Soldaten des österreichischen Bundesheeres im Bereich des Tatorts in der Seitenstettengasse in der Wiener Innenstadt
APA/Helmut Fohringer
Zwei Tage nach Anschlag

Offene Fragen von Munition bis Netzwerk

Nach dem islamistisch motivierten Anschlag in der Wiener Innenstadt mit vier Todesopfern und 23 teils schwer Verletzen arbeiten die Ermittlungsbehörden weiter auf Hochtouren. Bereits kurz nachdem die Polizei den Täter erschossen hatte, konnte dessen Identität ermittelt werden. Viele weitere Fragen sind aber auch zwei Tage nach der Tat noch offen.

16 Personen wurden im Zuge der Ermittlungen inzwischen festgenommen – 14 davon in Österreich und zwei in der Schweiz. In welcher Verbindung die Verhafteten zu dem Täter standen, ist derzeit noch weitgehend offen. Laut einem Bericht des Nachrichtenmagazins „Profil“ handelt es sich bei zwei von ihnen um Freunde des Montagabend erschossenen Attentäters. Sie sollen ihn sogar noch am Tag des Anschlags getroffen haben. Bei einem der beiden soll es sich überdies um jenen Mann handeln, der gemeinsam mit dem Attentäter im April 2019 wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt wurde.

Auch die beiden Männer in der Schweiz standen laut der Schweizer Justizministerin Karin Keller-Sutter in engem Kontakt mit dem Attentäter. Sie sollen sich auch persönlich getroffen haben, wird Keller-Sutter im „St. Galler Tagblatt“ zitiert. Die Oberstaatsanwaltschaft Zürich bestätigte am Mittwoch, dass der 18- und der 24-Jährige in Terrorverfahren involviert sind. Die Strafverfahren der Schweizer Bundesanwaltschaft wurden 2018 und 2019 im Bereich Terrorismus eröffnet und sind zurzeit noch am Laufen. Die Männer wurden Dienstagnachmittag in Winterthur festgenommen. Die Stadt gilt als Ausgangspunkt zahlreicher Dschihad-Reisen.

Polizeimarkierungen am Tatort in der Seitenstettengasse in der Wiener Innenstadt
APA/Helmut Fohringer
Die Tatortsicherung ist abgeschlossen – die Ermittlungen wohl noch lange nicht

Frage der Mitwisserschaft

Ob die beiden in irgendeiner Form in die Planung des Anschlags in der Wiener Innenstadt eingebunden waren, ist allerdings völlig offen. Das gilt nach derzeitigem – offiziell kommuniziertem – Wissensstand auch für die anderen Verhafteten. Zunehmend wahrscheinlicher wurde im Verlauf des ersten Ermittlungstages jedoch, dass der Täter beim Anschlag selbst wohl allein gehandelt hat.

„Aufgrund unserer Erkenntnislage sind wir recht zuversichtlich, dass es nur ein Täter ist. Wir bleiben aber aufmerksam, wir sind in erhöhter Alarmbereitschaft aber derzeit ist die Erkenntnislage so, dass es einen einzelnen Täter gibt, der von uns neutralisiert worden ist“, sagte Franz Ruf, Generaldirektor für öffentliche Sicherheit, am Dienstagabend im ORF-„Report“. Offen ist weiterhin, ob und in welchem Verhältnis der Attentäter zum Islamischen Staat (IS) stand, ein Bekennerschreiben der Terrormiliz wird derzeit vom Innenministerium geprüft.

Versuchter Munitionskauf in Slowakei

Die Frage nach einem möglichen Netzwerk im Hintergrund bleibt aber auch zwei Tage nach der Tat aktuell. Dem leisteten auch Medienberichte Vorschub, wonach der Attentäter im Juli gemeinsam mit einem anderen Mann in die Slowakei fuhr – in einem Auto, das auf die Mutter eines behördlich bekannten Islamisten zugelassen gewesen sein soll. Wie „Süddeutsche Zeitung“ („SZ“), NDR und WDR bereits am Dienstag berichteten, versuchte der Attentäter in der Slowakei, Munition zu kaufen. Das Vorhaben soll aber gescheitert sein, da er keinen gültigen Waffenschein vorweisen konnte.

Die slowakischen Sicherheitsbehörden hätten daraufhin auch ihre Kolleginnen und Kollegen in Österreich informiert. Laut „SZ“ bestätigte auch das österreichische Innenministerium, entsprechende Informationen erhalten zu haben. Auch die Polizeidirektion in Bratislava bestätigte diesen Umstand am Mittwoch noch einmal in einer offiziellen Stellungnahme auf Facebook.

Staatsanwaltschaft nicht informiert

Diese Information hätten die heimischen Sicherheitsbehörden wohl auch an die Justiz weitergeben müssen. Schließlich war der Attentäter nach einer Verurteilung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation im April 2019 im Dezember des gleichen Jahres vorzeitig entlassen worden. Doch zur Weiterleitung der Information kam es offenbar nicht: Erst am Abend des Anschlags sei die Staatsanwaltschaft Wien über den versuchten Munitionskauf informiert worden, sagte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft Wien im Ö1-Mittagsjournal.

Im Justizministerium sieht man in dem Fall das Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusaufklärung (LVT) in der Pflicht. Das LVT sei gesetzlich verpflichtet, die Staatsanwaltschaft „unverzüglich zu informieren, wenn sich aus den Beobachtungen der Verdacht einer Straftat ergibt“, so eine Sprecherin des Justizministeriums im Mittagsjournal.

Nach dem Terroranschlag: Versäumnisse der Behörden?

Mittlerweile wurden weitere Details über den Attentäter bekannt: Die Slowakei soll Österreichs Behörden bereits im Sommer vor dem Mann gewarnt haben.

