Scooter vor dem The Ritz-Carlton am Schubertring
ORF.at/Roland Winkler
Wien bei Nacht

Die stille Stadt

Vieles ist anders in Wien seit der Terrornacht vom Montag. Und die Ausgangssbeschränkung, die seit Dienstagabend in Kraft ist, hat Wien und den Menschen in dieser Stadt so etwas wie eine Verschnaufpause verschafft. Eine Stadt zieht sich auf sich selbst zurück. Und entdeckt in der Stille und Ruhe gerade auch ihre Stärke.

„Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie die Menschen“, bemerkt der Erzähler zu Beginn von Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“. Doch welchen Gang haben die Städte, wenn die Menschen darin fehlen, so wie Wien jeden Abend ab 20.00 Uhr. Denn tatsächlich präsentiert sich die Stadt an vielen Punkten beinahe menschenleer, und damit beinahe auch ganz unösterreichisch oder wienerisch, im Geist von Gesetz und Verordnung (die man doch sonst so gerne im Bereich eigener Interpretationen zu dehnen weiß).

„Das waren noch Zeiten, dachte ich auf dem Ohrensessel, wie noch Pferdewagen vor den Milchgeschäften Halt gemacht haben in der Nacht und ich mitten auf dem Rennweg und quer über den Schwarzenbergplatz und den vollkommen leeren Ring entlang hab nach Hause gehen können ohne fürchten zu müssen, überfahren zu werden“, reflektiert der Erzähler in Thomas Bernhards einstigem Skandalroman „Holzfällen“. Bestenfalls seinesgleichen sei er damals begegnet, und: „Niemehr im Leben habe ich so viele italienische Arien gesungen wie damals auf dem Weg von der Simmeringer Hauptstraße auf den Rennweg und über den Schwarzenbergplatz nach Währing.“

Texte zum Thema

  • Ingeborg Bachmann, Malina (Suhrkamp)
  • Thomas Bernhard, Holzfällen (Suhrkamp)
  • Heimito von Doderer, Die Strudlhofstiege (dtv)
  • Ernst Molden, Wien Mitte (deuticke)
  • Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (Rowohlt, Jung&Jung)

In der menschenleeren Nacht

Die Arien, sie wären in diesen Nächten zu hören in der menschenleeren Stadt. Der Ring mit seinen Gebäuden, er gleicht zurzeit einem leeren Bühnenbild, auf das immer noch das Licht fällt. Da, wo die Menschen nicht mehr das Kommando auf den Straßen haben, da haben die Figuren und Statuen der Stadt, die nun überdeutlich hervortreten in der menschenleeren Nacht, das Kommando übernommen.

Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe passen auf, dass nichts passiert zwischen Ringstraße, Burgtheater und Schillerplatz. Ernst Julius Hähnels geflügelte Pferde über der Loggia der Oper scheinen sich von selbst in Bewegung zu setzen: Es sind Erato, die Muse der Poesie, und die Harmonie, die da über die Dächer in die Nacht entwischen.

Durch „die Wasserdünste der Donau“ sei die Luft „milchig“ und beinahe „milde“, konstatiert Heimito von Doderer in der „Strudlhofstiege“ und stellt für die Stadt einen „Obstgeschmack des Herbstes im Munde“ fest, über den man „die vergehende Zeit fast sinnlich spüren konnte“ – ein Stück Marcel Proust für den Spätherbst quasi.

In der Sicherheit der eigenen Wände

Sich von den Straßen der Stadt in die Sicherheit des Hauses zu begeben, das bekommt nach dieser Woche eine ganz neue Dimension. „Wenn ich einbiege in meinen Bezirk“, liest man in Ingeborg Bachmanns „Malina“, „lässt die Spannung nach (und) ich werde, obwohl ich schneller gehe, endlich ganz still und dinglich vor Glück. Nicht ist mir sicherer als dieses Stück der Gasse, (…) in der Nacht stürze ich auf das Haustor zu, mit dem Schlüssel in der Hand, und wieder kommt der bedankte Moment, wo der Schlüssel sperrt, das Tor aufgeht, die Tür aufgeht.“

Die Leerstelle in der Mitte Wiens

Dort, wo „Malina“ spielt und auch die Autorin einst wohnte, wird ja namentlich die „Mitte Wiens“ verortet. Diese stellt sich im Moment so ruhig und abgründig dar, wie sie vor wenigen Jahren der Musiker Ernst Molden in seinem „Wochenbuch“ „Wien Mitte“ umrissen hat: „Wien Mitte ist ein Geisterzentrum hinter dem Zentrum, eine Stadtgegend geprägt von den letzten Ufern des Wienflusses, von einer seltsamen botanischen Phantasmagorie der Gründerzeit namens Stadtpark.“

Das leere Wien, so könnte man mit Molden weiter fantasieren, wirkt mit seinen zurückgelassenen Gebäuden in der Stille der Nacht „wie eine Reminiszenz an ein früheres Wien, an eine Zeit, als große Städte zur Durchmischung da waren“.

Bilder einer stillen Stadt

Das Denkmal am Schwarzenbergplatz während der Ausgangsbeschränkung
ORF.at/Roland Winkler
Der einsame sowjetische Soldat auf dem Schwarzenbergplatz bleibt auch nachts zurzeit einsam
Linienbus vor der Oper während der Ausgangsbeschränkung
ORF.at/Roland Winkler
Ein Chauffeur, ein leerer Bus, ein menschenleerer Opernring
Der Kohlmarkt mit Blick Richtung Hofburg während der Ausgangsbeschränkung
ORF.at/Roland Winkler
Alles Fassade: der Kohlmarkt nach 20.00 Uhr
Der Graben mit Blick Richtung Kohlmarkt während der Ausgangsbeschränkung
ORF.at/Roland Winkler
„Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie die Menschen“, schreibt Musil. Doch der Stadt gehen abends die Menschen per Verordnung ab.
Der Stephansplatz während der Ausgangsbeschränkung
ORF.at/Roland Winkler
Reine Architektur: Der Stephansplatz mit Haashaus (l.) und Dom im November 2020
Blick vom Schubertring auf das unbeleuchtete Hotel Imperial
ORF.at/Roland Winkler
„Quer über den Schwarzenbergplatz und den vollkommen leeren Ring entlang hab ich nach Hause gehen können“ (Thomas Bernhard, „Holzfällen“)
Die Opernpassage während der Ausgangsbeschränkung
ORF.at/Roland Winkler
Auch der Bauch von Wien bleibt leer. Hier ein Blick in die Opernpassage bei Nacht.
Menschenlehrer 60er in der Lainzerstraße
Gerald Heidegger / ORF.at
Nachtschicht. Die Bim fährt – aber oft komplett ohne Passagiere. Hier der 60er in der Lainzer Straße in der ersten Lockdown-Nacht im November.