Eine Auswahl von Sachbüchern liegt auf weihnachtlichem Christbaumschmuck
ORF.at/Patrick Bauer
Empfehlungen

Die Sachbücher fürs Weihnachtspackerl

Historisches über Josephine Baker oder die Philosophie im Schatten des Totalitarismus, Gegenwärtiges zu Erdöl, Pilzen oder einer feministischen Ich-Werdung: Die Sachbücher der Saison locken mit Diskussionsstoff und großem Lesevergnügen. In den nächsten Tagen folgen Bildbände und Krimis. Kinderbücher und Romane sind bereits weiter unten verlinkt.

Revolte und Kriecherei im 19. Jahrhundert

Der Historiker Orlando Figes (besonders für seine Beschäftigung mit Stalin bekannt) ist auch ein begnadeter Journalist und Geschichtenerzähler. Diesmal nimmt er die Leserschaft mit ins Europa des 19. Jahrhunderts, als alles so entstand, wie wir es heute als Kulturleben kennen: prekäre Künstlerexistenzen, Dispute um Urheberrechte, eitle Streitereien, Revolte, Kriecherei bei Mäzenen und irgendwo dazwischen aufblitzend große Kunst. Das wäre schon spannend genug, aber Figes hantelt sich in seinem Buch der verbotenen On- und Off-Beziehung der Opernsängerin Pauline Viardot und des Schriftstellers Iwan Turgenew entlang. Unendlich spannend – auch mit Blick aufs Heute. (Simon Hadler, ORF.at)

Orlando Figes: Die Europäer. Übersetzt von Bernd Rullkötter. Hanser Berlin, 640 Seiten, 35 Euro.

Porträt vier großer Denkerinnen

Simone de Beauvoir und Hannah Arendt, Simone Weil und Ayn Rand: Anschließend an seinen Weltbestseller zur Philosophie der Zwischenkriegszeit nimmt sich Wolfram Eilenbergers neues Buch der „Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten“ an, zwischen 1933 und 1943. Seine Würdigung der vier großen Philosophinnen verknüpft gelungen Ideengeschichte und Biografien. Philosophievermittlung mit Spannungsbögen und atmosphärischer Dichte – Eilenberger ist ein toller Erzähler. (Paula Pfoser, für ORF.at)

Wolfram Eilenberger: Feuer der Freiheit. Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten (1933-1943). Klett-Cotta, 400 Seiten, 25,70 Euro.

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Der Glamour ist politisch

Nackttänzerin, Widerstandskämpferin, erster schwarzer Superstar, Hobbyfliegerin, Komödiantin und Bürgerrechtsaktivistin: Damit sich das alles in einem Leben ausgeht, muss eine Frau schon Josephine Baker heißen. Sie war leidenschaftlich in ihren Beziehungen und selbstbewusst in ihrer politischen Haltung, eine, die unbeugsam Stellung bezog. Dass die Diva und ihr mutiges Leben heute nicht präsenter sind, ist eine große Ungerechtigkeit, die die Biografin Mona Horncastle in ihrem sorgfältig recherchierten und kontextualisierten Band auszugleichen versucht. (Magdalena Miedl, für ORF.at)

Mona Horncastle: Josephine Baker – Weltstar, Freiheitskämpferin, Ikone. Molden Verlag, 256 Seiten, 28 Euro.

Die Schönheit der Verweigerung

Ihrem vielbeachteten Essay „Wenn Männer mir die Welt erklären“ ist zu verdanken, dass es mit „Mansplaining“ ein Wort für das Verhalten besserwisserischer Männer gibt. In „Unziemliches Verhalten“ erzählt Rebecca Solnit nun von ihren Anfängen als Autorin und Aktivistin im San Francisco der 1980er und 1990er Jahre und beschreibt die „radikale Schönheit“, die darin liegt, sich zugewiesener Rollen zu verweigern. Solnits Verknüpfung von persönlicher und stuktureller Ebene ist kurzweilige Autobiografie und politisches Manifest gleichermaßen. (Romana Beer, für ORF.at)

Rebecca Solnit: Unziemliches Verhalten, Wie ich Feministin wurde. Aus dem amerikanischen Englisch von Kathrin Razum. Hoffmann & Campe, 272 Seiten, 23,70 Euro.

