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CoV-Zahlen

Durchs Dickicht des Datendschungels

Auch nach mehr als einem halben Jahr Pandemie ist es schwer, das Dickicht der Coronavirus-Statistiken zu durchschauen. Mit der täglichen Fallzahlmeldung von Innen- und Gesundheitsministerium einerseits und dem AGES-Dashboard andererseits gibt es weiterhin zwei unterschiedliche Datenquellen – und beide haben ihre Tücken. Der Ruf nach einer soliden Zahlenbasis wird lauter, denn ohne diese lassen sich kaum Prognosen errechnen – und auch der Politik fehlt eigentlich die Entscheidungsgrundlage.

Per Aussendung geben Innen- und Sozialministerium täglich die neuen Fallzahlen bekannt – für die meisten Medien bilden diese die Grundlage für ihre Coronovirus-Statistiken. Zusammengetragen werden sie in einer morgendlichen Telefonkonferenz, bei der die Bundesländer ihre Daten an den Krisenstab in Wien übermitteln. Die Zahlen haben aber zumindest zwei Unschärfen: Zum Teil sind die Daten nicht bereinigt, so finden sich etwa auch Doppelmeldungen noch in den Zahlen.

Wesentlicher aber wiegt, dass die Fallzahlen zwar frisch gemeldet werden, die Diagnose- bzw. Labordaten aber teilweise schon einige Tage zurückliegen können. Vor allem dann, wenn wie in dieser Woche wegen IT-Problemen mehrere tausend Fälle „nachgemeldet“ werden, verzerrt das die Epidemiekurve stark.

Genauere Epidemiekurve durch Datumszuordnung

Genau das berücksichtigt das Dashboard der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES), die diese Aufgabe Anfang Oktober vom Gesundheitsministerium übernommen hat. Laborbestätigte Fälle werden nicht zum Meldezeitpunkt dargestellt, sondern zum Diagnosedatum. In einer neuen Darstellung auf ORF.at wird nun auch täglich transparent gemacht, welchen Tagen die neu gemeldeten Fälle zugeordnet werden.

Das ermöglicht ein viel genaueres Bild in der Epidemiekurve, macht die gesamte Sache aber nicht unbedingt einfacher zu verstehen: Die Fallzahlen für einen Tag bleiben dadurch nämlich nicht fix, sondern verändern sich auch noch in den folgenden Tagen. Und das beeinflusst auch die Berechnungen, die auf diesen Daten basieren.

7-Tage-Inzidenz weniger schwankungsanfällig

Dazu zählt vor allem die 7-Tage-Inzidenz, also die Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus in der abgelaufenen Woche hochgerechnet auf je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Der Wert hat gegenüber der täglichen Fallzahl weit mehr Aussagekraft: Durch den siebentägigen Durchrechnungszeitraum werden statistische Ausreißer „durchgemittelt“, die Zuordnung zum Diagnosedatum bei Nachmeldungen verändert den Wert weniger dramatisch, und vor allem wird eine Vergleichbarkeit von Regionen gewährleistet. So ergibt sich etwa ein differenziertes Bild vom Infektionsgeschehen in den Bundesländern. Dennoch: Auch die 7-Tage-Inzidenz kann sich durch Nachmeldungen rückwirkend verändern, was vor allem einen aktuellen Tagesvergleich schwierig macht.

Enormer Rückstau bei Meldung von Genesenen

Mehr als ein Schönheitsfehler der AGES-Daten ist allerdings ein mittlerweile enormer Rückstau bei den Genesenen. Die Differenz zwischen den Ministerien- und AGES-Zahlen beträgt mittlerweile mehr als 22.000, das heißt, im Dashboard werden mehr als 20.000 Menschen noch als aktive Fälle geführt, obwohl sie bereits genesen sind. Allein 13.000 davon betreffen Wien. Auch bei Hospitalisierungen und Verstorbenen klafft mittlerweile eine Lücke zu den Ministeriumszahlen. Unterschiede ergeben sich zudem durch unterschiedliche Abfragezeitpunkte.

Prognosen immer schwieriger

Besorgt über die Datenlage zeigten sich am Donnerstag Wissenschaftler. „Seitdem es am 20. Oktober zu einem plötzlichen starken Anstieg der Zahl der positiven Tests gekommen ist, sehen wir immer häufiger große Nachmeldungen“, sagt der Komplexitätsforscher Stefan Thurner vom Complexity Science Hub Vienna (CSH). Prognosemodelle seien ob „drastisch ungenauer Daten“ immer schwieriger zu erstellen – mehr dazu in science.ORF.at.

In einem „Policy Brief“ finden die Forscherinnen und Forscher des CSH Vienna deutliche Worte: „Mit der derzeit unzureichenden Datenlage auf Bundesländerebene riskiert man, das Werkzeug der Modellierung zu verlieren. Das bedeutet, dass wir dem Infektionsgeschehen quasi im Blindflug ausgesetzt sind und selbst die Möglichkeit für Kurzfristprognosen verlieren, die für die Entscheidungsfindungen in verschiedenen Institutionen des Landes verwendet werden“, heißt es da.

