Die Sporgasse in Graz während der Ausgangsbeschränkung
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Teil-Lockdown

Disziplin als große Unbekannte

Am Freitag will die Regierung evaluieren, ob es eine weitere Verschärfung der Maßnahmen gegen das Coronavirus braucht. Erste Anzeichen deuten zwar an, dass der Teil-Lockdown die Zuwachsraten leicht abschwächt – ob er für eine Trendumkehr sorgen kann, hängt aber nicht zuletzt von der Disziplin der Bevölkerung ab.

Dienstag vor einer Woche traten in Österreich nächtliche Ausgangsbeschränkungen in Kraft. Restaurants dürfen keine Gäste mehr bewirten, Hotels keine Reisenden mehr beherbergen, für private Treffen im öffentlichen Raum gibt es strenge Auflagen. Der Teil-Lockdown und auch die zuvor gesetzten Maßnahmen – die erneute Ausweitung der Maskenpflicht etwa – hätten dazu geführt, dass die „Wachstumsraten nicht mehr ganz so hoch sind“, sagte Peter Klimek vom Complexity Science Hub Vienna (CSH) und der MedUni Wien.

Wie stark der Teil-Lockdown die Zahl der Neuinfektionen drückt, werde man aber erst nächste Woche bewerten können, so Klimek gegenüber ORF.at. Entscheidend sei es, das Positivwachstum in ein Negativwachstum umzuwandeln. „Wenn wir sehen, dass wir unter 7.000 bis 8.000 täglichen Neuinfektionen bleiben, kommen wir langsam aus dem kritischen Bereich für die Intensivstationen.“ Grund für die zeitliche Verzögerung ist die Inkubationszeit von SARS-CoV-2: Wer heute positiv getestet wird, hat sich im Schnitt vor fünf bis sechs Tagen angesteckt.

Die leere Kärnter Straße in Wien während der zweiten Ausgangsbeschränkung
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Leere Straßen in Wien: Seit 3. November gelten nächtliche Ausgangsbeschränkungen

An der angespannten Situation auf den Intensivstationen ändert sich vorerst nichts, selbst wenn die Zahlen nach unten gehen sollten. Durchschnittlich muss einer von 100 Erkrankten wegen Covid-19 intensivmedizinisch betreut werden. Die Verschlechterung des Zustands setzt nach bis zu zehn Tagen ein, die Patientinnen und Patienten bleiben durchschnittlich zwischen zehn bis 14 Tagen auf der Intensivstation. Das heißt: Auch bei sinkenden Neuinfektionen würde sich ein Effekt in den Krankenhäusern erst in einigen Wochen bemerkbar machen.

Mitwirkung der Bevölkerung benötigt

Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) hatte vergangenes Wochenende im Ö1-Interview eine härtere Gangart zur Eindämmung des Virus angedeutet. Sollte Ende nächster Woche zu sehen sein, dass die Maßnahmen nicht genug greifen, müsse man dann entscheiden, was weiter zu tun sei, sagte Anschober. Am Freitag wird die Regierung evaluieren, ob der Teil-Lockdown ausreicht oder ob angesichts der hohen Infektionszahlen weitere Verschärfungen nötig sind.

Entscheidend für den Erfolg der Maßnahmen ist die Mitwirkung der Bevölkerung. Was jeder selbst tun kann, fasste Anschober am Wochenende noch einmal in einer Aussendung zusammen: „Die Kontakte zumindest halbieren, bei allen Tätigkeiten mit Kontakten überlegen, ob diese wirklich erforderlich sind, Abstand einhalten, MNS (Mund-Nasen-Schutz, Anm.) tragen, Stopp-Corona-App installieren und alle Maßnahmen konsequent umsetzen.“

Wie hoch die Mitwirkung ist, lässt sich schwer messen. In den ersten vier Tagen nach Beginn des Teil-Lockdowns wurden laut Polizei österreichweit 102 Anzeigen wegen Verstößen gegen die Ausgangsbeschränkungen ausgestellt. Laut Behörden in Einklang mit der Verordnung lief die Eröffnung eines Möbelhauses in Salzburg, bei dem am Wochenende knapp 8.000 Menschen zusammenkamen. Der Menschenauflauf löste heftige Kritik aus – mehr dazu in salzburg.ORF.at.

