Die Freunde Paul Celan und Klaus Demus, 1955 auf der Waterloo Bridge in London
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Paul Celan

„Mördersprache“ als „Dichtersprache“

Vor hundert Jahren ist Paul Celan in der Bukowina geboren worden, vor 50 Jahren ist er in Paris gestorben. Sein Gedicht „Die Todesfuge“, das unter dem Eindruck des Holocaust entstand, begründete seinen immer noch anhaltenden Ruhm. Sein hermetisches lyrisches Werk führt oft an die Grenzen des Verstehenkönnens. Im Jubiläumsjahr beschäftigen sich mehrere Neuerscheinungen mit dem Leben und Werk Celans.

Am 23. November 1920 wurde Celan als Paul Antschel in Czernowitz in der Bukowina geboren. Bis 1918 gehörte die Stadt zum Habsburger-Reich, im vergangenen Jahrhundert wurde sie rumänisch, dann sowjetisch und schließlich ukrainisch. Das bürgerliche jüdische Milieu, aus dem der spätere Ausnahmedichter stammte, ist ein Schlüssel zum Verständnis von Celans hermetischem Werk. Daneben konzentrieren sich die Neuerscheinungen auf „Die Todesfuge“, sein schwieriges Verhältnis zur deutschen Sprache und Kultur und auf Erinnerungen von Zeitgenossen an den Dichter.

Komplexe Identität

In Czernowitz kam es zu einem „goldenen Zeitalter“ der jüdischen Emanzipation, die mit der Regentschaft Kaiser Franz Josephs einsetzte, der die Bukowina, zuvor Teil Galiziens, 1849 zum Kronland erhob.

Noch Celans Vater, Leo Antschel-Teitler, wurde mit Tora- und Talmudstudium streng orthodox erzogen, wählte aber im liberalen Klima vor dem Ersten Weltkrieg einen weltlichen Beruf als Bauingenieur. 1920 wurde die Bukowina Teil des Königreichs Rumänien. Damit begann die Rumänisierung des multikulturellen Czernowitz, aus „Antschel“ wurde „Ancel“.

Das jüdische Bürgertum, dem der spätere Dichter angehörte, definierte sich stark durch die Verwendung des Deutschen, eines „reinen Deutsch“, wie Thomas Sparr in seiner Studie „Todesfuge. Biographie eines Gedichts“ herausarbeitet. Besonders gegenüber dem Jiddischen, in Czernowitz die Sprache ärmerer Juden, wollte man sich abgrenzen.

Czernowitz als „lyrisches Treibhaus“

Das Deutsch, das Celans „Dichtersprache“ wurde, war stark an der habsburgerisch-österreichischen Literatur der Zeit geschult, Hugo von Hofmannsthal spielte für den Heranwachsenden ebenso eine Rolle wie Rainer Maria Rilke und Franz Kafka. Aber auch Friedrich Hölderlin, dessen er später in „Tübingen, Jänner“ gedachte, begleitete den Dichter seit seinen frühen Jahren.

Eine wesentliche Quelle zu Celans Jugend sind die Erinnerungen von Edith Silbermann, einer Freundin, deren Vater Gräzist und Germanist war und dessen umfangreiche Bibliothek dem jungen Dichter wesentliche Einflüsse vermittelte. In der österreichischen Mediathek ist ein Gespräch mit Silbermann aus dem Jahr 1983 zugänglich, in dem sie die Bedeutung der multikulturellen Bukowina für Celans Werk herausstreicht.

Rezitieren wie ein „Jedermann“-Star

Der Publizist Helmut Böttiger beschreibt in seinem Essay „Celans Zerrissenheit“, welcher Einfluss für Celans eigentümlichen Rezitationsstil maßgeblich war. Das Zentrum, auf das das Kulturleben in Czernowitz ausgerichtet war, war Wien, die zentrale Bühne das Burgtheater.

Alexander Moissi als „Jedermann“
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Alexander Moissi spielte den ersten „Jedermann“ 1920. Er hat Celans Art zu rezitieren stark beeinflusst.

Viele deutschsprachige Theater spielten in Czernowitz bis weit in die dreißiger Jahre hinein Gastauftritte, so auch der „alles überragende Schauspieler dieser Jahre“, Alexander Moissi, der 1920 als erster Jedermann auf dem Salzburger Domplatz auftrat. Das Deutsch des in Triest geborenen Moissi „hatte einen charakteristischen mediterranen Akzent, etwas Fremdes, Singendes, das aber gerade deswegen nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs eine neue Grundspannung vermittelte“, so Böttiger.

