Ein Kellner serviert in einem schweizer Restaurant mit Maske
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Trotz akuter CoV-Lage

Schweiz bleibt auf Schlingerkurs

Die pandemische Lage im Nachbarland Schweiz hat sich in den vergangenen Wochen als ähnlich akut wie in Österreich erwiesen. Die öffentlichen Einschränkungen sind aber viel geringer, Schulen und Lokale haben weiter geöffnet. Die CoV-Taskforce empfiehlt dem Bundesrat nun eine Nachschärfung. Doch weder ist das Gremium einig über die Dringlichkeit, noch zeigt sich die Regierung derzeit willig zu handeln.

Alle der 876 Intensivbetten sind „aktuell praktisch vollständig belegt“, hieß es am Dienstag in einer Aussendung der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI). Eine Überlastung habe bisher nur vor allem deswegen verhindert werden können, da dringende Eingriffe verschoben und mehrere kritisch kranke Patientinnen und Patienten in den vergangenen Tagen in andere Kantone oder sogar Sprachregionen verlegt worden seien.

242 Reservebetten seien noch frei, sagte Andreas Stettbacher, Delegierter des Schweizer Bundesrates für den Koordinierten Sanitätsdienst (KSD), am Dienstag. „Diese Reservebetten können ausgeschöpft werden – und diese Reserve kann auch noch einmal auf 1.400 Betten ausgebaut werden“, so Stettbacher. Rund 60 Prozent der Patienten auf den Intensivstationen seien Covid-19-Patienten. Die Überweisungen auf die Intensivstationen seien weiterhin steigend.

Reproduktionszahl soll gesenkt werden

Um das Gesundheitssystem zu schonen, müsse das Ziel sein, die täglichen Neuansteckungen alle zwei Wochen zu halbieren, hieß es bereits in einem Ende der Vorwoche veröffentlichten Lagebericht der Swiss National COVID-19 Science Task Force. Dazu müsse die Reproduktionszahl auf weniger als 0,8 gesenkt werden. „Dies würde die Zahl der neuen Fälle innerhalb von acht Wochen auf unter 500 pro Tag bringen. (…) Das bedeutet, dass wir erreichen müssen, dass zehn Infizierte im Schnitt nicht mehr als sieben bis acht Menschen anstecken.“

Rund 275.000 Fälle

Seit Beginn der Pandemie gab es in der Schweiz mit insgesamt 274.534 laborbestätigten Fällen etwas mehr Infektionen als im vergleichbaren Österreich. Bei der Zahl der Todesopfer im Zusammenhang mit Covid-19 zählt die Eidgenossenschaft mit 3.300 deutlich mehr als Österreich mit rund 1.800.

„Eine Reproduktionszahl von 0,91, die der jüngsten Schätzung entspricht, würde die Zahl der neuen Fälle in 38 Tagen nur halbieren. Doch eine Halbierung der Zahlen alle 38 Tage würde es der Schweiz nicht erlauben, eine sicherere Ausgangslage für das weitere Management der Epidemie zu schaffen. Konkret würden wir bei diesem Szenario fünf Monate brauchen, um die Zahl der Neuinfektionen auf unter 500 pro Tag zu senken. Dies veranschaulicht den enormen Gewinn, den jede weitere Verringerung der Übertragung bewirken würde.“

Kein Hinweis auf „nachhaltigen Rückgang“

Zwar würden die Indikatoren derzeit auf eine Stabilisierung der Epidemie hindeuten: „Nachdem sich die Zahl der bestätigten Fälle und Krankenhausaufenthalte Anfang Oktober alle sieben Tage verdoppelt hatte, beginnt sie sich nun zu stabilisieren oder geht langsam zurück.“ Auf einen „signifikanten und nachhaltigen Rückgang“ weise aber nichts hin – trotz der verstärkten Maßnahmen, die der Schweizer Bundesrat am 28. Oktober erlassen hatte.

Verglichen mit anderen Ländern, auch mit dem Nachbarland Österreich, nehmen sich die Maßnahmen aber bescheiden aus. Und sie kamen auch spät: Während des gesamten ersten Lockdowns im Frühjahr war von einer Maskenpflicht keine Rede. Erst Anfang Juli führte die Regierung diese im öffentlichen Verkehr ein. Und wieder zwei Monate vergingen, bis die Regierung nachschärfte und auch in Geschäften und Fußgängerzonen das obligatorische Tragen eines Mund-und-Nasen-Schutzes festschrieb.

