Prof. Karl Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) und Frank Thiel (Axel Prahl)
ORF/ARD/Willi Weber
„Tatort“

Sonntagsritual seit 50 Jahren

Der „Tatort“ wird 50 Jahre alt: Das Jubiläum wird mit einer Doppelfolge gefeiert, in der die Kommissare aus München und Dortmund gemeinsam ermitteln. Warum die Krimireihe nach über 1.100 Folgen noch immer Millionen vor den Fernseher lockt und was die länderübergreifende Serie so beliebt macht? ORF.at hat beim Philosophen Alfred Pfabigan und bei eingefleischten „Tatort“-Fans nachgefragt.

Wenn nicht gerade eine Pandemie grassiert, ist das „Tatort“-Schauen ein Gemeinschaftsritual – nicht nur im Familien- und Freundeskreis. In Wien wird etwa im Top-Kino und im Schikaneder-Kino mit den Kommissarinnen und Kommissaren mitgefiebert. In Berlin ist das schon lange Tradition, dort wird in Gastgärten geschaut.

„Tatort“-Fan Matthias Liener war in Vor-Coronavirus-Zeiten im Top-Kino dabei: „Vielleicht gibt es den ‚Tatort‘ schon so lange, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als wieder in Mode zu kommen.“ Und in Mode ist die in die Jahre gekommene Serie definitiv. Zum ersten Mal flimmerte sie am 29. November 1970 über die deutschen Fernsehschirme. In „Taxi nach Leipzig“ ermittelte Paul Trimmel (gespielt von Walter Richter) als erster „Tatort“-Kommissar überhaupt.

50 Jahre „Tatort“

Seit 50 Jahren ist er ein Kultphänomen und Sonntagsritual: der „Tatort“. Die Faszination scheint ungebrochen.

Auf der Suche nach einem Kindermörder im damals noch geteilten Deutschland musste „Tatort“-Pionier Trimmel von West nach Ost. Dass die älteren Folgen noch heute gerne gesehen werden, führt Sozialphilosoph Pfabigan darauf zurück, dass die mittlerweile überholten Inszenierungs- und Ermittlungsmethoden hochgradig amüsant seien.

Spiegel der Gesellschaft

Von Beginn an hat sich der „Tatort“ mit gesellschaftsrelevanten Themen auseinandergesetzt und sie kriminalistisch aufgearbeitet. In der letzten Dekade habe sich der „Tatort“ allerdings weiterentwickelt, sei filmisch experimenteller und inhaltlich offener für gesellschaftliche Randthemen geworden, so Pfabigan.

Im „Tatort“ „Schatten der Angst“ (2008) werden beispielsweise die Themen Integration, Zwangsheirat und Ehrenmord verhandelt. Der „Tatort“ „Tod einer Lehrerin“ (2011) thematisiert die Beschneidung von Frauen, ein Thema, das selten in einem derart breitenwirksamen Medium differenziert debattiert wird.

Cover des Buches „Mord zum Sonntag – Tatortphilosophie“ von Alfred Pfabigan
Residenz Verlag

Alfred Pfabigan: Mord zum Sonntag. Tatortphilosophie. Residenz Verlag, 208 Seiten, 20 Euro

Lokalkolorit als Einschaltimpuls

Zu den „Tatort“-Fans im Top-Kino gehört auch Johanna Webhofer. Sie erklärt die Eigenheiten und Besonderheiten der einzelnen „Tatort“-Teams und Schauplätze: „Jeder ‚Tatort‘ hat sein Alleinstellungsmerkmal: die Wiener mit ihrem Schmäh, die Münsteraner mit ihren komödiantischen Einlagen, und gleichzeitig sieht man auch ein bisschen etwas von der jeweiligen Stadt.“

Tatsächlich ist Lokalkolorit ein ganz wesentlicher Erfolgsfaktor. In der Geschichte des „Tatort“ haben bereits über 80 verschiedene Teams ermittelt – und das in drei Ländern. Neben der ARD produziert der ORF seit 1985 den österreichischen und der SRF seit 1990 den Schweizer „Tatort“.

Eisner und Fellner als Quotengarantie

Aktuell ermitteln rund 20 Ermittlerteams an den verschiedensten Schauplätzen in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Längstdienende Kommissarin ist Lena Odenthal (Ulrike Folkerts), die letztes Jahr ihr 30-jähriges Dienstjubiläum bei der Kriminalpolizei Ludwigshafen feierte. In Österreich ermittelt seit 2011 das Kommissarenpaar Bibi Fellner (Adele Neuhauser) und Moritz Eisner (Harald Krassnitzer).

Sie gehören mit rund 9,2 Millionen Zusehern zu den beliebtesten „Tatort“-Ermittlern in Deutschland und liegen im „Tatort“-Ranking des Branchendienstes „Meedia“ auf Platz vier. Um keinen „Tatort“-Kommissar entstand allerdings ein vergleichbarer Personenkult wie um den früheren Autoknacker Horst Schimanski, gespielt vom 2016 verstorbenen Götz George.

Schauspieler Götz George in seiner Rolle als Tatort-Kommissar Schimanski
APA/dpa/Horst Ossinger
Götz George als Schimanski – bis heute der Inbegriff eines „Tatort“-Kommissars

Die Psychologie eines Sonntagsrituals

Pfabigan über das allsonntägliche Versammeln vor dem Fernsehschirm: „‚Tatort‘-Schauen gehört irgendwie zum Entspannungsritual. Manche Leute gehen in die Sauna, die Mehrheit schaut sich den ‚Tatort‘ an.“ Den Erfolg der Serie führt er darauf zurück, dass sie ihre Zuseher, im Gegensatz zu anderen Krimireihen, vor allzu Grausamem verschone und alltäglichen Dingen, wie dem Privatleben der Kommissare, viel Raum gebe.

Der Theologe Knut Berner schreibt in seiner „Theorie des Bösen“: „Das Destruktive stößt nicht nur ab, sondern präsentiert sich mit anziehender Kraft.“ Pfabigan hält gleich zwei verschiedene, freudianisch inspirierte Theorien für die Faszination des Bösen bereit. Modell Nummer eins erklärt er mit Helmut Qualtingers Satz: „Manchmal, wann i so lieg, hör i de Rettung vorbeifahrn … tatüü … dann denk i ma nur: Karl, du bist’s net …“ – man freue sich also, dass das furchtbare Ereignis bei einem selbst nicht eingetreten sei.

Modell Nummer zwei beruhe auf der Erklärung, dass wir alle aggressive Strömungen in uns tragen, die wir im „Tatort“ als Zaungäste ausleben dürfen – und das aus der Perspektive des sicheren Wohnzimmersessels.

TV-Hinweis

Der erste Teil des zweiteiligen Jubiläums-„Tatorts“ „In der Familie“ läuft am Sonntag um 20.15 Uhr in ORF2. Regie: „Tatort“-Altmeister Dominik Graf.

Doppelfolge zum Jubiläum

Nun erwartet die Fans zur Jubiläumsfeier gleich ein Zweiteiler: „In der Familie“. Regie führen einmal Dominik Graf und einmal Pia Strietmann. Bernd Lange fungiert als verbindendes Element und hat das Drehbuch für beide Folgen verfasst. Die erste wird am Sonntagabend ausgestrahlt, wie immer um 20.15 Uhr in ORF2. Auch die Geburtstagsfolgen werden mit der seit Jahrzehnten beinahe unveränderten Signation beginnen: dem Fadenkreuz, den bekanntesten Augen der Welt – von Schauspieler Horst Lettenmayer – und dem Jazz von Klaus Doldinger.