Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) in der ehemaligen Rennwegkaserne auf dem Rennweg in Wien
ORF.at/Carina Kainz
Politvorwürfe

Anschlag holt Verfassungsschutz ein

Zwei Tage nach dem islamistisch motivierten Anschlag in der Wiener Innenstadt mit vier Todesopfern und 23 teils schwer Verletzen, rückt zunehmend die politische Diskussion ins Zentrum. Am Mittwochnachmittag gestand Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) Behördenfehler im Vorfeld des Attentats ein. Harte Vorwürfe richtete Nehammer an seinen Vorgänger im Innenministerium, Herbert Kickl (FPÖ). Der wiederum sparte nicht mit Kritik am aktuellen Innenminister.

„43 Stunden nach dem Anschlag“ informierte der Innenminister Mittwochnachmittag zum einen über Fortschritte bei den Ermittlungen. Andererseits nahm Nehammer aber auch zu jenen Berichten Stellung, die zuletzt ein fragwürdiges Licht auf die Arbeit der Behörden warfen.

Bereits am Dienstag hatten deutsche Medien darüber berichtet, dass der Attentäter im Juli versucht hatte, in der Slowakei Munition zu kaufen. Mangels eines gültigen Waffenscheins scheiterte das Vorhaben allerdings – und der slowakische Sicherheitsdienst informierte seine Partnerorganisationen in Österreich, namentlich den Bundesdienst und den Landesdienst für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT und LVT). Offenbar waren die heimischen Behörden seit Juli über den versuchten Munitionskauf informiert. Das geht aus einem der APA vorliegenden internen Schreiben der im slowakischen Innenministerium angesiedelten nationalen Kriminalagentur hervor. „Alle damit zusammenhängenden Informationen wurden über die nationale Verbindungsstelle von Europol am 23.7.2020 an die österreichischen Organe übermittelt“, heißt es in dem Dokument.

Der Verfassungsschutz stellte in der Folge selbst weitere Nachforschungen an. Das bestätigten am Mittwoch auch Nehammer und der Generaldirektor für Öffentliche Sicherheit, Franz Ruf. Aus dem am Mittwochabend von der FPÖ per OTS veröffentlichtem Dokument der slowakischen Kriminalagentur geht überdies hervor, dass es die österreichischen Behörden waren, die den versuchten Munitionskauf mit dem späteren Attentäter in Verbindung brachten.

Infos gelangten nicht zur Justiz

Vom Verfassungsschutz gelangte die Information aber offensichtlich nicht weiter zur Staatsanwaltschaft. Erst am Abend des Anschlags sei die Staatsanwaltschaft Wien über den versuchten Munitionskauf informiert worden, sagte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft Wien im Ö1-Mittagsjournal. Laut Justizministerium wäre das LVT allerdings verpflichtet gewesen, die Staatsanwaltschaft „unverzüglich zu informieren, wenn sich aus den Beobachtungen der Verdacht einer Straftat ergibt“.

Innenminister Karl Nehammer (ÖVP)
APA/Hans Punz
Innenministerium und Polizei informierten über die aktuellen Ermittlungen – und mögliche Fehler im Vorfeld des Anschlags

Denn der Attentäter war den Behörden im heurigen Sommer kein Unbekannter mehr. Im April 2019 war er wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu 22 Monaten verurteilt worden. Im Dezember desselben Jahres wurde er vorzeitig – und unter Auflagen – aus der Haft entlassen.

Vorschlag für Untersuchungskommission

Noch am Dienstag hatten Nehammer und Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) diese vorzeitige Entlassung scharf kritisiert. Am Mittwoch blieben Vorwürfe in Richtung Justiz jedoch weitgehend aus. Zwar erwähnte Nehammer noch einmal, dass „der Täter, obwohl er sich dem IS anschließen wollte“, vorzeitig aus der Haft entlassen worden sei.

Mehr Raum nahm aber ein anderer Punkt ein: In den letzten Stunden seien Informationen sichtbar geworden, „die zeigen, dass die Slowakei den heimischen Verfassungsschutz, das BVT, schon einige Zeit vor dem Anschlag über den Terrorattentäter informiert hatte“, so Nehammer. Bei den weiteren Schritten sei jedoch „offensichtlich in der Kommunikation etwas schiefgegangen“.

