Likes und Liebe
Marius Goldhorn, ein Autor, der die 30 noch nicht überschritten hat, schreibt einen Liebesroman, schreibt über aktuelle Protestbewegungen und die Allgegenwärtigkeit von Sozialen Netzwerken; er schreibt einen Roman über die postpostmoderne Welt samt ihrer allgegenwärtigen Bedrohungen und darüber, wie sein Held sich zu ihr verhält; einen Roman über eine Gesellschaft, die aus realen Orten Themenparks macht: Es zählt nur noch, was ökonomisch verwertbar ist oder Likes bringt, die kapitalistische Verwertungslogik durchdringt das Leben. Goldhorn folgt einem Burschen bei der Identitätssuche und schafft damit einen unerwarteten, zwingenden Pageturner. (Simon Hadler, ORF.at)
Marius Goldhorn: Park. Suhrkamp, 179 Seiten, 14,40 Euro.
John Lennon soll helfen
Tom Barbashs Roman mit dem hübschen Titel „Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens“ ist eine Hommage an das New York der späten Siebzigerjahre und handelt von Anton und seinem Vater Buddy, die im berühmten Dakota-Building wohnen. Buddys Comeback als „Late Night Show“-Moderator soll mit Hilfe von Nachbar und Freund John Lennon gelingen, denn mit einer Reunion der Beatles in Buddys neuer Show würden die Einschaltquoten durch die Decke gehen. Gekonnt vermischt Barbash in seinem Buch historische Fakten und frei Erfundenes und legt damit ein herausragendes Beispiel gehobener Unterhaltungsliteratur vor. (Sonia Neufeld, ORF.at)
Tom Barbash: Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens. Aus dem amerikanischen Englisch von Michael Schickenberg. Kiepenheuer & Witsch, 352 Seiten, 22,70 Euro.

Wider die Konventionen
Es beginnt als Affäre und entwickelt sich weiter zur künstlerisch einflussreichen Liebesbeziehung: Zu diesem Zeitpunkt ist er schon anerkannt als Surrealist, sie, halb so alt, studiert gegen den Willen ihrer Eltern Kunst. In „Die Surrealistin“ porträtiert die amerikanische Autorin Michaela Carter mit viel Gespür für intime Details das Leben der Leonora Carrington, die 1937 Max Ernst und seinen Kreis kennenlernt, sich jedoch nicht mit der Rolle der Muse bescheidet, sondern zur eigenständigen Künstlerin wird: Eine Frau erkämpft sich in der bewegtesten Phase des 20. Jahrhunderts ihren Weg. (Magdalena Miedl, für ORF.at)
Michaela Carter: Die Surrealistin. Aus dem amerikanischen Englisch von Silke Jellinghaus u. a. Kindler Verlag, 528 Seiten, 22 Euro.
Fälschen als große Kunst
Paolo Ciulla war eine schillernde Figur in Sizilien am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert. Ein begabter Bub aus Caltagirone, der mit gehörigem Talent ausgestattet dank eines Stipendium zum Maler wurde. Als Sozialrevolutionär und wegen seiner Homosexualität in der Heimat in Ungnade gefallen, verkehrte er am Montmartre mit Picasso auf Du und Du, landete in Buenos Aires aus politischen Gründen in der Irrenanstalt und brachte zurück auf Sizilien zwanzigtausend gefälschte Banknoten in Umlauf, um den Armen zu helfen. Im glänzend recherchierten historischen Roman von Maria Attanasio wird dieser sizilianische Robin Hood zwischen einfühlsamer Erzählung und essayistischen Einsprengseln plastisch und vertraut. (Florian Baranyi, ORF.at)
Maria Attanasio: Der kunstfertige Fälscher. Notizen über den kuriosen Fall des Paolo Ciulla aus Caltagirone. Aus dem Italienischen von Michaela Wunderle und Judith Krieg. Edition Converso, 218 Seiten, 18,60 Euro.
Coming-of-Age von Elena Ferrante
Erwachsenwerden kann ganz schön kompliziert sein. Erst recht, wenn man dabei auf verstörende Geheimnisse innerhalb der eigenen Familie stößt – wie Giovanna. Der Teenager ist neben dem Neapel der 1990er Jahre die Protagonistin in „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“. Die Erwartungen an Elena Ferrantes neues Buch waren nach dem Welterfolg ihrer vierbändigen Neapolitanischen Saga groß – und sie werden nicht enttäuscht. Der Cliffhanger am Ende lässt hoffen, dass es auch für Giovannas Geschichte eine Fortsetzung gibt. (Romana Beer, für ORF.at)
Elena Ferrante: Das lügenhafte Leben der Erwachsenen. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp, 415 Seiten, 24,70 Euro.

