Polizeimarkierungen am Tatort in der Seitenstettengasse
APA/Helmut Fohringer
Anschlag in Wien

Heikle Suche nach Ursachen für Pannen

Der tödliche Anschlag in der Wiener Innenstadt bewegt viele Menschen weiter zutiefst. Zugleich sind aber offenbar schwere Pannen im Vorfeld der Tat passiert – so wurde einem entscheidenden Hinweis nicht nachgegangen. Diese sollen nun von einer eigenen Kommission untersucht werden. Die politischen Schuldzuweisungen haben bereits begonnen.

Im Vorfeld des Wiener Terroranschlags wurden Hinweise auf mögliche Pläne des 20-jährigen Attentäters übersehen. Es sei „offensichtlich einiges schiefgegangen“, räumte Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) am Mittwoch ein. Er kündigte die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission an. Konkret war der spätere Attentäter der slowakischen Polizei bei einem versuchten Munitionskauf aufgefallen. Nehammer sagte zugleich, dass sich die „Eintätertheorie“ bestätigt habe.

Laut einem internen Schreiben der im slowakischen Innenministerium angesiedelten Kriminalagentur informierten die Behörden am 23. Juli ihre österreichischen Kollegen. Die österreichische Polizei habe am 10. September geantwortet und einen der beiden Kaufinteressenten als den wegen Terrorismus vorbestraften späteren Attentäter identifiziert.

SPÖ fordert Aufklärung

Die oppositionelle SPÖ forderte vom Innenministerium Aufklärung. „Was ist mit diesen Informationen dann passiert? Wie kann es sein, dass der Innenminister dann nicht sofort tätig wurde?“, fragte SPÖ-Vizefraktionschef Jörg Leichtfried.

Nehammer gibt Kickl die Schuld

Deutlich wurde auch, dass die Arbeit der Geheimdienste nicht so funktioniert, wie sie sollte. Nehammer gab dafür seinem Amtsvorgänger, dem nunmehrigen FPÖ-Klubchef Herbert Kickl, die Schuld. Dieser habe die Nachrichtendienste mit seiner Arbeit praktisch zerstört. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) sei durch Kickl in seinen Grundfesten erschüttert worden.

Viele Fäden

Die Zusammenarbeit anderer Geheimdienste mit Österreich galt nach der vom Innenministerium betriebenen Hausdurchsuchung im BVT und der Mitnahme von sensiblen Daten in der Kickl-Zeit als schwer belastet. Die BVT-Affäre war auch eine Belastung für die damalige ÖVP-FPÖ-Koalition, in der die Freiheitlichen das zuvor lange und nun wieder von der ÖVP geführte Ministerium leiteten, führte aber nicht zum Bruch.

Zuletzt für Aufsehen hatten Verbindungen des weltweit gesuchten Wirecard-Managers Jan Marsalek mit dem BVT gesorgt. Das Innenministerium hatte zuletzt dementiert, dass Marsalek, der sich in der Geschäftswelt seiner Kontakte zu Geheimdiensten brüstete, ein V-Mann des BVT war.

Kickl sieht „Fehlinformation“

Kickl selbst warf Nehammer „Fehlinformation“ vor. Entgegen den Aussagen des Ministers und seiner Spitzenbeamten seien der Täter und auch sein Umfeld sehr wohl unter Beobachtung des Verfassungsschutzes gestanden. Es stelle sich die Frage, warum der Verfassungsschutz nicht „schon längst zugegriffen“ habe. Aus seiner Sicht hätte das Attentat verhindert werden können. Kickl brachte zwei verdeckte Ermittlungsoperationen mit den Namen „Ansa“ und „Zulu“ aufs Tapet. Erstere habe Anfang 2020 begonnen und der Beobachtung der Islamistenszene in Wien „inklusive des späteren Attentäters“ gedient.

Anschlag einen Tag vor geplanter Großrazzia?

Auch die in mehreren Medienberichten am Mittwoch thematisierte Operation „Ramses“ erwähnte Kickl in seiner Pressekonferenz. In den frühen Morgenstunden des 3. November – einen Tag nach dem Attentat – sei unter dem Decknamen „Ramses“ eigentlich eine große Operation inklusive zahlreicher Hausdurchsuchungen in der Islamistenszene angesetzt gewesen.

Das sei auch der Grund dafür gewesen, warum bereits am Montag starke Polizeikräfte in der Innenstadt zusammengezogen wurden, so Kickl. „Man kann an einen Zufall glauben, ich denke nicht daran“, so Kickl. Für ihn stelle sich die Frage, ob diese Razzia möglicherweise verraten wurde. „Gibt es vielleicht wieder einmal eine undichte Stelle im Bereich des Verfassungsschutzes?“, fragte Kickl. Von Nehammer hieß es dazu auf Nachfrage nur knapp, er könne eine solche Operation nicht bestätigen.

Hilfe via Telefon

  • Psychiatrische Soforthilfe für Wien, 24-Stunden-Hotline: +43 1 31330
  • Notfallpsychologischer Dienst Österreich, 24-Stunden-Hotline: +43 699 188 554 00
  • Opfernotruf, 24-Stunden-Hotline: +43 800 112 112
  • Kriseninterventionszentrum: +43 1 406 95 95

Verein weist Kritik Nehammers zurück

Unmittelbar nach dem Attentat hatte sich zunächst in der Schuldfrage eine innerkoalitionäre Front aufgetan. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Nehammer hatten umgehend kritisiert, dass der Attentäter vorzeitig aus der Haft entlassen worden war. Von Justizseite wurde auf die Gesetzeslage verwiesen.

Nach Bekanntwerden der Panne auf Ermittlerseite wiederholte Nehammer den Vorwurf am Mittwoch nicht mehr. Er kritisierte aber nun das Deradikalisierungsprogramm und meinte, der Attentäter habe die Betreuer getäuscht. In diesem Fall wies der zuständige Verein Derad die Kritik zurück.

„Es stand immer fest, dass diese Person keinesfalls deradikalisiert ist“, betonte der Islamismusforscher und Mitbegründer des Vereins, Moussa Al-Hassan Diaw, am Mittwochabend. Die Betreuung wäre ja sonst abgebrochen worden, fügte er an. Der spätere Attentäter hatte aber noch in der Vorwoche einen Betreuungstermin, zu dem er vom Gericht verpflichtet worden war.

Keine Einigkeit bei Kommission

Politischer Streit droht auch rund um die von Nehammer angekündigte unabhängigen Untersuchungskommission. Deren Zusammensetzung ist noch unklar. Im Nationalen Sicherheitsrat stimmte nur NEOS mit den Regierungsparteien. SPÖ und FPÖ sehen die Unabhängigkeit nicht gewährleistet.

Als Reaktion auf den Terroranschlag tritt der Nationalrat am Donnerstag zu einer Sondersitzung zusammen. Dabei wollen Bundeskanzler Kurz, Vizekanzler Werner Kogler (Grüne), Innenminister Nehammer und Justizministerin Alma Zadic (Grüne) Erklärungen abgeben.