Oscarstatue
AP/Invision/Chris Pizzello
Systemwechsel

Oscars wollen die alten Ketten sprengen

Wie werden die Oscars im kommenden Jahr aussehen? Anders als gewohnt – so viel ist sicher. Die Academy muss sich einiges an Neuerungen einfallen lassen, und das hängt nicht nur mit der Pandemie zusammen.

Wie sieht eine Feier des Kinofilms aus, wenn Kinos weltweit in der Krise sind? Diese Frage stellte sich bereits bei der ersten Verleihung der Academy Awards im Jahr 1929: Die amerikanische Filmindustrie steckte auch damals in der Krise. Der noch junge Tonfilm litt unter der Einführung einer umfassenden Zensur, die sich formierenden Gewerkschaften der Studioangestellten übten Druck aus, das Radio wurde zur ernsten Konkurrenz auf dem Unterhaltungssektor. Ein neuer, prominent aufgezogener Filmpreis sollte dem Kino Aufmerksamkeit bescheren – und so erfand Produzent Louis B. Mayer die Oscars.

91 Jahre später ist das Kino tiefer in der Krise denn je. Die Filmindustrie ist zu weiten Teilen auf Streaming ausgewichen, die Produktionsbedingungen, die Inhalte, all das musste sich binnen neun Monaten an völlig neue Umstände anpassen. So auch die Oscar-Nacht, die einerseits eine Momentaufnahme ist, wie sich die Branche selbst betrachtet, und andererseits in Form und Inhalt gesellschaftliche Entwicklungen widerspiegelt.

Neue Einreichfristen, Kinostart nicht erforderlich

Waren die Academy Awards 2020 Anfang Februar noch unbeeindruckt von der dräuenden Pandemie, ist bei der Ausgabe des Jahres 2021 jede Ankündigung mit Vorbehalt zu genießen. Die Verschiebung auf den 25. April, acht Wochen später als ursprünglich geplant, ist nur der derzeitige Stand; dadurch verlängert sich ausnahmsweise auch die Zeitspanne, aus der Filme zugelassen sind, bis 28. Februar.

Wesentlichste Änderung aufgrund der Coronavirus-Pandemie: Erstmals müssen die berechtigten Filme nicht zwingend in einem regulären Kino gelaufen sein, sie müssen lediglich „für einen Kinostart beabsichtigt“ und dann durch kommerzielles Streaming oder Video-on-Demand verfügbar sein. Die wahlberechtigten Mitglieder der Academy werden die Filme größtenteils ebenfalls daheim streamen. Wie das die Wirkung eines Films beeinflusst, ist schwer zu sagen – und Academy-Präsident David Rubin beeilte sich jedenfalls zu ergänzen, dass ein Kinostart postpandemisch wieder zur Bedingung werden soll.

Kinoverwertungsfenster für Österreich-Beitrag

Das sind immerhin gute Nachrichten für die diesjährige österreichische Einreichung für den Auslandsoscar: Ulrike Koflers Filmdebüt „Was wir wollten“ sollte eigentlich Anfang November im Kino starten, wenige Tage nach den Kinoschließungen in Österreich. In dem Beziehungsdrama fahren Elyas M’Barek und Lavinia Wilson als Wiener Paar mit unerfülltem Kinderwunsch in den Urlaub nach Sardinien, nur um nebenan im Domizil die Probleme einer Tiroler Familie mit Kindern vorgelebt zu bekommen.

„Weltweit ist der Film schon im Streaming auf Netflix verfügbar, nur uns in Österreich ist ein Kinoverwertungsfenster von zwei Monaten eingeräumt worden“, sagt Filmverleiher Michael Stejskal auf ORF.at-Nachfrage. So schade nun ist, dass der Film womöglich nicht oder nur kurz auf der Kinoleinwand zu sehen ist, wenigstens schmälert das die Chancen auf einen Preis nicht.

Viele der Filme, deren Start gegen Jahresende geplant war, um ihre Oscar-Kampagnen bestmöglich zu platzieren, wurden auf unbestimmte Zeit verschoben. Beobachterinnen und Beobachter attestieren dem Jahrgang dadurch großes Potenzial für Überraschungen – vielleicht ähnlich wie beim Festival von Venedig, wo heuer erstmals fast die Hälfte der Wettbewerbsfilme von Regisseurinnen bestritten wurde.