Menschen in einer Straße in Genf
Reuters/Denis Balibouse
Erst seit September sind in Schweizer Städten, wie hier in Genf, vermehrt Menschen mit Masken zu sehen

„Keine Garantie, dass dieser Weg funktioniert“

Anfang September, als sich schon Anzeichen für das Heranrollen einer zweiten Welle mehrten, entschied die Regierung gegen die ausdrückliche Empfehlung der CoV-Taskforce, das seit einem halben Jahr bestehende Verbot von Großveranstaltungen mit über 1.000 Personen „unter strengen Auflagen per 1. Oktober 2020“ wieder aufzuheben. Am 28. Oktober ruderte der Bundesrat zurück und setzte die Obergrenze auf 50 Personen fest. Gesundheitsminister Alain Berset nannte diesen Zickzackkurs einen „Mittelweg“, wie der Schweiz-Korrespondent der „Stuttgarter Zeitung“ am Wochenende schrieb. „Wir haben keine Garantie, dass dieser Weg funktioniert“, räumte Berset ein.

Seit 29. Oktober müssen auch Diskotheken und Clubs geschlossen bleiben, nicht aber Bars und Restaurants – hier gilt lediglich eine Sperrstunde von 23.00 bis 6.00 Uhr. Privat dürfen sich nur noch maximal zehn Personen treffen, an sportlichen und kulturellen Aktivitäten nicht mehr als 15 Personen teilnehmen. Sporthallen, Theater, Museen und Konzertlokale sind weiter geöffnet. Offen sind nach wie vor auch die Schulen, einzig Universitäten und Fachhochschulen wurden wieder auf Fernunterricht umgestellt. Größere Einschränkungen beziehungsweise Lockdowns gibt es in einzelnen Kantonen.

Taskforce ruft nach Nachschärfungen

Der CoV-Taskforce ist das zu wenig, wie sie in ihrem jüngsten Lagebericht unmissverständlich festhielt: „Abzuwarten, ob die bestehenden Maßnahmen ihre volle Wirkung tatsächlich entwickeln, würde zum jetzigen Zeitpunkt nur die möglichen Risiken in Bezug auf die physische und psychische Gesundheit, den Verlust von Menschenleben sowie die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen erhöhen.“

Zwei Personen reden mit einem Krankenhausmitarbeiter im Spital von La-Chaux-de-Fonds in der Schweiz.
APA/AFP/Fabrice Coffrini
DIe Intensivbettenkapazitäten seien bereits vollständig ausgelastet, so die Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin

Gemäß dem Bericht empfiehlt die Taskforce landesweit die sofortige Schließung von Bars, Restaurants, Sporthallen, Museen sowie ein Verbot für Konzerte. Zudem sollten Zusammenkünfte auf maximal zwei Haushalte beschränkt werden. Der Anteil des Homeoffice müsste deutlich erhöht werden. Auch bei den Schulen sehen die Experten und Expertinnen Handlungsbedarf: „Es wird erwogen, die nachobligatorische Bildung vollständig ins Internet zu verlegen, ausgenommen dort, wo die praktische Ausbildung dies unmöglich macht.“ Die Pflichtschulen sollten vorerst offen halten – ausgenommen, es sollten sich „alle genannten Maßnahmen als unzureichend dafür erweisen, die Epidemie einzudämmen“.

Debatte über Dringlichkeit neuer Maßnahmen

Doch selbst die Taskforce zeigt sich in diesen Tagen nicht geeint, wie der Schweizer „Tagesanzeiger“ berichtete. Das Ziel, den Reproduktionswert zu senken, stehe zwar außer Zweifel, nicht aber die Dringlichkeit, sofort schärfere Maßnahmen zu verhängen. In dem Gremium herrsche Verwirrung, der Lagereport sei anders formuliert, als man das zuvor besprochen habe. „Vereinbart gewesen sei, dass die Taskforce die neuen Maßnahmen nur für den Fall empfehle, wenn das Zwischenziel – eine Halbierung der Fallzahlen in ein bis zwei Wochen – nicht erreicht werde“, wurden Mitglieder zitiert.

Taskforce-Präsident Martin Ackermann bestätigte der „Neuen Zürcher Zeitung“ („NZZ“), dass zum Tempo unterschiedliche Ansichten in seinem Team bestünden: Die einen würden auf temporär verschärfte Maßnahmen drängen, um rasch eine Verbesserung der Lage zu erreichen, andere seien der Meinung, dass man noch zuwarten könne, bis klarer sei, wie sich die Fallzahlen entwickeln würden. Es sei, so Ackermann, eine Stärke der Taskforce, dass solche Fragen intensiv diskutiert würden. Sie bilde auch verschiedene Perspektiven in der Gesellschaft und Wirtschaft ab.

„Politisches Totalversagen“

So freundlich bewerten das freilich nicht alle: Der Berner Epidemiologe Christian Althaus, selbst Mitglied der CoV-Taskforce, beklagte „das politische Totalversagen der Schweiz“ – keine Verantwortlichkeiten seien zu sehen. Die Regierung wartet indessen weiter ab, wie eine Sprecherin des Bundesamts für Gesundheit am Wochenende sagte: „Wir wurden über das Papier der Taskforce vor der Publikation informiert. Der Bundesrat hat nach seiner letzten Sitzung am Mittwoch festgehalten, dass im Moment keine weiteren Maßnahmen geplant sind.“