Innenminister gibt Fehler zu

Nach der Auswertung von 20.000 Videos konnten die Ermittler feststellen, dass der Attentäter ein Einzeltäter war. In seinem Umfeld wurden 14 Verdächtige zwischen 18 und 28 Jahren festgenommen. Das gab Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) bei einer Pressekonferenz bekannt, bei der er allerdings auch Fehler in seinem Ministerium zugeben musste.

Weiter ins Detail ging der Innenminister zwar nicht, stellte aber dafür eine unabhängige Untersuchungskommission in den Raum – ein Vorschlag, den der Nationale Sicherheitsrat am Mittwoch unterstützte.

Gegenseitige Vorwürfe rund um Verfassungschutz

Zwar sei die Frage, wer an dem Terroranschlag schuld sei, „ganz klar zu beantworten“: „Es ist immer der Täter“, sagte Nehammer. Einen Schuldigen für die Pannen im Verfassungsschutz hatte der Innenminister allerdings auch bei der Hand: Nehammers „Innenmnisteriumsvorgänger a. D. Herbert Kickl“ habe das BVT „nachhaltig geschädigt“, „um nicht zu sagen zerstört“, so Nehammer.

Hotline eingerichtet

Das Wiener LVT richtete eine Hotline und eine Mailadresse ein, bei denen Informationen zum Terrorakt angegeben werden können. Die Ermittler sind unter 01/31310/9974800 sowie unter Lpd-w-lvt-aex@polizei.gv.at erreichbar.

Kickl selbst wiederum war nur kurz vor der PK des Innenministers mit eben diesem scharf ins Gericht gegangen. Der FPÖ-Klubobmann warf Nehammer „Fehlinformation“ vor. Entgegen den Aussagen des Ministers und seiner Spitzenbeamten seien der Täter wie auch sein Umfeld sehr wohl unter Beobachtung des Verfassungsschutzes gestanden. Es stelle sich die Frage, warum der Verfassungsschutz nicht „schon längst zugegriffen“ habe. Aus seiner Sicht hätte das Attentat verhindert werden können.

Kickl verwies auf der FPÖ vorliegende Informationen, wonach der Täter unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stand – und zwar ab dem Zeitpunkt unmittelbar nach seiner Haftentlassung bis hin zu seiner Tat am Montagabend. Kickl brachte zwei verdeckte Ermittlungsoperationen mit den Namen „ANSA“ und „ZULU“ aufs Tapet. Erstere hätte Anfang 2020 begonnen und der Beobachtung der Islamistenszene in Wien „inklusive des späteren Attentäters“ gedient.

Anschlag einen Tag vor geplanter Großrazzia?

Auch die in mehreren Medienberichten am Mittwoch thematisierte Operation „RAMSES“ erwähnte Kickl in seiner Pressekonferenz. In den frühen Morgenstunden des 3. November – einen Tag nach dem Attentat – sei unter dem Decknamen „RAMSES“ eigentlich eine große Operation inklusive zahlreicher Hausdurchsuchungen in der Islamistenszene angesetzt gewesen.

Das sei auch der Grund dafür gewesen, warum bereits am Montag starke Polizeikräfte in der Innenstadt zusammengezogen wurden, so Kickl. „Man kann an einen Zufall glauben, ich denke nicht daran“, so Kickl. Für ihn stelle sich die Frage, ob diese Razzia möglicherweise verraten wurde. „Gibt es vielleicht wieder einmal eine undichte Stelle im Bereich des Verfassungssschutzes“, fragte der FPÖ-Obmann. Von Nehammer hieß es dazu auf Nachfrage nur knapp, er könne eine solche Operation nicht bestätigen.

Videomaterial ausgewertet

Auskunftsfreudiger gab sich der Innenminister hinsichtlich mancher Aspekte der Ermittlungsarbeit. Mehr als 20.000 Videos seien fertig ausgewertet worden, mehr als ein Terabyte an Daten. Darunter sowohl Videos aus Überwachungskameras als auch jene, die der Polizei übermittelt wurden. Die Auswertung bestätige nun endgültig, dass der unmittelbare Terrorakt durch den einen – erschossenen – Täter verübt wurde. Derzeit gingen die Ermittler daran, das Bewegungsprofil anhand der Erkenntnisse aus der Videoauswertung zu überarbeiten.

