Kind sitzt auf Fensterbank
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Zweiter Lockdown

Dringender Hilferuf für Wohl von Kindern

Die Coronavirus-Pandemie hat Ungleichheiten bei Kindern und Jugendlichen noch einmal deutlich verschärft, warnt der breit aufgestellte Verband Österreichische Liga für Kinder- und Jugendgesundheit. Kinder und Jugendliche würden unter einem Lockdown am meisten leiden. Die Liga forderte von der Politik am Mittwoch, die Pandemie, die vorhandene Probleme dramatisch verschärfe, zu einem Richtungswechsel zu nutzen.

Expertinnen und Experten der Kinderliga präsentierten ihren jährlichen Ligabericht. Laut diesem gab es bereits vor der Krise massive Diskrepanzen bezüglich Gesundheitsrisiken und Bildungschancen, also letztlich der Lebensqualität, sagte Christoph Hackspiel, Präsident der Kinderliga bei einer Onlinepressekonferenz am zweiten Tag des Lockdowns.

Die Kinderliga fordert nachhaltige Maßnahmen zur Förderung der Chancengerechtigkeit ein. Die Pandemie „zeigt uns wie durch ein Brennglas eine bereits seit vielen Jahren triste Situation für etwa 25 Prozent unserer Kinder, das sind jene, die in Armut oder Armutsgefährdung leben und dadurch eingeschränkte Entwicklungsmöglichkeiten haben. Viele Schwachstellen werden nun noch deutlicher, und Ungleichheiten, die es bereits vor der Pandemie gegeben hat, werden verstärkt“, sagte Hackspiel bei der Präsentation des elften Berichts zur Lage der Kinder- und Jugendgesundheit in Österreich.

„Jetzt wichtig, die Weichen neu zu stellen“

Mangelnde Bildungschancen, die mit dem sozialen und wirtschaftlichen Status der Eltern korrelieren, sind in Österreich besonders gravierend. Gewalterfahrungen, psychische Leiden, geringe Bildungsmöglichkeiten und Armut bedeuten verminderte Teilhabechancen und sind oft die Ursache für chronische körperliche und psychische Krankheiten.

„Gerade jetzt ist es wichtig, die Weichen in Österreich neu zu stellen, um Kinder und Jugendliche bestmöglich medizinisch, psychologisch, therapeutisch zu versorgen, auf ihrem Bildungsweg zu unterstützen und Perspektiven für die Zukunft zu ermöglichen“, betonten die Experten.

Kinder und Jugendliche besonders betroffen

Schon im ersten Lockdown haben Kinder und Jugendliche in Österreich im Vergleich zu anderen Ländern besonders unter dem Verlust von sozialen Kontakten gelitten, etwa zu Großeltern und zu Gleichaltrigen. Weitere Benachteiligung droht vor allem jenen, die es ohnehin schon schwer haben.

Geld für Prävention gefordert

Die Wirtschaft erhalte Milliarden an Förderungen und Entschädigungen. „Eine Milliarde mehr für spezifische Anliegen der Prävention, um Kinder und Jugendliche nicht zurückzulassen, wäre ein Klacks“, forderte Hackspiel. Er plädierte außerdem für die Einführung eines eigenen Ministeriums für Kinder, die immerhin ein Viertel der Bevölkerung ausmachen.

Damit könne man „ein politisches Zeichen setzen und Minderjährige in den Fokus nehmen“, sagte der Experte. Gerade in der alle belastenden CoV-Pandemie müssten bei politischen Entscheidungen und bei notwendigen Investitionen zur Schadensbegrenzung die Interessen von Kindern ins Zentrum gestellt werden.

Lang nachwirkende Folgen

Die aktuelle Gesundheitskrise ist für viele Kinder und Jugendliche eine psychische Belastung. Die Ergebnisse der im Ligabericht präsentierten Umfragen aus dem ersten Lockdown zeigen, dass Kinder und Jugendliche am meisten unter den Kontaktbeschränkungen leiden. Der direkte Austausch mit ihren sozialen Gruppen (Peers), aber auch mit Großeltern und weiteren Verwandten wurde und wird für Wochen unterbrochen.

Insbesondere Kinder aus bildungsferneren Schichten verlieren nicht selten den schulischen Anschluss, Jugendliche erhalten nur noch schwer Lehrstellen, Gewalt in Familien und psychische Probleme sind deutlich gestiegen, und fast alle medizinischen und therapeutischen Angebote, vor allem für Kinder mit Beeinträchtigungen, sind seit Monaten nur schwer zugänglich. Wichtige Therapiefenster bleiben ungenützt.

„Gleiche Chancen“ als Ziel

Für Caroline Culen, Psychologin und Geschäftsführerin der Kinderliga, ist es jetzt höchste Zeit, die längst überfälligen Angebote für psychologische und psychotherapeutische Versorgung zu verstärken und diese niederschwellig, finanzierbar und wohnortnah für alle Kinder und Jugendlichen verfügbar zu machen. „Die Weichen für die Zeit nach der Pandemie müssen gestellt werden, gleiche Chancen sind das unangefochtene Ziel der Kinderliga“, sagte Culen.

„Keine Leistung des Einzelnen“

Es müsse vermieden werden, dass Probleme zu chronischen Problemen werden. 20 bis 25 Prozent der Kinder und Jugendlichen waren bereits vor der Pandemie psychisch belastet, „wir erwarten einen Anstieg um rund zehn Prozent“, sagte Culen. „Gesundheit ist keine individuelle Entscheidung. Gesundheit darf nicht als Leistung des einzelnen Menschen gesehen werden, sondern als das Ergebnis sozialer Verhältnisse. Gesundheit hängt auch von den grundlegenden Werten einer Gesellschaft ab.“

„Warum kommt Ihr Kind?“

Hedwig Wölfl, Kinderschutzexpertin und Vizepräsidentin der Kinderliga betonte, dass Eltern nicht erneut in die Situation gebracht werden dürften, dass es schamhaft besetzt sei, wenn sie ihr Kind in eine Betreuungseinrichtung schicken wollen. Die Frage „Warum kommt Ihr Kind?“ mache es nahezu unmöglich, dass auch vernachlässigte Kinder oder solche, die zu Hause Gewalt erfahren, in die pädagogische Betreuung gebracht werden können.

Kinderschutz müsse gerade jetzt aktiv und nachgehend verfolgt werden, forderte die Geschäftsführerin der Kinderschutzorganisation Die Möwe. Dem Präventionsnetzwerk Frühe Hilfen, den Kinderschutzzentren und der behördlichen Kinder- und Jugendhilfe komme im Lockdown eine besondere Bedeutung zu.

Folgen für Jugendliche „erst im Nachhinein“ sichtbar

Wölfl wies auch auf die besonders schwierige Lage der Jugendlichen hin. Diese entwickelten in diesem Alter ihre sexuelle Identität, und für sie sei es wichtig, sich auszuprobieren. Derzeit bekämen sie aber nur „haltet Abstand und kommt euch nicht zu nahe“ zu hören. „Was das entwicklungsbiologisch bedeutet, werden wir erst im Nachhinein sehen“, konstatierte Wölfl. Hier müsse jedenfalls genau hingeschaut werden, „dass das nicht in eine seltsame Bahn läuft“.