„Todesfuge“

Celans Eltern wurden 1942 in ein Lager der Nationalsozialisten deportiert und ermordet. Er selbst musste Zwangsarbeit im Straßenbau leisten, überlebte aber die Vernichtungsmaschinerie der Nazis. 1947 kam er von Bukarest über den Umweg über Budapest nach Wien, er musste ungarische Fluchthelfer für die Grenzübertritte bezahlen. Kurz vor Weihnachten schaffte er es nach Wien, wo er mit Nachdruck an seiner literarischen Karriere arbeitete und Zugang zu literarischen Kreisen mit Autorinnen und Autoren wie Ilse Aichinger, Milo Dor und Friederike Mayröcker fand.

Fotostrecke mit 5 Bildern

Rathaus von Czernowitz 1917
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Das multiethnische Czernowitz der Habsburger-Zeit bildete den kulturellen Hintergrund Celans
Wiederaufbau in Wien. 2. September 1947
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Im zerbombten Wien des Jahres 1947 begann Celan seine literarische Karriere
Cafe de FLore in Paris 1949
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Ab 1948 bis zu seinem Tod lebte Celan in Paris
Paul Celan mit seiner Frau Gisele Lestrange
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Celan mit seiner Frau Gisele Lestrange
Paul Celan mit Nani Demus und Jean-Dominique Rey
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Paul Celan mit seinen Freunden Nani Demus und Jean-Dominique Rey

Über die Gruppe rund um Hans Weigel lernte er Ingeborg Bachmann kennen, mit der ihn in der Folge eine über Jahrzehnte immer wieder aufflammende Beziehung verband. Das einzige Gedicht, das er ihr ausdrücklich widmete, ist „In Ägypten“, das sich mit dem alttestamentarischen jüdischen Exil auseinandersetzt. 1948 ließ Celan seinen Gedichtband „Der Sand aus den Urnen“ auf eigene Kosten drucken.

Darin erschien erstmals die „Todesfuge“ auf Deutsch. Zuvor war eine abweichende rumänische Variante gedruckt worden. In diesem Gedicht vereint er Motive, die sich auf die klassische deutsche Kultur beziehen mit Bildern, welche die Ermordung von Millionen Juden durch die Nationalsozialisten darstellen.

Die Verwendung der paradoxen Metapher „schwarze Milch“ hat Interpreten immer wieder vor Herausforderungen gestellt. Böttiger erklärt das Sprachbild mit dem besonderen Umfeld in Czernowitz, das er als „lyrisches Treibhausklima“ bezeichnet. So wurde die „schwarze Milch“ bereits 1925 in dem Gedicht „Ins Leben“ der Czernowitzer Dichterin Rose Ausländer verwendet, auch bei Celans Mentor Alfred Margul-Sperber und Moses Rosenkranz finden sich laut Böttiger ähnliche Wendungen wie in der „Todesfuge“.

Ein Gedicht als „Grab“

Das Besondere an Celans Gedicht ist aber die neue Form und seine Suche nach sprachlicher Verdichtung, die seine traumatischen Erfahrungen widerspiegelt. In einem gerade von Petro Rychlo herausgegebenen Band mit Erinnerungen von Zeitgenossen an Celan beschreibt Ilsa Goldmann, eine Jugendfreundin, die innere Spannung des Dichters: „Er litt furchtbar unter dem Tod seiner Mutter, unter diesem Tod, denn er war ein deutscher Dichter jüdischer Herkunft, und es ist schwer zu sagen, wo das eine aufhört und das andere anfängt.“

Buchhinweise

  • Paul Celan: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe. Suhrkamp, 1.262 Seiten, 35,00 Euro.
  • Helmut Böttiger: Celans Zerrissenheit. Galiani Verlag, 208 Seiten, 20,60 Euro.
  • Wolfgang Emmerich: Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen. Wallstein, 400 Seiten, 26,80 Euro.
  • Thomas Sparr: Todesfuge. Biographie eines Gedichts. DVA, 331 Seiten, 22,70 Euro.
  • Petro Rychlo (Hg.): Mit den Augen von Zeitgenossen. Erinnerungen an Paul Celan. Suhrkamp, 469 Seiten, 28,80 Euro.

