Cartoon aus dem Satireheft Punch zeigt einen Mann, der sich die Nase zuhält
Public Domain
Forschungsprojekt

Europas Geschichte durch die Nase

Sehen, hören und manchmal tasten – auf diese Sinne sind wir im Wesentlichen reduziert, wenn wir in die Vergangenheit eintauchen. Dabei ist es der Geruchssinn, der oft am direktesten unsere Emotionen anspricht und Erinnerungen weckt. Nun versucht ein EU-Forschungsprojekt erstmals, Europas Geschichte durch die Nase erfahrbar zu machen.

Das Projekt „Odeuropa“ wird in großangelegtem Stil historisches Material zu Düften und Gerüchen analysieren – und dann „wiederbeleben“. In dem interdisziplinären Projekt – unter den Forschenden sind Historiker, Kunsthistorikerinnen, KI-Fachleute – sollen für die Geschichte vom 16. Jahrhundert bis heute zentrale Gerüche identifiziert werden.

In dem dreijährigen Projekt, das vom EU-Wissenschaftsprogramm „Horizon“ mit 2,8 Millionen Euro gefördert wird, müssen zunächst Algorithmen programmiert werden, um Zehntausende historische Texte in sieben verschiedenen Sprachen auf Beschreibungen von Gerüchen und den Kontext zu filtern. Auch relevante Gemälde und Zeichnungen sollen automatisiert auf entsprechende Hinweise geprüft und analysiert werden.

Litografie zeigt fünf Personen, die einen der fünf Sinne darstellen
Wellcome Collection
Die fünf Sinne in einer Darstellung. Auffällig: Nur der Geruchssinn wird von einer Frau symbolisiert.

Enzyklopädie und Rekonstruktion

Ziel ist unter anderem eine Onlineenzyklopädie europäischer Gerüche und Verweise darauf, welche Gefühle und Orte etwa damit in der Vergangenheit assoziiert wurden. Zusätzlich wird eine Auswahl dieser Gerüche nach den vorhandenen Beschreibungen „nachgebaut“ werden. Zusammen mit Museen, Künstlerinnen und Parfumherstellern sollen diese Gerüche in Ausstellungen einbezogen werden und so das Publikum die Vergangenheit auch durch die Nase erfahrbar machen.

„Odeuropa“ will laut Aussendung der Projektleiter zeigen, wie wichtig es ist, „unseren Geruchssinn kritisch einzusetzen“. Außerdem werde so erfahrbar, dass Gerüche ein wichtiges Mittel sind, die Vergangenheit und das eigene kulturelle Erbe zu verstehen.

Gemälde einer anonymen Person, die an ihren Fingern riecht
Rijksmuseum Amsterdam
Eine Darstellung des Geruchssinns, ca. 1680

Vom exotischen Duft zum Gestank

Laut dem britischen Historiker William Tullett, der sich dem Tabak widmen wird, wird das Projekt auch die sich ändernde Wahrnehmung von Gerüchen im Laufe der Geschichte untersuchen. Das zeige sich etwa beim Tabak, so Tullett von der Anglia-Ruskin-Universität gegenüber der britischen Tageszeitung „Guardian“.

Tabak sei, als er im 16. Jahrhundert erstmals nach Europa kam, eine Sensation und ein ungewöhnlicher Duft gewesen. Bereits im 18. Jahrhundert habe es viele Beschwerden darüber gegeben, dass im Theater geraucht wurde. Und heute verschwinde der Geruch aufgrund der Rauchverbote zunehmend aus unserem Alltag.

Sara Tonelli von der Fondazione Bruno Kessler wiederum betont in einem Präsentationsvideo von „Odeuropa“, es würden auch industrielle Gerüche analysiert werden. Vor allem in den Texten italienischer Futuristen werde es dazu viele Erwähnungen geben, etwa zum Geruch von Motoröl. Die Gerüche industrieller Produktion seien von den Futuristen positiv dargestellt worden. Mit der Klimakrise ist mittlerweile auch hier ein deutlicher Wandel in der Bewertung hin zum Gestank eingetreten.

Standards für olfaktorische Geschichtsschreibung

Museen arbeiten mittlerweile oft mit den Möglichkeiten von Präsentationen, die möglichst viele Sinne einbeziehen. Nicht zuletzt ist es für blinde Menschen eine wichtige Möglichkeit, Geschichte zu erleben. Allerdings fehlen bisher weitgehend wissenschaftliche Standards, Verfahren und Daten, um die Rolle von Gerüchen und Düften auszumachen und darzustellen. Diese Lücke will „Odeuropa“ – eine Zusammensetzung aus dem lateinischen Wort für Geruch, odor, und Europa – schließen.

Zunutze machen will sich das internationale Forschungsteam dabei, dass zahlreiche europäische Archive und Bibliotheken große Fortschritte bei der Digitalisierung ihrer Bestände gemacht haben. Mit entsprechender Software können diese somit durchforstet werden. Das Forschungsteam versteht sich selbst als Pionier in diesem Bereich und möchte Standards und eine Art Anleitung für künftige historische Projekte dieser Art schaffen.