Pistole identifiziert

Laut den Medienberichten vom Dienstag soll die Munition, die der Attentäter zu kaufen versuchte, jedenfalls zu dem Waffentyp passen, der später bei dem Anschlag zum Einsatz kam. Bei der Waffe handelt es sich vermutlich um den Nachbau einer Kalaschnikow – vermutlich aus dem ehemaligen Jugoslawien, schreibt der „Standard“. Die Zeitung berichtete überdies davon, dass die Pistole, mit der der Attentäter ebenfalls auf Passanten schoss, identifiziert worden sei. Es handle sich um eine Tokarew – eine Pistole aus sowjetischer Produktion.

Die Polizeidirektion in Bratislava betonte am Mittwoch jedenfalls, dass die beim Anschlag verwendeten Waffen nicht aus der Slowakei stammen könnten. In den vergangenen Jahren wurden wiederholt Waffen mit slowakischen Registriernummern bei Terroranschlägen und anderen Straftaten in Europa verwendet. Auch die deutsche Polizei fand bei Razzien im vergangenen Jahr illegale Waffen slowakischen Ursprungs.

Schon im Sommer 2015 verschärfte die Slowakei ihre Gesetzgebung, um den Kauf illegaler Waffen zu verhindern. Allerdings kursieren auf dem internationalen Schwarzmarkt immer noch Waffen aus der Zeit zuvor. Das Gleiche gilt für Waffen, die noch aus den Balkan-Kriegen stammen.

Im Dezember aus Haft entlassen

Während Fragen zu Waffen und möglichem Netzwerk des Attentäters weiter offen bleiben, gab das Innenministerium bereits Dienstagvormittag die Identität des Attentäters bekannt. Es handelt sich um einen 20-jährigen österreichisch-nordmazedonischen Doppelstaatsbürger, der in Österreich geboren wurde. Der junge Mann war den Behörden kein Unbekannter. Im April vergangenen Jahres wurde er wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu 22 Monaten Gefängnis verurteilt. Er hatte zuvor – eben mit einem der nun verhafteten Männer – versucht, sich dem IS in Syrien anzuschließen. Die beiden Männer wurden aber in der Türkei verhaftet und zurück nach Österreich gebracht.

Analyse von Hans Bürger (ORF)

ORF-ZIB-Innenpolitikchef Hans Bürger erläutert ein mögliches Behördenversagen und die damit verbundenen politischen Auswirkungen.

Hilfe via Telefon

  • Psychiatrische Soforthilfe für Wien, 24-Stunden-Hotline: +43 1 31330
  • Notfallpsychologischer Dienst Österreich, 24-Stunden-Hotline: +43 699 188 554 00
  • Opfernotruf, 24-Stunden-Hotline: +43 800 112 112
  • Kriseninterventionszentrum: +43 1 406 95 95

Nach seiner Verurteilung saß er bis Dezember 2019 in Haft, aus der er vorzeitig entlassen wurde. Bundeskanzler Sebastian Kurz und Innenminister Karl Nehammer (beide ÖVP) äußerten daran bereits Kritik. Von Justizministerin Alma Zadic (Grüne) hieß es allerdings, es habe sich um ein übliches Vorgehen gehandelt. Der Mann sei Anfang Dezember 2019 nach Durchführung einer Entlassungskonferenz und gerichtlicher Entscheidung entlassen worden. Es wurde regelmäßiger Kontakt zu Bewährungshilfe und weitere Betreuung durch den auf Deradikalisierung spezialisierten Verein Derad aufgetragen.

Bei einer regulären Entlassung, die im konkreten Fall im Juli 2020 erfolgt wäre, hätte es keine Möglichkeit gegeben, mit zusätzlichen Auflagen auf den Täter Einfluss zu nehmen, so das Justizministerium. Und der Täter sei nach momentanem Wissensstand den Auflagen auch nachgekommen. „Die Vorgaben und Auflagen hat er offenbar punktgenau eingehalten. Er ist immer erschienen, er hat sich geläutert gezeigt“, sagte auch Ruf, Chef der höchsten Polizeibehörde, im „Report“. Moussa Al-Hassan Diaw von Derad wollte sich nicht zu dem konkreten Fall äußern. Er dürfe in Absprache mit der Polizei nichts über den Täter sagen.

Umgang mit entlassenen Dschihadisten als große Frage

Eine weitere große Frage steht somit im Raum: Hätten die Behörden den Täter dennoch weiter unter Beobachtung halten müssen? Ruf verwies Dienstagabend auf die Justiz. Für „weitergehende Maßnahmen“ brauche die Polizei „sofort die Genehmigung des Rechtsschutzbeauftragten“ oder wieder eine gerichtliche Verfügung. „Und dieser Mann war in den Händen der Justiz, und darum liegt schon der Hauptbereich in diesem Gebiet.“

Terrorismusexperte Neumann im Interview

Droht eine neue Terrorismuswelle in Europa? Terrorismusexperten Peter Neumann im Gespräch.

Sowohl Polizei als auch Justiz sehen zurzeit den Fehler nicht bei sich. Zugleich ist sich die Politik aber einig, dass sich beim Umgang mit verurteilten und entlassenen Dschihadisten etwas ändern muss. Nicht zuletzt auch deshalb, weil dieses Problem in den kommenden Jahren noch deutlich drängender wird, wie etwa Extremismusforscher Peter Neumann am Dienstagabend in der ZIB2 darlegte. In ganz Europa würden in den kommenden Jahren Hunderte verurteilte Dschihadisten aus der Haft entlassen. Wie man damit umgehe, sei in den meisten Ländern allerdings eine ungeklärte Frage.