Jugendliche lernt auf einem Laptop daheim Mathematik
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Vergleich zeigt

Fernunterricht bremste Virus bisher nicht

Neue Daten des Gesundheitsministeriums lassen vermuten, dass Homeschooling weniger Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen hat als erhofft. Auch Kinderärzte zeigen sich skeptisch gegenüber positiven Folgen der Fernlehre. Derzeit wird über neue Schulschließungen auch für jüngere Kinder diskutiert. Die Front gegen einen solchen Bildungslockdown wird breiter.

Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) hatte vergangene Woche die Möglichkeit angedeutet, die CoV-Maßnahmen könnten verschärft werden. Ausschlaggebend soll das weitere Infektionsgeschehen sein. Am Donnerstag tagt erneut die Ampelkommission. Schon vorab macht sich die Sorge vor neuen Schulschließungen breit. Derzeit sind die Oberstufen im Distance-Learning, die Unterstufen haben Präsenzunterricht.

Die Umstellung auf Fernunterricht für die älteren Schülerinnen und Schüler dürfte die Virusverbreitung bisher nicht gebremst haben, wie Daten des Bildungsministeriums vermuten lassen. In Salzburg und Tirol sei nach der Umstellung der Oberstufen auf Fernunterricht der Anteil der 15- bis 19-Jährigen unter allen Covid-19-Fällen zwar zurückgegangen, allerdings weniger stark als der Anteil der Zehn- bis 14-Jährigen, die weiterhin Präsenzunterricht hatten.

Für die Aufstellung hat das Ministerium die Kalenderwoche 43, in der in Salzburg und Tirol die Oberstufen in Heimunterricht geschickt wurden, mit der darauffolgenden Herbstferienwoche verglichen. In diesem Zeitraum gab es in beiden Bundesländern einen deutlichen Anstieg der CoV-Positiven. Unter den Zehn- bis 14-Jährigen, die normalen Präsenzunterricht hatten, fiel er jedoch deutlich geringer aus als unter den 15- bis 19-Jährigen und blieb laut Ministerium insgesamt „deutlich unter dem Durchschnitt“.

Kinder weniger infektiös

„Es gibt derzeit keinen Hinweis, dass die Umstellung auf Distance-Learning etwas bringt“, sagte dazu auch Volker Strenger von der Grazer Uniklinik für Kinder und Jugendheilkunde. „Kontakte von Kindern und Jugendlichen finden ja nicht nur in den Schulen statt.“ Bei Freizeitkontakten gebe es allerdings im Gegensatz zu den Schulen keinen kontrollierten Ablauf, der noch eher vor Ansteckungen schütze. Der Leiter der Arbeitsgruppe Infektiologie der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ) verwies in diesem Zusammenhang auch auf Daten aus Kärnten, wo in Zusammenhang mit den Schulferien die Zahl der Freizeitcluster unter Jugendlichen gestiegen sei.

Debatte über CoV-Schutz in Schulen

Die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde will verhindern, dass die Schulen im Zuge des zweiten Lockdowns geschlossen werden. Sie gibt Anstöße, wie Ansteckungen in der Schule besser verhindert werden können.

Bei einem Onlinepressegespräch der ÖGKJ betonte Strenger am Dienstag erneut, dass sich Kinder und Jugendliche deutlich seltener mit dem Coronavirus anstecken würden als Erwachsene – bei den unter 14-Jährigen liege die Wahrscheinlichkeit einer großen Metastudie zufolge bei 50 Prozent – und nicht nur deutlich seltener symptomatisch erkranken, sondern das Virus auch seltener und an weniger Personen weitergeben würden als Erwachsene.

Folgen der Schulschließungen

Schulschließungen hätten keine bewiesenen positiven Auswirkungen auf das allgemeine Infektionsgeschehen, so Strenger. Es gebe aber viele negative Auswirkungen auf die Bildung der Kinder, auf deren psychosoziale Gesundheit, auf ihre Familien und die gesamte Gesellschaft und Wirtschaft. Dazu komme das Problem, dass geschlossene Schulen und Kindergärten auch dazu führen würden, dass ein Teil der Eltern für die Kinderbetreuung auf Großeltern zurückgreifen müsse und damit die Infektionsgefahr für diese Gruppe steige.

Wenn wegen Schulschließungen Gesundheitspersonal daheim bleiben müsse, könnte das sogar dazu führen, dass die Mortalität steige, so ÖGKJ-Generalsekretär Reinhold Kerbl vom LKH Hochsteiermark/Leoben. Er betonte, dass sich mittlerweile eine „Allianz der Besorgten“ gebildet habe, die die Schließung von Schulen im Kampf gegen das Coronavirus als letzte Möglichkeit betrachte. „Das ist ein Experiment, für das es keine wissenschaftliche Grundlage gibt“, sagte er.