Ähnlich äußerte sich Simulationsforscher Niki Popper von der TU Wien in der ZIB. Mit der Datenlage sei schwer einzuschätzen, wann der „Peak“, der eigentlich für diese Tage erwartet worden war, erreicht sei.

Datenprobleme bei Coronavirus-Zahlen

Niki Popper, Mitglied im Prognoseteam des Gesundheitsministeriums, erläutert, was die Datenprobleme bei den aktuellen Coronavirus-Zahlen bedeuten und was das für die weiteren Entscheidungen der Regierung bedeutet.

Grundlage für politische Entscheidungen

Angesichts der unsicheren Daten und der damit verbundenen schwierigen Prognose für den weiteren Verlauf kommt auch die Politik in die Bredouille – und das in einer besonders „heißen“ Phase. Für diese Tage wird erwartet, dass die Regierung eine Bewertung der Auswirkungen des Teil-Lockdowns vornimmt und gegebenenfalls weitere Maßnahmen beschließt. Und dafür wären eigentlich valide Zahlen als Entscheidungsgrundlage gefragt. Von Schulschließungen war in den vergangenen Tagen – trotz massiven Widerstands von vielen Seiten – immer wieder die Rede. Möglicherweise stehen allerdings auch noch strengere Regelungen, nicht nur für Schulen, an.

Kritik an EMS

Die Probleme mit den Coronavirus-Zahlen sorgen schon längst auch politisch für Streit. Aus Kärnten wurde diese Woche schon Kritik am Epidemiologischen Meldesystem des Bundes (EMS) geäußert, in dem die Daten gesammelt werden. Labore könnten nur einige wenige Fälle pro Stunde eingeben, hieß es. Auch aus anderen Ländern hieß es, das System laufe instabil und stürze immer wieder ab. Am Mittwoch legte der Wiener Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ) nach und fordert Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) auf, „seine Datenbank in Ordnung zu bringen“ – mehr dazu in wien.ORF.at

EDV-Probleme bei CoV-Meldung

Seit dem Wochenende hat es EDV-Probleme gegeben bei der Meldung von CoV-Fällen in die EMS-Datenbank, in die alle meldepflichtigen Krankheiten eingespeist werden. Aufgrund dessen konnten Labore nur langsam Daten eingeben, was nun dazu führt, dass in den letzten Tagen deutlich mehr Fälle in das System eingetragen werden.

Anschober sagte am Donnerstag, das EMS sei zwar „sehr weit entwickelt“ und im Gegensatz zu anderen Ländern liefere dieses System in Österreich tagesaktuelle Daten. Allerdings sei die Datenbank bisher nur auf einige tausend Fälle im Jahr ausgelegt gewesen. Man habe die Probleme mit externer Unterstützung bearbeiten lassen, „damit es zu keiner Verzögerung bei der Eingabe in das EMS mehr kommt“.

Teststrategie beeinflusst Statistik

Ganz abgesehen von der Datenproblematik bleibt freilich auch noch die grundlegende Frage, wie genau das Infektionsgeschehen abgebildet werden kann. Prinzipiell gilt: Je mehr getestet wird, desto mehr Fälle gibt es – insofern sind die Fallzahlen jetzt auch kaum mit der ersten Welle im Frühjahr vergleichbar, in der weit weniger getestet wurde.

Auch unterschiedliche Teststrategien machen sich bemerkbar: In Oberösterreich ist man zuletzt darauf umgeschwenkt, direkte Kontaktpersonen (K1), die ohnehin in Quarantäne müssen, nicht mehr zu testen, was zweifellos Auswirkungen auf die Statistik hat. Beim Testen von Kindern gab es schon im Frühjahr unterschiedliche Herangehensweisen in den Ländern.

Antigen-Tests bisher nicht direkt erfasst

Und bisher bilden die Statistiken im Wesentlichen nur die Ergebnisse von PCR-Tests ab, die wiederum, salopp gesagt, zu genau sind und auch positiv ausfallen können, wenn eine Person nicht mehr infektiös ist. Bei den schnellen Antigen-Tests war in der Teststrategie bisher vorgesehen, dass in den meisten Fällen bei positiven Befunden ein PCR-Test zur Bestätigung zu veranlassen sei. Das könnte ein Grund sein, warum der Anteil positiver Tests in Prozent, die Positivitätsrate, in den vergangenen Wochen so stark gestiegen ist. Am Donnerstag hieß es nun in einem Erlass des Gesundheitsministeriums, dass die Bestätigung durch einen PCR-Test bei symptomatischen Personen entfallen könne, wenn die „Erfassung des Antigen-Testergebnisses im EMS sichergestellt ist“.