Schläpfers Staatsoperndebüt

Wenn Mahler zum Ballett wird

Mehrmals hat Martin Schläpfers Debütabend an der Staatsoper wegen des Lockdowns verschoben werden müssen, nun konnte er ohne Publikum aufgezeichnet werden. Die „Matinee“ zeigt die Uraufführung von „4“ des erfolgreichen Choreografen und Neo-Leiters des Staatsopernballetts. Hinter diesem schlichten Titel verbirgt sich eine fulminante Umsetzung von Mahlers Symphonie Nr. 4 für das gesamte Ensemble.

Für Schläpfer war es trotz aller Widrigkeiten im Probeprozess selbstverständlich, dass seine erste Wiener Arbeit für das ganze Ensemble konzipiert werden sollte. Für ihn war es „ein Kennenlernen“, wie er in einem Pressegespräch vergangene Woche sagte, man müsse „beim Arbeiten zusammenkommen“.

Das Ensemble unter Schläpfer besteht aus 102 Tänzerinnen und Tänzern. Diese schiere Menge an Körpern in stimmigen Tableaus zu vereinen ist schon jenseits der Pandemie eine gewaltige konzeptionelle und kollektive Leistung, denn, so Schläpfer, „Tanzkunst kann nicht schummeln“.

Mahler „zutiefst human“

Es ist erst die zweite Arbeit mit der Musik Mahlers in Schläpfers Jahrzehnte umspannender Karriere. Die „Symphonie Nr. 4 in G-Dur“ sei für ihn „sehr abwechslungsreich“ und von einer „großen Leichtigkeit“, insgesamt „zutiefst humane Musik“.

In der Umsetzung legt Schläpfer den Akzent auch durchaus aufs Humane und Gesellschaftliche. Das Ensemble zeigt sich in Tableaus in weißen, dunkelblauen und schwarzen asymmetrisch geschnittenen Kostümen. Szenen voller Intimität und Fürsorge wechseln sich mit spürbarer Aggression ab. Schläpfers „4“ ist als Metapher einer demokratischen Gesellschaft lesbar, die sich irgendwo zwischen althergebrachten Formen und emotionalen Ausbrüchen ihren Konsens stets aushandeln muss.

Szene aus Schläpfers „4“ des wiener Staatsopernballetts.
Wiener Staatsballett/Ashley Taylor
Ein Sinnbild gesellschaftlicher Aushandlung: Schläpfers Einstand am Ring

Schläpfers Choreografie, die klassische und moderne Tanzschritte nahtlos miteinander verbindet, schafft es mühelos zeitgenössisch zu sein. Wenn Tanzende leitmotivisch ein Zittern befällt, das die restlichen Figuren rührt und bekümmert, aber offensichtlich auch ratlos macht, wird deutlich, dass Schläpfer hier eine überzeugende Metapher für die Pandemie und die unvermeidbaren gesellschaftlichen Ambivalenzen im Umgang mit dieser gefunden hat.

Arbeitsweise der „Archipele“

Schläpfer sagte, er arbeite in kreativen „Schüben“, die aber nicht fragmentarisch seien, sondern „Archipelen“ glichen: „Diese Teile sind unterirdisch miteinander verbunden und dramaturgisch durchdacht.“ Diese Arbeitsweise schlägt sich auf „4“ nieder.

Die Szenen bilden Motivketten, die sich wiederholen, zuweilen fast ironisch brechen und dann wieder verstärken – eine gelungene Spiegelung von Mahlers Symphonie, die zwischen Idylle und hintergründigem Humor abwechselt. Dem ganzen Ensemble steht das versammelte Staatsopernorchester unter Leitung von Axel Kober gegenüber. Das reduzierte und raffinierte Bühnenbild von Florian Etti bildet den Hintergrund für die Choreografie.

Gelenkter Blick

Für die Möglichkeit der Liveaufzeichnung unter der Regie von Myriam Hoyer sei Schläpfer „dankbar“, wie er sagte, natürlich berge die Form des gelenkten Blickes durch die Kameraperspektiven „auch ein Risiko“.

Szene aus Schläpfers „4“ des wiener Staatsopernballetts.
Wiener Staatsballett/Ashley Taylor
Humor, Emotion, Ambivalenz und große Präzision der Tänzerinnen und Tänzer machen „4“ zur gelungenen Arbeit

Auf jeden Fall ginge es bei der Produktion aber um mehr als die Frage nach der Übertragung: „Es geht um die Kunstform Ballett an sich und die große Freude, die diese bereiten kann. Es geht darum, den Menschen zu zeigen, dass wir da sind, dass wir trotz aller Unwägbarkeiten in eine Beziehung mit ihnen treten und ihnen ein berührendes Tanzerlebnis schenken wollen. Und nicht zuletzt geht es um ein positives Zeichen hinaus in die Welt, eine Ermutigung nicht aufzugeben, weiterzumachen und nach vorne zu blicken.“