Frauen gegen die Mafia

Ob Cosa Nostra, ’Ndrangheta oder Camorra – Geschichten über die Mafia handeln meist von Männern. Nicht so bei Mathilde Schwabeneder. Nach „Die Stunde der Patinnen“ (über Frauen an der Spitze von Mafia-Clans), erzählt die langjährige ORF-Italien-Korrespondentin nun in „Sie packen aus“ von zehn mutigen Frauen, die sich mit dem organisierten Verbrechen anlegen und damit ihr Leben riskieren. Spannend und hochaktuell – denn „die Mafia ist präsenter denn je“, wie die im Buch porträtierte 85-jährige Fotografin Letizia Battaglia sagt. (Romana Beer, für ORF.at)

Mathilde Schwabeneder: Sie packen aus. Molden, 192 Seiten, 23 Euro.

Ein Mutmachbuch über die Angst

Einblicke in ihre über 20-jährige Arbeit als Krisenreporterin wären alleine schon ein Buch wert. „Angst“ ist aber noch viel mehr: Petra Ramsauer erzählt nicht nur von ihren Erlebnissen in Syrien, Libyen und dem Irak, sie analysiert auch die Angst als elementares Gefühl, das einen lähmen, aber auch beflügeln kann. Und sie schildert überzeugend, warum es wichtig ist, sich seinen Ängsten zu stellen. Ein Buch, das – gerade in unsicheren Zeiten – vermag, den Leserinnen und Lesern Mut zu machen. (Romana Beer, für ORF.at)

Petra Ramsauer: Angst. Kremayr & Scheriau, 128 Seiten, 18 Euro.

Bewegungen für die Zukunft

Wie stellen wir uns unser Zusammenleben im 21. Jahrhundert vor? Diese Frage stellt Alicia Garza, Mitbegründerin von „Black Lives Matter“, in ihrem Buch „Die Kraft des Handelns“ und zeigt, welchen Einsatz es erfordert, wenn man die Welt verändern will und Schweigen keine Option mehr ist. Garza beschreibt sich selbst als queere Aktivistin für soziale Gerechtigkeit und erzählt von ihrem Aufwachsen als schwarze Frau in einem vorwiegend weißen Vorort von San Francisco. Wer von einer Betroffenen erfahren will, was in den USA schiefläuft und wie man eine gut organisierte Bewegung aufbaut, wird hier fündig. (Sonia Neufeld, ORF.at)

Alicia Garza: Die Kraft des Handelns. Aus dem amerikanischen Englisch von Katrin Harlass u. a. Tropen Verlag, 400 Seiten, 20,60 Euro.

Kultureller Brandbeschleuniger

Nicht erst seit „Fridays for Future“ ist klar, dass es für eine emissionsärmere Zukunft Alternativen für unseren Energieträger Nummer eins braucht: Erdöl. Die beiden Kulturwissenschaftler Aleksander Klose und Benjamin Steininger beleuchten die andere Seite der Medaille. So erfährt man in informierten und dichten Häppchen über die technischen, kulturellen und ästhetischen Innovationen, die mit unserem Hunger nach Öl eng verknüpft waren. Denn: „Nur wenn wir begriffen haben, womit wir es seit 150 Jahren in unseren Motoren, Laboren, Körpern und Träumen zu tun haben, können wir uns von dieser ebenso zauberhaften wie verhängnisvollen Substanz wieder lösen.“ (Florian Baranyi, ORF.at)

Alexander Klose und Benjamin Steininger: Erdöl. Ein Atlas der Petromoderne. Matthes & Seitz, 324 Seiten, 26,80 Euro.