Verschwende deine Jugend
Ein „beinahe klassischer Coming-of-Age-Roman“, so kündigt auch Rowohlt Stefanie Sargnagels Romandebüt an. Mit lässigem Sound geht es ins Wien der 1990er Jahre: Das Hippie-Mädchen Sargnagel ist vom Schulleben angeödet, das wahre Leben spielt sich in der 30-m2-Gemeindebauwohnung vom „Aids-Michl“ ab, wo Alkis, Psychotiker und Schüler Unterschlupf finden. Die schrägen Figuren beschreibt die Autorin so leichtfüßig und auf Augenhöhe, dass es eine Freude ist. Subtil im Hintergrund: Die Story einer Jugend wider die Verwertungslogik, erzählt mit einem Augenzwinkern gegenüber sich selbst. (Paula Pfoser, für ORF.at)
Stefanie Sargnagel: Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin. Rowohlt Hundert Augen, 256 Seiten, 20,60 Euro.
Liebe, Sex, Schmerz, repeat
Bittersüß ist die Liebesgeschichte der irischen Jugendlichen Marianne und Connell. Denn es ist kompliziert: Er ist hübsch und beliebt, sie nicht, ihre Familie hat Geld, seine ist arm. Verwirrung über sexuelle Orientierung hilft auch nicht gerade. Über Jahre hinweg verfolgt Sally Rooney Höhen und Tiefen dieser Beziehung zwischen Liebe, Sex, Freundschaft und Verrat. Akkurat beobachtet, einfühlsam und mit spannender Erzähltechnik zeichnet sie nach, wie schwer es ist, jung, verletzlich und verliebt zu sein. Empfehlung: Wenn irgend möglich im Original lesen. (Johanna Grillmayer, ORF.at)
Sally Rooney: Normale Menschen. Aus dem Englischen von Zoe Beck. Luchterhand, 320 Seiten, 20,60 Euro.
Alpines Survivaltraining wider Willen
Sieben Menschen brechen zu einem organisierten Selbsterfahrungstrip in die Ötztaler Alpen auf, doch am nächsten Morgen finden sich drei davon verlassen und orientierungslos zwischen Stein und Geröll. Die niederösterreichische Autorin Ulrike Kotzina legt ihren vierten Roman als ein literarisches Experiment an. Für sieben Tage müssen der unsympathische Banker Wendelin, der Studienabbrecher Adam und die Kellnerin Jolina durch alle Abgründe der Gruppendynamik, während sie versuchen, heil ins Tal zu finden. Ein psychologisch hintersinniger Roman mit wohl dosierten Horrorelementen. (Florian Baranyi, ORF.at)
Ulrike Kotzina: Sieben Tage. Edition Laurin, 330 Seiten, 24,90 Euro.

Späte Entdeckung
Sie ist „Dienstleisterin an den staubigeren Rändern der akademischen Welt“, nicht mehr ganz jung, trägt praktische Schuhe und stillt ihr Bedürfnis nach Romantik mit anderer Leute Privatleben: Die bescheidenen Abenteuer dieser scheinbar farblosen Heldin wurden jetzt endlich auf Deutsch übersetzt – skandalöserweise erst knappe 60 Jahre nach ihrem Erscheinen. Dabei ist Barbara Pyms „In feiner Gesellschaft“ von einer Beschwingtheit, die jede Seite zum glucksenden Vergnügen macht. (Magdalena Miedl, für ORF.at)
Barbara Pym: In feiner Gesellschaft, übersetzt von Sabine Roth. DuMont, 350 Seiten, 20 Euro.
Japan aus der Froschperspektive
Wer sich angesichts des Titels „Brüste und Eier“ und des durchgeknallten Covers Softpornografisches erhofft, wird enttäuscht werden: Mieko Kawakami geht es in ihrem Roman um viel, aber kaum um das, was gemeinhin unter Sex verstanden wird. Anhand der Geschichte der in armen Verhältnissen großgewordenen Natsuko handelt sie die Themen künstliche Befruchtung, Asexualität und die Rolle von (armen) Frauen in der traditionellen Gesellschaft Japans ab. Der gewitzte, weibliche Blick und die Perspektive von Menschen aus prekären Verhältnissen ist erfrischend. (Johanna Grillmayer, ORF.at)
Mieko Kawakami: Brüste und Eier. Aus dem Japanischen von Katja Busson. DuMont, 496 Seiten, 24,70 Euro.
Reise in die türkisch-kurdische Gegenwart
Nach Jahrzehnten des Wiener Exils kehrt der ehemalige Widerstandskämpfer Ahmet Arslan in sein kurdisches Heimatdorf in Ostanatolien zurück. Im Bus dorthin gerät die Reise in die eigene Vergangenheit zur Auseinandersetzung nicht nur mit den eigenen inneren Widersprüchen, sondern auch mit den äußeren der türkischen Gegenwart. Grandios gelingt dem Wiener Autor Richard Schuberth die empathische Typenzeichnung, die authentische Beschreibung des Landes und die stetig an Tempo zulegende Dramatik der Erzählung, die ein „tierisches“ Ende findet. (Armin Sattler, ORF.at)
Richard Schuberth: Bus nach Bingöl. Drava, 280 Seiten, 21 Euro.
Familie, Traumata und große Gefühle
Eine Matriarchin feiert ihren 90. Geburtstag im Kibbuz, und rund um die Feier werden alte Wunden aufgerissen: David Grossman erzählt die Geschichte dreier Generationen einer jüdischen Familie und ihrer Traumata. Die willensstarke Vera überstand Jahre der Folter auf einer Gefängnisinsel in Titos Nachkriegsjugoslawien. Ihre Tochter Nina, als kleines Kind verlassen und verwaist, kam nie über diesen Schmerz hinweg. Rafael, der Nina liebt, muss ihr Leid mittragen – und ihrer beider Tochter Gili will all das in einem Film verarbeiten. Große Gefühle, großartig erzählt. (Johanna Grillmayer, ORF.at)
David Grossman: Was Nina wusste. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Hanser, 352 Seiten, 25,90 Euro.

