Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß vor dem alliierten Militärtribunal
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NS-Kriegsverbrechertribunal

Die Idee hinter Nürnberg – und ihre Grenzen

„Das Privileg, eine Gerichtsverhandlung über Verbrechen gegen den Frieden der Welt zu eröffnen, wie sie hier zum ersten Mal in der Geschichte abgehalten wird, legt eine ernste Verantwortung auf.“ Mit diesen Worten eröffnete der US-Chefankläger Robert Jackson am 20. November 1945 den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess. Das Verfahren gegen führende Vertreter des NS-Regimes gilt in vielerlei Hinsicht als richtungsweisend – die Umsetzung der dahinter liegenden Idee stößt aber weiter auf Grenzen.

Außer Frage steht die historische Dimension des offiziell als Internationales Militärtribunal (IMT) bezeichneten Verfahrens als Grundlage für ein modernes Völkerstrafrecht. So zielte das von den vier Alliierten in wenigen Monaten aus dem Boden gestampfte Regelwerk primär zwar auf die Verbrechen der Nationalsozialisten – der Nürnberger Leitgedanke „war aber zeitgleich schon als universales Konzept angelegt“, wie es etwa bei der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) dazu heißt.

Das stellte zum Prozessauftakt auch Chefankläger Jackson unmissverständlich in die Auslage. Man dürfe „niemals vergessen, dass nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden“, sagte Jackson in seiner vielbeachteten Eröffnungsrede. „Wenn es von Nutzen sein soll“, dann müsse das zunächst auf deutsche Angreifer angewandte Gesetz „den Angriff jeder anderen Nation verdammen, nicht ausgenommen die, die jetzt hier zu Gericht sitzen“.

Rede von Chefankläger Jackson

US-Chefankläger Robert Jackson hat am 20. November 1945 mit einer eindringlichen Rede den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess eröffnet. Auf der Anklagebank saßen 21 führende Vertreter des NS-Regimes, darunter Hermann Göring, Rudolf Heß, Ernst Kaltenbrunner, Albert Speer und Baldur von Schirach.

„Zeichen der Zeit erkannt“

Erklärtes Ziel des von US-Präsident Harry S. Truman am 2. Mai 1945 und damit wenige Tage vor der Kapitulation Nazi-Deutschlands zum Hauptankläger ernannten Juristen war es, die Idee des Friedens durch Recht auf eine neue Grundlage zu stellen. „Dass vier große Nationen, erfüllt von ihrem Siege und schmerzlich gepeinigt von dem geschehenen Unrecht, nicht Rache üben, sondern ihre gefangenen Feinde freiwillig dem Richtspruch des Gesetzes übergeben“, bezeichnete Jackson dabei als „eines der bedeutsamsten Zugeständnisse, das die Macht jemals der Vernunft eingeräumt hat“.

Jackson hat den richtigen Ton gefunden und „auch klar gemacht, dass es hier eben ganz und gar nicht um Siegerjustiz geht“, sagt dazu die Historikerin Annette Weinke von der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Gespräch mit ORF.at. Bereits die Eröffnungsrede war der Historikerin zufolge somit ein Schlüsselmoment für das gesamte Verfahren. Jackson habe aber schon in der Vorbereitungsphase „die Zeichen der Zeit erkannt“ und sich mit seiner Vision einer globalen Neuordnung durchgesetzt.

Die Richter des Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß, Henri Donnedieu de Vabres, Francis J. Biddle, Geoffrey Lawrence und Iona Nikitchenko
AP/Henry Burroughs
Die IMT-Richter Henri Donnedieu de Vabres (Frankreich), Francis J. Biddle (USA), Geoffrey Lawrence (Großbritannien) und Iona Nikitchenko (Sowjetunion) (v. l. n. r.)

„Jahrhundertprozess“

Es kam somit nicht zu dem Standgericht, das dem britischen Premier Winston Churchill lange vorschwebte, und auch nicht zu dem von Sowjet-Diktator Josef Stalin eingeforderten Schauprozess mit Hunderten Angeklagten, sondern zu einem gemeinsamen strafrechtlichen Vorgehen von vier alliierten Nationen, mit stark voneinander abweichenden politischen und rechtlichen Systemen. Es sei ein „Jahrhundertprozess“ gewesen, und dieser beweise „nichts Geringeres, als die prinzipielle Konsensfähigkeit unseres modernen, weltweiten, diversen Mächtesystems“, wie der Leiter der Gedenkinstitution Memorium Nürnberger Prozesse, Thomas Eser, in der zum 75. Jahrestag herausgegebenen Festschrift „That four great nations“ anmerkt.