1952 erschien sein Gedichtband „Mohn und Gedächtnis“, der auch wieder die „Todesfuge“ enthielt, die ab diesem Zeitpunkt intensiv rezipiert wurde. In einem Brief an Bachmann schrieb Celan, die „Todesfuge“ sei für ihn auch „eine Grabschrift und ein Grab“, und meinte damit, dass er darin die Erinnerung an seine ermordeten Eltern bewahre.

Lyrik nach Auschwitz

Celan wurde 1952 eingeladen, vor der Gruppe 47 zu lesen, einer Verbindung von Kritikern und Autoren um Hans Werner Richter, die die Ausrichtung der deutschen Literatur nach 1945 maßgeblich beeinflusste. Celan wurde mit seiner Lesung der „Todesfuge“ laut dem Mitglied Walter Jens aufgrund seines Rezitationsstils grundlegend missverstanden, der einem der Anwesenden gar verwandt mit der Rhetorik Joseph Goebbels erschien.

Wesentlich zur Berühmtheit der „Todesfuge“ trug indirekt auch der Philosoph Theodor W. Adorno bei, der im Jahr 1949 in seinem zwei Jahre später veröffentlichten Aufsatz „Kulturkritik und Gesellschaft“ geschrieben hatte: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“ Die „Todesfuge“ wurde als Widerlegung vn Adornos Aussage aufgenommen und als Beweis dafür gelesen, dass eine ästhetisch avancierte Auseinandersetzung mit dem Holocaust möglich sei.

Politische Ambivalenzen

In seinen Gedichten setzte sich Celan unter anderem mit der Philosophie von Martin Heidegger auseinander, was ihm aufgrund von Heideggers Nähe zum Nationalsozialismus in den 1930er Jahren Unverständnis einbrachte. Überhaupt war Celans Verhältnis zu konservativen und rechten Intellektuellen wie Ernst Jünger in Hinblick auf seine eigene Geschichte als Holocaust-Überlebender und linksgerichteter Denker ambivalent, wie Böttiger herausarbeitet.

Eine weitere Ambivalenz Celans macht Wolfgang Emmerich in seiner Studie „Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen“ aus. Celans Grundkonflikt sei gewesen, dass das Deutsche ihm zugleich „Muttersprache“, „Mördersprache“ und „Dichtersprache“ war.

Auf dem Weg zur Instanz

Einen Überblick über die biografischen Stationen Celans gibt auch eine mehrsprachige Onlineausstellung des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten in Zusammenarbeit mit dem Archiv des Nationalmuseums der Rumänischen Literatur namens „Paul Celan unter den Wörtern“.

Darin sieht man Dokumente zu Celans Leben in Paris, wo er ab 1948 lebte und als mehrfach Exilierter an immer abstrakteren Gedichten schrieb. Celans Bedeutung wuchs indes immer weiter, 1960 erhielt er den renommierten Georg-Büchner-Preis. Heute gilt er als einer der am stärksten wahrgenommenen Dichter deutscher Sprache der Weltliteratur.

Celan selbst distanzierte sich in seinem späteren Schaffen von der Sprache der „Todesfuge“. Er begann nach einer reduzierteren Form zu suchen, die er selbst als „grauere Sprache“ bezeichnete. Darin sollte kein „Wohlklang“ mehr vorkommen, um sich gänzlich von der Sprache der nationalsozialistischen Täter zu lösen.

„Depart Paul“

Neben seiner eigenen Lyrik wurde Celan auch für seine nachdichtenden Übersetzungen bekannt, beispielsweise von Giuseppe Ungaretti aus dem Italienischen, von Arthur Rimbaud aus dem Französischen und Sergej Jessenin aus dem Russischen. Als Erinnerung an diese Tätigkeit Celans vergibt der Deutsche Literaturfonds seit 1988 den Paul-Celan-Preis für herausragende Literaturübersetzungen ins Deutsche.

Celan heiratete 1952 die französische Künstlerin Gisele Lestrange und lebte mit ihr im großbürgerlichen 16. Pariser Arrondissement. Im Verlauf der 1960er Jahre schlitterte er immer wieder in akute psychische Krisen. Die Umstände seines frühen Todes wurden nie gänzlich geklärt. Er verschwand 49-jährig am 20. April 1970. Sein Leichnam wurde am 1. Mai aus der Seine geborgen. Vermutlich beendete er sein Leben, indem er sich vom Pont Mirabeau stürzte. In seinem Taschenkalender war für den Tag seines Verschwindens „depart Paul“ eingetragen – „Abgang Paul“.