Menschen auf EInkaufsstraße in Wien
ORF.at/Roland Winkler
Die Mitwirkung der Bevölkerung ist gefragt, will man die CoV-Situation wieder in den Griff bekommen

„So verhalten, als wären wir alle infiziert“

Der deutsche Virologe Christian Drosten riet jüngst zu konsequenter Vorsicht. „Am besten wäre es, wir täten alle so, als wären wir infiziert und wollten andere vor Ansteckung schützen“, sagte er der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Das lasse sich auch umkehren: „Wir tun so, als wäre der andere infiziert und wir wollten uns selbst schützen. Daraus ergibt sich unser Verhalten.“

Ein einfacher Vorschlag, der aber in der Praxis Herausforderungen birgt, beispielsweise im Bereich Arbeit: In Österreich besteht kein Rechtsanspruch auf Homeoffice. Viele Beschäftigte könnten ohnehin nicht ins Homeoffice wechseln, etwa die oft genannten „Systemerhalter“ wie Kranken- und Altenpflegepersonal, Lehrerinnen und Lehrer, „Öffi“-Chauffeurinnen und -Chauffeure, Supermarktangestellte Polizei, Rettung und Feuerwehr.

Menschen mit MNS am Wiener Hauptbahnhof
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„Am besten wäre es, wir täten alle so, als wären wir infiziert und wollten andere vor Ansteckung schützen“, empfiehlt Drosten

Besonders viel Disziplin wird der Bevölkerung im privaten Bereich abverlangt. Für viele Städterinnen und Städter, die auf kleinem Wohnraum zusammenleben, sind Parks und öffentliche Orte ein verlängertes Wohnzimmer. Auf dem Land wiederum sind Feuerwehrfeste, Kirtage und Treffen mit der erweiterten Familie der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält. Doch gerade die Einschränkung der Kontakte außerhalb der Familie ist essenziell bei der Eindämmung der Pandemie.

Maßnahmen brauchen Zeit

Sollte der am 3. November gestartete Teil-Lockdown Wirkung zeigen und die Bevölkerung mitmachen, könne man im Dezember erste Öffnungsschritte setzen, sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) bei der Verkündung der Maßnahmen. Bei einem „ähnlichen Erfolg, wie wir ihn im ersten Lockdown hatten“ könne man dann beispielsweise wieder an Skifahren – wenn auch mit Abstrichen – denken.

Essenziell sei es, „dass wir mit dem Paket gut durch den November kommen“, um einen „deutlichen Abfall“ der Infektionszahlen zu erreichen, betonte der Kanzler. Mit einer Trendumkehr rechne er „frühestens in sieben bis 14 Tagen“, sagte er Ende Oktober auf einer Pressekonferenz.

„Projekt Eigenverantwortung gescheitert“

Ohne ergänzende Schritte wird es allerdings insgesamt nicht gehen. „Das Projekt Eigenverantwortung ist gescheitert“, und zwar in ganz Europa, sagte Klimek, der mit dem CSH die Wirksamkeit der Maßnahmen gegen die CoV-Ausbreitung untersucht. Viel hängt davon ab, mit welcher Strategie die Politik langfristig gegen die Verbreitung des Erregers vorgehen will.

Oö. Intensivbettenkoordinator zur Situation in den Spitälern

Jens Meier, Vorstand der Intensivmedizin am Universitätsklinikum Linz und Intensivbettenkoordinator des Landes Oberösterreich, erklärt, wie sich die Situation in den Spitälern in den nächsten Tagen entwickeln könnte.

Setzt man, wie Deutschland es derzeit tut, auf „Wellenbrecher-Lockdowns“, spielt der Faktor Zeit eine entscheidende Rolle. „Je früher lockdownartige Maßnahmen gesetzt werden, desto effizienter sind sie“, sagte Klimek. Falle die Wahl auf regionale Maßnahmen, müsse man ebenfalls „frühzeitig handeln und nicht erst zwei Wochen“ zuwarten, so der Wissenschaftler.