Viviane Dittric, stellvertretende Direktorin der Internationalen Akademie Nürnberger Prinzipien, erinnert in dem Sammelband an die mit dem 75. Jahrestag gefeierte „Geburtsstunde eines neuen Völkerrechtsverständnisses“. Zum ersten Mal seien sich Staaten einig gewesen, dass es Verbrechen gibt, „die eine so schwere Schuld darstellen, dass sie ein Eingreifen der internationalen Staatengemeinschaft in die nationalen Geschehnisse eine Staates nicht nur rechtfertigen, sondern geradezu erzwingen“.

In Nürnberg wurde dann gleich in mehrfacher Hinsicht juristisches Neuland betreten. Neben der Neuartigkeit des eigens geschaffenen Gerichtshofs und der erstmals auf die individuelle Verantwortung des Einzelnen zielenden Rechtsnormen gilt das auch für die Definition der Anklagepunkte. Von diesen war zuvor lediglich das Kriegsverbrechen ein durch die Genfer Konvention klar definierter Rechtsbruch. Die im Vorfeld ausgemachten 24 „Hauptkriegsverbrecher“ waren vom IMT dann auch wegen des Verbrechens gegen Frieden, des Tatbestands der Verschwörung und des Verbrechens gegen die Menschlichkeit angeklagt.

Die Hauptangeklagten des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses Hermann Göring, Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop, Wilhelm Keitel, Ernst Kaltenbrunner, Alfred Rosenberg, Hans Frank, Wilhelm Frick, Julius Streicher, Walter Funk, Karl Doenitz, Erich Räder, Baldur von Shirach, Fritz Sauckel, Alfred Jodl, Franz von Papen, Artur Seyss-Inquart, Albert Speer, Constantin von Neurath und Hans Fritsche
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Von insgesamt 24 Angeklagten saßen ab dem 20. November 1945 21 auf der Nürnberger Anklagebank

Auf der Anklagebank saßen dann 21 hochrangige NS-Funktionäre aus Politik, Partei, Wirtschaft und Militär, darunter Hermann Göring, Rudolf Heß, Hans Frank, Karl Dönitz, Albert Speer und Baldur von Schirach. Gegen Martin Bormann wurde „in Abwesenheit“ verhandelt. Das Verfahren gegen Gustav Krupp wurde wegen gesundheitlichen Gründen ausgesetzt. Robert Ley entzog sich durch Suizid der Verantwortung. Dasselbe gilt für die drei großen Abwesenden auf der Angeklagtenliste von Nürnberg: Joseph Goebbels, Heinrich Himmler und Adolf Hitler.

„Inter-Alliiertes“ vs. internationales Verfahren

Laut dem kanadischen Völkerechtsexperten William Schabas gibt es seit Nürnberg „den Anspruch, die Verantwortlichen am Ende eines gewaltsamen Konflikts nicht mehr einfach so hinzurichten oder sie ins Exil zu schicken. Man macht ihnen den Prozess.“ Es sei aber wohl etwas viel verlangt, „wenn es den Weltfrieden für immer bringen soll“, wie Schabas im Interview mit dem „Tagesspiegel“ weiter ausführt. Ganz in diesem Sinn merkt die Historikerin Weinke an, dass man in Nürnberg alles – respektive „fast alles“ – getan habe, was unter den damals gegebenen Bedingungen eben möglich gewesen sei.

Buchhinweise

Memorium Nürnberger Prozesse: 75 Jahre Nürnberger Prozess, „That four great nations“. Imhof Verlag, 120 Seiten, 13,40 Euro.

Annette Weinke: Die Nürnberger Prozesse. C. H. Beck, 128 Seiten, 10,30 Euro.

Trotz aller Bemühungen seien die Alliierten „natürlich auch weiterhin sehr weit voneinander entfernt“ gewesen. Weinke erinnert zudem an die Einschätzung namhafter Rechtswissenschaftler wie Hans Kelsen, wonach das auf einem „inter-alliierten Vertrag“ fußende Tribunal noch kein „echter internationaler Gerichtshof“ gewesen sei und letztlich auch nicht modellbildend sein könne.

