Eine Gruppe Frauen im Gespräch.
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Keine Grauzonen

Gefühlen vertrauen, Belästigung erkennen

Eine Einladung zum Essen vom Uniprofessor, ein Arzt, der einen anzüglichen Kommentar macht – es ist nicht immer die Hand auf dem Hintern, die Betroffene sexueller Belästigung mit einem Gefühl der Machtlosigkeit zurücklässt. Um gerade dieser Machtlosigkeit die Stirn zu bieten, haben Sara Hassan und Juliette Sanchez-Lambert den Ratgeber „Grauzonen gibt es nicht“ verfasst, einen Leitfaden, der darauf pocht, dem eigenen Gefühl zu vertrauen.

Das Bauchgefühl ist wertvoll, doch wird es uns oft ausgetrieben. Der Ursprung liegt für die Autorinnen in der patriarchalen Gesellschaft, die den meisten Kindern bereits durch eine geschlechtergetrennte Erziehung eingetrichtert wird. Während Wutausbrüche und Aggressionen bei Buben häufig entschuldigt und sie vielmehr noch zu einem „härteren“ Verhalten ermutigt würden, würde Mädchen eher eingeredet, sie sollen sich leise verhalten, keine Umstände machen und anderen helfen, schreiben die Autorinnen. Im Erwachsenenleben, aber nicht nur dort, eskaliert dieses Ungleichgewicht häufig. Gefährlich wird es dann, wenn Machtausübung und Gewalt – psychische wie physische – im Spiel sind.

Hassan und Sanchez-Lambert berichten zunächst von etlichen Begebenheiten, die an sie in den Workshops des Brüsseler Frauennetzwerks Period. herangetragen wurden. Leserinnen und Leser können anhand dieser Beispiele analysieren und kritische Situationen benennen. Ziel dieser lösungsorientierten Herangehensweise ist es, sein eigenes zuverlässiges Warnsystem zusammenzustellen, um Belästigung im eigenen Alltag erkennen zu können.

Übung macht die Meisterin

Dabei ist es den Autorinnen besonders wichtig, Opfern sexueller Belästigung und Gewalt klarzumachen, dass die Schuld niemals auf ihrer Seite liegt. „Es liegt nicht in unserer Verantwortung, Belästigung aller Art zu beenden. Aber wir können uns darin bestärken, unseren eigenen Gefühlen zu vertrauen“, schreiben sie.

Juliette Sanchez-Lambert (l.) und Sara Hassan bei der Präsentation ihres Handbuchs in Brüssel.
Period.
Juliette Sanchez-Lambert (links) und Sara Hassan sind Mitglieder des feministischen Brüsseler Netzwerks Period.

Anschließend geht es an die Praxis, Strategien, die vom Netzwerk Period. in der Vergangenheit erprobt wurden, in die Tat umzusetzen. „Je mehr du übst, desto eher wirst du wissen, was du wann, wo und wie tun kannst“, so die Autorinnen – ohne Garantie, denn „die eine Lösung“ gebe es nicht, meinen sie. Vielmehr sei jede Lösung individuell. Geduld und Vertrauen in sich selbst sollte man jedenfalls mitbringen: „Es dauert, bis du deine Grenzen gesetzt hast und dich selbstsicher genug fühlst, sie ganz offen aufzuzeigen.“

Buchcover von „Grauzonen gibt es nicht“
ÖGB-Verlag

Buchhinweis

Sara Hassan, Juliette Sanchez-Lambert: Grauzonen gibt es nicht. Muster sexueller Belästigung mit dem Red Flag System erkennen. ÖGB Verlag, 100 Seiten, 10,00 Euro. Gratis-Download verfügbar unter Periodbrussels.eu.

„Sprache schafft Realität“

Anfangen könne jede im Kleinen, raten die Expertinnen: etwa, einfach einmal Nein zu sagen, wenn es sowieso keine nennenswerten Konsequenzen geben könnte. Nach und nach könne man dazu übergehen, individuelle Grenzen deutlicher aufzuzeigen und darauf zu achten, wie das Umfeld reagiere. Dabei sollte den Autorinnen zufolge jede Situation extra beurteilt werden, schließlich gibt es beispielsweise Unterschiede im Beruflichen und Privaten. Dabei könne es helfen, Dinge und Situationen aufzuschreiben – besonders Unangenehmes. „Wenn du deine Ängste nicht aussprechen kannst, schreib sie auf“, so der Expertinnenrat. Aufzeichnungen könnten auch wesentlich sein, sollten rechtliche Schritte nötig werden.

Wichtig sei, Worte für Erlebtes zu finden, zeigen sich die Autorinnen überzeugt. Denn häufig sind Begrifflichkeiten erst am Entstehen – oder im deutschen Sprachgebrauch noch nicht so verankert. Beispielsweise bahnte sich das Wort „Consent“ – auf Deutsch „Zustimmung“ – seinen Weg vom Englischen zunehmend in die deutsche Sprache, insbesondere im Kontext sexueller Beziehungen. „Consent“ – Hassan und Sanchez-Lambert übersetzen direkt mit „Konsens“ – bedeutet, die Zustimmung zu sexuellen Handlungen beim Partner bzw. der Partnerin zu erfragen bzw. diese selbst aktiv kundzutun.

Das Wichtigste dabei: Nein heißt nein. Ein Schulterzucken, ein „Ich weiß nicht“, ein Kleidungsstück, das eine Person trägt – all das ist kein Konsens, stellen die Autorinnen fest. Deshalb sei es wichtig, dass es Begrifflichkeiten gebe: „Sprache schafft Realität“, so die beiden Expertinnen.

Sara Hassan über ihr Buch „Grauzonen gibt es nicht“

„Grauzonen gibt es nicht“ heißt das Buch von Sara Hassan und Juliette Sanchez-Lambert, in dem die beiden Autorinnen mit Mythen bezüglich sexueller Belästigung aufräumen. Sara Hassan ist dazu via Skype zu Gast.

Selbstbestimmung ohne Druck

Auch ein sicheres Umfeld zu finden und sich anderen mitzuteilen, sei ein wichtiger Schritt im Prozess, schreiben Hassan und Sanchez-Lambert. Das könne natürlich auch online stattfinden – etwa direkt auf der Webseite von Period. Denn als Einbahnstraße versteht sich der Ratgeber keineswegs. Die Autorinnen vermitteln den Leserinnen und Lesern glaubhaft, dass es Lösungen für ihre Sorgen gibt – und andere Menschen, die sich dafür interessieren.

„Grauzonen gibt es nicht“ ist ein wichtiger, aktiver Ansatz, Selbstbestimmung zu vermitteln, ohne Druck aufzubauen. Dabei muss man den Text keineswegs von vorne nach hinten lesen. Die anschauliche Aufmachung mit vielen Aufzählungen und kreativen Darstellungen laden dazu ein, das Buch einfach mal auf irgendeiner Seite aufzuschlagen. Ratlos zurückgelassen wird man sicherlich an keiner Stelle.