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Das Leben als Pilz

Eine Reise in die vernetzte Welt der Pilze beschreibt das Buch „Verwobenes Leben“ des Forschers Marlin Sheldrake. Pilze sind so gut wie überall – in der Erde, der Luft und in unserem Körper. Und die riesigen Pilznetzwerke können Tausende von Jahren alt werden. Doch wie sieht denn so ein Pilzleben eigentlich aus? Sheldrake stellt in seinem Buch auch die Frage der Intelligenz und der Interaktion der seltsamen Lebewesen, die weder Pflanzen noch Tiere sind. Und auch die zahlreichen Anwendungen und die biochemischen Prozesse sind Thema des Buches – von Heilmitteln bis hin zu Magic Mushrooms. (Peter Bauer, ORF.at)

Merlin Sheldrake: Verwobenes Leben. Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen. Ullstein Verlag, 464 Seiten, 29,90 Euro.

Amüsante Reise ins Wien der Zwischenkriegszeit

Sogar Karl Kraus hat ihn gewürdigt: Ludwig Hirschfeld, der lang vergessene Wiener Feuilletonist der Zwischenkriegszeit, wird gerade wiederentdeckt. Im Löcker Verlag erschien ein Essayband und bei Milena nun sein essayistischer Reiseführer, mit dem es äußerst unterhaltsam auf Reise geht, in das Wien der Zwischenkriegszeit. Von der Burgtheatergesellschaft bis hin zum „Schnitzel mit Charlestongarnierung“: eine augenzwingende Annäherung an eine verloren gegangene, vergessene und doch allzu bekannte Stadt – über die man, so Hirschberg, nur „mit einem lächelnden und einem nörgelnden Auge“ schreiben kann. (Paula Pfoser, für ORF.at)

Ludwig Hirschfeld: Wien. Was nicht im Baedeker steht. Milena, 256 Seiten, 23 Euro.

Erzählen über Musik

„Ich wollte schon immer über Klassik reden, als sei sie populäre Musik – und über populäre Musik, als sei sie Klassik“, so beschreibt Alex Ross, einer der renommiertesten US-Musikkritiker, seinen Zugang zu dieser besonderen Kunstrichtung. In seinem Buch „Listen to this“ erzählt er von seinen ersten Erfahrungen mit den großen Meistern der Klassik, von der Entdeckung des Punkrock und der Auseinandersetzung mit der Avantgarde der Gegenwart. Eine unterhaltsame musikalische Reise auf den Spuren von Bach, Brahms und Schubert bis hin zu Bob Dylan, Björk und Radiohead. (Sonia Neufeld, ORF.at)

Alex Ross: Listen to this. Über Musik. Aus dem amerikanischen Englisch von Dieter Fuchs. Rowohlt Taschenbuch, 432 Seiten, 14,40 Euro.

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Killerviren im Kino

Der Wiener Filmwissenschaftler und Poptheoretiker Drehli Robnik hat den ersten Lockdown genutzt, um 167 Epidemiefilme aus 100 Jahren Kinogeschichte zu sichten. Entstanden ist daraus der Band „Ansteckkino“, der klarmacht: Übertragbare Krankheiten mussten schon immer für politische Agenden herhalten. Ob im DDR-Heldenepos „Semmelweis – Retter der Mütter“ (1950) oder im jugoslawischen Pocken-Schocker „Variola Vera“ (1982): Ansteckend ist alles Mögliche. Auch die politische Gesinnung, die sich im Namen der Infektionsvermeidung (oder im Protest dagegen) manifestiert. (Maya McKechneay, für ORF.at)

Drehli Robnik: Ansteckkino. Eine politische Philosophie und Geschichte des Pandemie-Spielfilms von 1919 bis Covid-19. Neofelis, 172 Seiten, 16,50 Euro.