Polizeimarkierungen am Tatort in der Seitenstettengasse in der Wiener Innenstadt
APA/Helmut Fohringer
Die Tatortsicherung ist abgeschlossen – die Ermittlungen wohl noch lange nicht

Laut Wiener Polizeipräsident Gerhard Pürstl gehen die Ermittler auch noch der Frage nach, wie der Täter zum Anschlagsort gelangt sei. Die derzeitige Videoauswertung lasse darauf schließen, dass er nicht mit der U-Bahn angereist sei.

Die 14 bei Razzien in Wien, Niederösterreich und Oberösterreich Festgenommenen seien zwischen 18 und 28 Jahre alt und würden alle über Migrationshintergrund verfügen. Manche hätten auch keine österreichische Staatsbürgerschaft, sagte Nehammer. Bei den insgesamt 18 Hausdurchsuchungen wurde einiges sichergestellt, darunter etliche Datenträger, die nun umfassend ausgewertet werden müssten, sagte Polizeibehördenchef Ruf.

Unter den Festgenommenen dürften sich der APA zufolge Personen befinden, gegen die wegen Verdachts auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ermittelt wird oder wurde. Sie könnten von dem Anschlag gewusst haben – mehr dazu in wien.ORF.at.

Sicherheitsrat empfiehlt Untersuchungskommission

Der Anschlag beschäftigte Mittwochnachmittag auch den Nationalen Sicherheitsrat. Dort wurde mit Stimmen von ÖVP, Grünen und NEOS ein Antrag der Regierungsfraktionen abgesegnet, der die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission „zur Evaluierung der Vorkommnisse und behördlichen Maßnahmen vor dem Anschlag“ empfiehlt. Darüber hinaus lauten die Empfehlungen, die bereits eingeleiteten Reformmaßnahmen beim BVT fortzusetzen.

Der Antrag wurde in der Sitzung des Sicherheitsrats – der als beratendes Gremium der Bundesregierung fungiert – zum Terroranschlag in Wien von SPÖ und FPÖ nicht mitgetragen. SPÖ-Vizeklubobmann Jörg Leichtfried erklärte, seine Fraktion habe nicht zugestimmt, „weil das aus unserer Sicht ein Versuch der ÖVP ist, die eigene Verantwortung für die Missstände im BVT wegzuschieben, obwohl die ÖVP seit Jahren für das Innenministerium und damit für das BVT zuständig ist“. Auch die empfohlene Kommission sieht die SPÖ kritisch, da diese vom Innen- und Justizministerium eingesetzt werden sollte – „das ist aus unserer Sicht nicht unabhängig“.

Hilfe via Telefon

  • Psychiatrische Soforthilfe für Wien, 24-Stunden-Hotline: +43 1 31330
  • Notfallpsychologischer Dienst Österreich, 24-Stunden-Hotline: +43 699 188 554 00
  • Opfernotruf, 24-Stunden-Hotline: +43 800 112 112
  • Kriseninterventionszentrum: +43 1 406 95 95

NEOS für Krakow als Leiter

Zustimmung kam hingegen von NEOS. „Wir sind mitgegangen, weil wir konstruktiv sein wollen. Es ist jetzt wichtig, auf die Unabhängigkeit der Kommission zu pochen. Weil wir wissen nicht, wie sich Karl Nehammer das vorstellt“, sagte NEOS-Verteidigungssprecher Douglas Hoyos. Er verwies neuerlich auf den Vorschlag, Georg Krakow von Transparency International zum Leiter einer solchen Kommission zu machen.

Im Antrag heißt es, es gehe bei der BVT-Reform darum, das Vertrauen der internationalen Dienste in das Bundesamt wiederherzustellen, „offensichtliche Missstände“ im BVT zu beseitigen „und den Beitrag des BVT für eine funktionierende Terrorismusabwehr bei gleichzeitig hohem Rechtsschutz-Standard und ausreichender parlamentarischer Kontrolle zu gewährleisten“. Auch empfiehlt der Antrag „die Evaluierung der aktuellen personellen Ausstattung der relevanten Behörden (Strafvollzug, Justiz, Polizei, Präventionsstellen)“.