Erinnerung an einen Junisonntag
Der Sonntag im Juni, an dem der Vater die Mutter töten wollte, hat sich tief ins Gedächtnis der damals zwölfjährigen Annie Ernaux eingebrannt. Mit „Die Scham“ ist ein weiteres Werk einer der wichtigsten zeitgenössischen Autorinnen Frankreichs auf Deutsch erschienen. Gekonnt verwebt Ernaux Erinnerung und Reflexion und zeichnet, ausgehend von jenem Junisonntag und eingerahmt in die eigene Biografie, einmal mehr eine radikale Milieustudie von Frankreichs Arbeiterklasse des vergangenen Jahrhunderts. (Romana Beer, für ORF.at)
Annie Ernaux: Die Scham. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp, 110 Seiten, 18,50 Euro.
Hirnschlag und Humor
Mit seiner autobiografischen Romanreihe stürmt er seit knapp zehn Jahren die Bestsellerlisten, in Band fünf hat er sich an die Gegenwart herangewagt: 2017 erlitt Joachim Meyerhoff einen Schlaganfall. „Hamster im hinteren Stromgebiet“ handelt von dieser Erfahrung – und von Rückblenden auf das ereignisreiche Leben des Schauspielstars. Rekonvaleszenz, Spitalsbiotop und Patchworkfamilie, erzählt (wie immer bei Meyerhoff) mit Tragik und viel Komik. Ein großes Lesevernügen. (Paula Pfoser, für ORF.at)
Joachim Meyerhoff: Hamster im hinteren Stromgebiet. Kiepenheuer & Witsch, 320 Seiten, 24,70 Euro.
Loblied auf das Jetzt
Jetzt schreibt er auch noch ein Buch! Mit diesen Worten beginnt Manuel Rubey, österreichischer Schauspieler und Liebling des Boulevards, sein erstes Buch „Einmal noch schlafen, dann ist morgen“. In dieser überzeugenden Kombination aus persönlichen Erfahrungen, popkulturellen Zitaten und leidenschaftlichen Listen plädiert Rubey mit Witz und Scharfsinn für Entschleunigung, Reduktion und das Leben im Jetzt. Gnadenlos ehrlich berichtet er von toxischen Beziehungen und Panikattacken, die ihn aus der Bahn geworfen haben, und von der Erkenntnis, dass im Leben nichts planbar und so vieles schön ist. Ein Buch, das nachdenklich und glücklich zugleich macht. (Sonia Neufeld, ORF.at)
Manuel Rubey: Einmal noch schlafen, dann ist morgen. Molden Verlag, 76 Seiten, 23 Euro.

Memoiren einer kämpferischen Ikone
Barack Obama, Beyonce, James Baldwin, Toni Morrison und Oprah Winfrey zählen zu ihren Fans: Maya Angelou (geboren 1928), die Ikone der afroamerikanischen Literatur, erzählt in „Was für immer mir gehört“ ihre Lebensgeschichte. Wie sie die Südstaaten hinter sich lässt und in Kalifornien ihre Träume verwirklichen will. Wie sie als arme, alleinerziehende, schwarze junge Frau auf der Suche nach Freiheit und Unabhängigkeit eine Karriere als Tänzerin anstrebt und gegen massive Widerstände kämpft. Angelous Memoiren sind die Erinnerungen einer brillanten Autorin und die Fortsetzung ihrer ersten Autobiografie „Ich weiß, dass der gefangene Vogel singt“. Zwei Bücher, die man gelesen haben sollte. (Sonia Neufeld, ORF.at)
Maya Angelou: Was für immer mir gehört. Aus dem amerikanischen Englisch von Melanie Walz. Suhrkamp, 247 Seiten, 16,90 Euro.