Erinnerungen an die gestrigen Kämpfe

Der Germanist Helmuth Lethen, Jahrgang 1939, gilt als einer der Begründer der deutschsprachigen Kulturwissenschaft. Seine methodische Offenheit und sein unkonventionelles Denken sind Produkt eines Lebens voller Brüche: Als Student Teilnehmer der Studentenproteste 1968 radikalisiert und in der BRD als Mitglied einer kommunistischen Splittergruppe mit Berufsverbot belegt, verbrachte er viele Jahre in den Niederlanden, um akademisch arbeiten zu dürfen. Diese Erfahrung hat ihm alles Dogmatische suspekt werden lassen. In seiner Autobiografie erzählt dieser unkonventionelle Intellektuelle die Geschichte seiner Generation als Bildungsroman – packender lassen sich die Wechselwirkungen von Politik und Individuum kaum schildern. (Florian Baranyi, ORF.at)

Helmuth Lethen: Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Rowohlt, 382 Seiten, 24,70 Euro.

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Die Vergangenheit der Multikulturalität

Christian Reder zäumt die Debatte über Migration und Toleranz historisch von hinten auf. Wo hat es im Mittelmeerraum in der Vergangenheit Städte gegeben, in denen Multikulturalität problemlos funktioniert hat? Die Antwort ist verblüffend und umfangreich. Was heute als neues und vielfach hinterfragtes Konzept des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen gilt, war früher oft gelebte Normalität. Woran es heute oft scheitert, analysiert Reder gnadenlos. Das Buch ist voll von neuen Denkansetzen und für alle spannend, die akademischen Duktus nicht fürchten. (Simon Hadler, ORF.at)

Christian Reder: Mediterrane Urbanität. Mandelbaum, 480 Seiten, 27 Euro.

Class matters

Viel wird derzeit über Identitätspolitik gesprochen: Neben Geschlecht, Hautfarbe und sexueller Orientierung kommt dabei das Thema Klasse selten zur Diskussion. Die afroamerikanische Feministin und Literaturwissenschaftlerin bell hooks ist in den USA längst ein Star, jetzt werden ihre Werke auch ins Deutsche übersetzt. Sie analysiert den Einfluss von Klasse anhand ihrer eigenen Geschichte, als Tochter aus armen Verhältnissen. Auch Querverbindungen zu Feminismus und Antirassismus zeigt hooks auf, ebenso wie die sich ändernde Bedeutung des Begriffs „Armut“. (Johanna Grillmayer, ORF.at)

Bell hooks: Die Bedeutung von Klasse. Aus dem amerikanischen Englisch von Jessica Yawa Agoku. Unrast. 180 Seiten, 14,40 Euro.

Mit Pocahontas die Welt betreten

Mit der Wiederveröffentlichung des vierbändigen Pocahontas-Komplexes von Klaus Theweleit setzt der Verlag Matthes & Seitz seine Theweleit-Ausgabe fort. Der studierte Literaturwissenschaftler setzt sich in den Büchern mit der Rolle von Frauen in der Geschichte auseinander. Im wilden Methodenmix geht es in einer Achterbahnfahrt der Gedanken von der antiken Geschichte (etwa mit Medea) über jene der „Indianerprinzessin“ Pocahontas bis hin zu Werbung und Popkultur der heutigen Zeit. Mit seinem elaborierten Wissen, den zahlreichen anregenden Gedanken sowie den Bildervergleichen, die an den Kunsthistoriker Aby Warburg erinnern, zieht einen Theweleit in dieses Mammutwerk hinein. (Peter Bauer, ORF.at)

Klaus Theweleit: Pocahontas in Wonderland Shakespeare on Tour. Indian Song. Pocahontas 1. Matthes & Seitz, 744 Seiten, 45,30 Euro.
Buch der Königstöchter. Von Göttermännern und Menschenfrauen. Mythenbildung vorhomerisch, amerikanisch. Pocahontas 2. Matthes & Seitz, 744 Seiten, 45,30 Euro.
Warum Cortes wirklich siegte. Technologiegeschichte der eurasisch-amerikanischen Kolonialismen. Pocahontas 3. Matthes & Seitz, 616 Seiten, 39,10 Euro.
„You give me fever“. Arno Schmidt. Seelandschaft mit Pocahontas
Die Sexualität schreiben nach WWII. Pocahontas 4. Matthes & Seitz, 744 Seiten, 35 Euro.