Ausnahmejahr für Ausnahmefilme

Als potenzielle Oscar-Kandidaten fallen so unterschiedliche Titel auf wie Kelly Reichardts Pionier-Freundschaftsgeschichte „First Cow“, das präzise Abtreibungsdrama „Niemals Selten Manchmal Immer“, Chloe Zhaos „Nomadland“, die champagnerlaunige Vater-Tochter-Tragikomödie „On The Rocks“ von Sofia Coppola, der animierte Pixar-Film „Soul“ (ab 25. Dezember auf Disney+) und – Fixstarter wohl zumindest in den technischen Kategorien – mit Christopher Nolans „Tenet“ der einzige Blockbuster des Jahres.

Bemerkenswert viele Netflix-Produktionen sind jetzt schon im Gespräch, darunter „The Trial of the Chicago 7“ von Aaron Sorkin, David Finchers „Mank“ und Spike Lees Vietnam-Film „Da 5 Bloods“ – und auch Filme, die nachträglich von der Streamingplattform gekauft wurden, „Pieces of A Woman“ von Kornel Mundruczo etwa, für das Vanessa Kirby in Venedig den Darstellerinnenpreis bekommen hat.

Dass es heuer ein zerfleddertes Feld wird, ergibt sich schon durch den Mangel an Filmen der Sorte, von denen alle reden – so, wie es im Vorjahr etwas Todd Philipps „Joker“ war, zu dem auch jene eine Meinung hatten, die ihn nicht kannten, Sam Mendes’ Weltkriegsepos „1917“, das vor allem wegen Roger Deakins’ Kameragymnastik in Erinnerung blieb, oder Quentin Tarantinos starüberfüllter „Once Upon A Time In Hollywood“. Es sind Titel, die fast nostalgisch an ein Kino erinnern, das zugleich Männermuseum ist. Manche meinen, es sei gar nicht schlecht, dass diese Sorte Filme einmal zwangspausiert.

Quoten für „unterrepräsentierte Gruppen“

Das ist auch angesichts der übrigen Lage in den USA dringend notwendig, wenn die Academy als Institution relevant bleiben will: Die gesellschaftlichen Umwälzungen in einem Jahr, das inmitten der Pandemie von der „Black Lives Matter“-Bewegung aufgerüttelt wurde und von einem irreal wirkenden Präsidentschaftswahlkampf geprägt war, dürfen auch an einem Spektakel wie den Oscars nicht spurlos vorübergehen.

Schon in den letzten Jahren hatte sich die Academy bemüht, die Sieger in der Oscar-Nacht dadurch etwas relevanter zu machen, indem jüngere Filmschaffende mit möglichst vielfältiger Herkunft neu eingeladen und ältere, nicht mehr aktive Filmschaffende vom Wahlprozess ausgeschlossen wurden. Dazu wurde im September bekanntgegeben, dass ab dem Jahr 2024 für die Kategorie „Bester Film“ neue Bedingungen gelten.

Szene aus dem Film „Tenet“.
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Christopher Nolans „Tenet“ ist wohl der einzige Blockbuster, der 2021 um einen Oscar rittert

Auf der Leinwand, in der Crew, im Studio oder bei Fortbildungsmöglichkeiten müssen „unterrepräsentierte Gruppen“ wie Frauen, Nichtweiße, LGBTQ+ und Menschen mit Behinderung eine vorgegebene Anzahl von Stellen bzw. Rollen bekommen – und ein Film, der als „Bester Film“ infrage kommt, muss die Vorgaben in zumindest zwei dieser vier Bereiche erfüllen.

Die Welt auf der Leinwand gespiegelt

So kompliziert diese Regelung klingen mag, ist sie doch Anzeichen eines aufrichtigen Bemühens um Repräsentation einer vielfältigen amerikanischen Gesellschaft, die sich auch in der Filmwelt widerspiegelt. Kritik musste die Academy dafür einstecken, zu bemüht seien diese Vorgaben, Kunst lasse sich nicht in Regeln gießen. Immerhin drei Jahre hat Hollywood, um sich daran zu gewöhnen, was etwa der üblichen Zeit von Produktionsbeginn bis Filmstart entspricht.

Das Ringen um die Deutungshoheit über die Bilder geht weiter. Die Oscars mögen zwar eine Werbeveranstaltung fürs Kino sein, egal ist trotzdem nicht, wie sich die Welt auf der Leinwand widerspiegelt.