nehammer übten scharfe Kritik an der frühzeitigen Entlassung. Nehammer betonte, es brauche Optimierung bei der Zuhilfenahme des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) und des Landesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) bei aktuellen Gefährdern.

Innenminister Nehammer zu den Ermittlungen

Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) spricht über den Stand der Ermittlungen nach dem Terroranschlag in Wien.

Der Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit, Franz Ruf, wies Vorwürfe gegen die Polizei oder das BVT zurück. Mit der gerichtlichen Verurteilung des Täters sei die Justiz hauptzuständig gewesen – auch für die Zeit nach der vorzeitigen Entlassung. Der Täter habe offenbar alle Beteiligten getäuscht. Das Justizministerium verwies auf die übliche Entlassungspraxis.

„SZ“: Informationen aus der Slowakei

Laut Ruf wurden bei den Ermittlungen im Umfeld des Täters unter anderem Munitionsteile sichergestellt. Die Wohnung des Täters war mit Sprengstoff geöffnet worden, wie bereits zuvor bekanntwurde. Zusätzlich wurde umfangreiches weiteres Beweismaterial beschlagnahmt, das erst ausgewertet werden muss.

Hilfe via Telefon

  • Psychiatrische Soforthilfe für Wien, 24-Stunden-Hotline: +43 1 31330
  • Notfallpsychologischer Dienst Österreich, 24-Stunden-Hotline: +43 699 188 554 00
  • Opfernotruf, 24-Stunden-Hotline: +43 800 112 112

Eine offene Frage ist, wie der Täter an die Waffen gelangte. Es gibt Hinweise, dass er zumindest Munition in der Slowakei gekauft haben könnte. Der slowakische Innenminister Roman Mikulec sagte gegenüber dem Sender JOJ: „Ich habe die Information, dass der Angreifer bzw. einer der Täter hier gewesen sein könnte und interessiert war, Munition zu kaufen.“ Das sei „eine Information, die wir mit unseren Sicherheitskräften überprüfen“, so Mikulec.

Laut einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ („SZ“) sei der Mann aber ohne Munition nach Wien zurückgekehrt, da er keinen Waffenschein vorweisen konnte. „Die Behörden sollen demnach ihre österreichischen Amtskollegen über den Besucher und sein Kaufinteresse unterrichtet haben“, heißt es da. Das Innenministerium soll die Berichte bestätigt haben.

Zahl der Verletzten auf 23 gestiegen

Laut Wiens Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ) wurden insgesamt 23 Personen nach dem Anschlag in der Innenstadt im Spital behandelt, das ist einer mehr als zuletzt gemeldet. Von den 16 Männern und sieben Frauen waren in der Früh sieben in kritischem Zustand. Alle seien mittlerweile aus der Narkose erwacht, teilweise schwer verletzt, aber aus der kritischen Phase heraus. Von den Leichtverletzten konnten laut dem Wiener Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) zehn Personen das Spital bereits wieder verlassen.

Bevor er um 20.09 Uhr selbst erschossen wurde, konnte der Attentäter vier Menschen ermorden. Ums Leben kamen ein älterer Mann und eine ältere Frau, ein junger Passant und eine Kellnerin. Eine der beiden Frauen ist deutsche Staatsbürgerin.

Bundeskanzler Kurz: „Werden Spaltung nicht zulassen“

ÖVP-Bundeskanzler Sebastian Kurz bekräftigt, dass „wir es nicht zulassen werden, dass Terrorismus unsere Gesellschaft spaltet“.

Kurz fordert mehr Einsatz der EU gegen politischen Islam

Laut Kurz gelte es jetzt, noch entschlossener gegen Terrorismus und die zugrunde liegende Ideologie anzukämpfen – und das auch auf europäischer Ebene. Das habe er in den vielen Telefonaten mit Regierungschefs nach dem Terroranschlag auch deponiert. Kurz kündigte etwa nach einem Gespräch mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eine gemeinsame europäische Initiative im Kampf gegen Islamismus an.

In der deutschen Zeitung „Welt“ sprach sich Kurz dafür aus, den Kampf gegen den politischen Islam zum Thema bei den kommenden EU-Gipfeln zu machen: „Ich erwarte mir ein Ende der falsch verstandenen Toleranz und endlich ein Bewusstsein in allen Ländern Europas, wie gefährlich die Ideologie des politischen Islam für unsere Freiheit und für das europäische Lebensmodell ist“, sagte er der Zeitung.

Auch ÖVP-Außenminister Alexander Schallenberg wird am Mittwoch vor seinen Kolleginnen und Kollegen des Europarates über den Terroranschlag sprechen. Dabei kündigte Schallenberg an, Österreich werde sich „nicht durch irgendeine Form von Terrorismus oder gewalttätigen Extremismus einschüchtern lassen“ und den Terror mit „allen zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Mitteln bekämpfen“.