Warnung vor „enormen Kosten“ von Schulschließungen

Am Dienstag wies auch noch das Institut für Höhere Studien (IHS) auf die „enormen“ volkswirtschaftlichen Kosten von Schulschließungen hin. Auch das Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) hatte die hohen Kosten bereits thematisiert. Laut Martin Kocher und Mario Steiner vom IHS droht ein durchschnittlicher jährlicher Erwerbseinkommensverlust aller betroffenen Schüler von 100 bis 200 Euro pro Monat eines Schul-Lockdowns. Dazu kommt durch Betreuungsverpflichtungen der Eltern noch einmal ein erheblicher Produktivitätsverlust.

Die kurz-, mittel- und langfristigen Kosten von Schulschließungen zur Eindämmung der Pandemie seien vielschichtig, betonen die Ökonomen: Die Umstellung auf Fernunterricht führe durch weniger aufgewendete Zeit für schulische Aktivitäten zu „massiv negativen Effekten auf den Kompetenz- und Wissenserwerb“, und zwar vor allem bei jüngeren und benachteiligten Schülern, deren Eltern sie nicht so gut beim Lernen unterstützen können. Dazu komme gerade bei Kindern aus benachteiligten Haushalten noch die höhere Wahrscheinlichkeit von Arbeitslosigkeit. Sie verwiesen auch auf die Verschärfung von sozialer Ungleichheit durch Schulschließungen.

Die ökonomischen Gesamtkosten der Schließung der Schulen im Frühjahr gehen laut Kocher und Steiner in die Milliarden, inklusive langfristiger Kosten in einen zweistelligen Milliardenbereich. Dabei seien hier die psychologischen Kosten noch nicht einberechnet.

Eltern wollen offene Schulen

Der Allianz gegen Schulschließungen gehören auch viele Eltern an. Der Dachverband der Elternvereine für die Pflichtschulen forderte, dass jene Schulen, die Hygienevorschriften einhalten können, alle Möglichkeiten des Präsenzunterrichts ausschöpfen sollen. Der Familienverband plädierte für eine Erhöhung der Mindestabstände etwa durch Nutzung zusätzlicher Räume. Beide forderten neben dem Offenlassen der Schulen außerdem Maßnahmen, um überfüllte Schulbusse zu vermeiden.

Eine aktuelle Umfrage im Auftrag des Bildungsministeriums zeigte zudem, dass die Mehrheit der Eltern gegen eine Schließung der Schulen ist. Wie das Ö1-Morgenjournal berichtete, sind zwei Drittel für das Offenhalten. Dabei, so Meinungsforscher Peter Hajek, machten sich Eltern durchaus Sorgen um die Gesundheit ihrer Kinder. Die Sorge bezüglich Nachteilen in der Bildung und einer möglichen Überforderung des Familienlebens überwiege aber, so Hajek.

Das Gros der befragten Eltern betonte zudem, dass ein Lockdown bis Jänner jedenfalls zu lang wäre und dass bei einem Wiederhochfahren die Schulen an erster Stelle stehen müssten – anders als im Frühjahr, als etwa Geschäfte und Gastronomie vorher an der Reihe waren.

Eine Gruppe von Eltern von AHS-Oberstufenschülern kündigte eine Klage gegen die Covid-19-Schutzmaßnahmenverordnung an. Sie ortet eine verfassungsrechtlich nicht gedeckte Bevorzugung von Religion gegenüber dem Recht ihrer Kinder auf Bildung, weil die Oberstufen ins Distance-Learning geschickt wurden, während Kirchen und Religionsgemeinschaften – auch die nicht gesetzlich anerkannten – vom Veranstaltungsverbot und den generellen Ausgangsbeschränkungen ausgenommen seien. Diese Woche werde ein Individualantrag gegen die Verordnung beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) eingebracht, hieß es in einer Aussendung der Initiative Religion ist Privatsache.

Unterschiedliche Positionen in Regierung

Dem Vernehmen nach wollte die ÖVP, allen voran Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), schon mit dem Beginn des Teil-Lockdowns alle Schulen schließen. ÖVP-Wissenschaftsminister Heinz Faßmann, Anschober und einige Bundesländer appellierten aber dafür, diese offen zu halten. Die Maßnahmen sollten erst einmal nach zwei Wochen evaluiert werden, so Faßmann.

An dieser Front scheint sich zuletzt auch wenig geändert zu haben: Die oberösterreichische Soziallandesrätin Birgit Gerstorfer (SPÖ) plädierte am Montag im Ö1-Mittagsjournal, die Schulen auf jeden Fall geöffnet zu halten, ähnlich äußerte sich dort Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP). Die Bildungsreferenten der Länder pochten ebenfalls auf offene Pflichtschulen. Der Kärntner Landeshauptmann Peter Kaiser (SPÖ) betonte, Schaden und Nutzen müssten abgewogen werden – mehr dazu in kaernten.ORF.at. Auch der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil sprach sich am Dienstag erneut gegen Schulschließungen aus. „Nur rund fünf Prozent der derzeitigen Corona-Cluster sind auf die Schulen zurückzuführen“, sagte er. Auch lasse die Betreuungssituation keine Schließungen zu.