Beanstanden könne man schließlich auch, dass etwa Opferorganisationen kaum beteiligt gewesen und kleinere europäische Staaten nur behelfsmäßig von den Sowjets und Franzosen noch ins Boot geholt worden seien. Das seien natürlich Ansprüche, die heute an ein internationales Gericht zu richten wären. Weinke kommt aber nicht nur zum Schluss, dass das Nürnberger Tribunal eben auch „eine Hilfskonstruktion, eine Kompromisslösung“, sondern in vielerlei Hinsicht vor allem auch wegweisend, sehr weitsichtig und etwa mit Blick auf die Einbindung der Presse und der Öffentlichkeitsarbeit durchaus modern war.

Kein „linearer Weg von Nürnberg nach Den Haag“

Auch die Vorbildwirkung des Nürnberger Tribunals für spätere Kriegsverbrechertribunalen wie jene zum ehemaligen Jugoslawien und zu Ruanda und in direkter Folge dann auch für den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (IStGH) stellt Weinke außer Frage. Aber: „Vonseiten der Historiker wird der lineare Weg von Nürnberg nach den Haag aus guten Gründen angezweifelt.“

Zusammenstellung von Bildern aus der Dokumentation des Nürnberger Prozesses
AP; AP//Eddie Worth
Ob in der Übersetzungs- oder in der Dokumentationsabteilung: Der Aufwand hinter dem IMT war enorm

Da es nach 1945 beispielsweise auch in Asien Kriegsverbrechertribunale gab, müsse man den in den ersten Nachkriegsjahren registrierten Aufschwung des Völkerrechts zum einen in eine umfassendere globale Entwicklung einbetten. Andererseits sei das Interesse an tiefgreifenden Völkerstrafrechtsnormen dann auch relativ rasch wieder abgeflaut. Und das lag nicht allein am aufkommenden Kalten Krieg, sondern wohl auch grundsätzlich an der Frage, inwieweit Staaten bereit sind, sich Normen zu unterwerfen, die ihre Souveränität tendenziell beschränken.

„Noch ganz viel Unerledigtes“

In den USA führte in den 1950er Jahren zudem auch der von der Bürgerrechtsbewegung aufgegriffene Genozidstrafbestand und damit eine innenpolitische Auseinandersetzung zu verschärftem Widerstand gegen das Völkerrecht. Und der bis heute verweigerte Beitritt der USA zum IStGH ist nach Weinkes Einschätzung weiter „politisch nicht durchsetzbar“. In Deutschland habe sich eine weit verbreitete Anti-Nürnberg-Haltung ohnehin erst mit der Auseinandersetzung mit dem Jugoslawien-Tribunal und somit ab den 90ern sukzessive geändert – die Anwendung des Völkerstrafrechts steht aber laut Weinke „ja noch aus“.

Luftaufnahme der Justizgebäude in Nürnberg im November 1945
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Luftaufnahme des Nürnberger Justizpalastes und des dahinterliegenden Gefängnisses

Wo die Grenzen der in Nürnberg hochgehaltenen Prinzipien liegen, wurde in Deutschland schon unmittelbar nach dem IMT und den zwölf Nachfolgeprozessen, die die USA dann im Alleingang durchführten, deutlich. So sei der Entnazifizierungsprozess „immer mehr kritisiert, bekämpft und unterlaufen“ worden. Zudem lobbyierte eine Gruppierung der traditionellen Elite, darunter Vertreter aus Diplomatie und Kirche sowie Nürnberger Strafverteidigern, bei der deutschen Regierung für Amnestie und eine Strafumwandlungspolitik.

Davon profitierte auch der zunächst zum Tode verurteilte Martin Sandberger. Der Fall des ranghohen SS-Mitglieds steht aber auch für einen Stimmungswandel: Nach dessen vorzeitiger Entlassung im Mai 1957 wurde laut Weinke klar, dass es noch „ganz viel Unerledigtes“ gab. Begleitet von Skandalen rund um geflüchtete NS-Verdächtige und der Rückkehrwelle deutscher Kriegsgefangener aus der Sowjetunion wurden dann neue Kriegsverbrecherverfahren angestoßen – allerdings auf Grundlage des bei Menschlichkeitsverbrechen nicht greifenden damaligen deutschen Strafrechts. Weinke spricht von einem Anti-Nürnberg-Reflex und dem Ergebnis, dass etwa Schreibtischtäter durch die Maschen schlüpften.