Der Schüler Yussef Ghannam
ORF
Jugoslawien, Syrien

„Kriegskinder“ in Österreich

Ob Ältere, die während oder kurz vor dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, ob Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien oder Syrien: In Österreich leben viele, die als Kinder im Krieg aufwuchsen. Auch Yussef Ghannam und Melika Ramic waren Kinder, als in ihrer Heimat der Krieg ausbrach. Die beiden teilen ihre Erfahrungen. Experten erklären im Gespräch mit ORF.at, welche Folgen die Angst haben kann.

Es gibt nicht den einen Moment, wo der Krieg in sein Leben getreten ist, sagt der heute 20-jährige Syrer Yussef, sondern es war ein Prozess. Ein Tag hat sich aber besonders in sein Gedächtnis eingebrannt. Es war April 2013, der letzte Tag des Ramadans: „Ich war wie alle meine Freunde schön angezogen. Es hieß, es sei Waffenstillstand, damit die Kinder feiern können.“

Die Freunde waren auf einem Ausflug in die Stadt, bei einem Supermarkt machten sie einen Zwischenstopp, um noch Kaugummi zu besorgen. Kaum hatte Yussef das Geschäft betreten, wurde er auf den Boden geworfen. Vor dem Supermarkt fiel die erste Bombe. Yussef war damals 13 Jahre alt.

Kinder mit Kriegsvergangenheit

Ob ältere Frauen und Männer, die während oder kurz vor dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, ob Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien oder Syrien: In Österreich leben viele, die als Kinder einen Krieg erleben mussten.

TV-Hinweis

„Universum History“ bringt am 4. Dezember um 22.25 Uhr in ORF2 den Beitrag „Kriegskinder – Leben in Trümmern“ in voller Länge

Die Normalität bricht ein

Seit dem Inkrafttreten der Kinderrechtskonvention vor mehr als 30 Jahren war die Zahl der Länder, die sich in einem Konflikt befinden, nicht mehr so hoch wie heute – das belegen Zahlen des UNO-Kinderhilfswerks (UNICEF). Kriege und Konflikte haben weltweit mehr als 30 Millionen Kinder vertrieben, allein in Syrien sind es laut Schätzungen von UNICEF etwa sechs Millionen Kinder, die vom Bürgerkrieg betroffen sind.

Yussef lebte mit seiner Familie etwas außerhalb von Aleppo. Die Kämpfe haben sein Leben und seine Denkweise komplett verändert, sagt er im Interview mit ORF.at. „Ich musste auf einmal mit 20-Liter-Kanistern losmarschieren und Wasser holen, anstatt Fußball zu spielen, weil wir wochenlang weder Strom noch Wasser hatten. Man hat versucht, mit dem Krieg so gut wie möglich klarzukommen, aber es hat nie geklappt.“

Kinderfoto von Yussef Ghannam
Yussef Ghannam
Yussef als junger Bursche zu Kriegszeiten in Syrien

Eltern tragen plötzlich Waffen

Auch Melika hat als Kind einen Krieg erlebt. Sie wuchs in der bosnischen Kleinstadt Donji Vakuf auf. Sie war acht Jahre alt, als der Krieg 1991 in ihr Leben drang – schleichend: „Wir haben Schüsse gehört und gemerkt, da passiert etwas um den Ort herum, in den Wäldern und Bergen.“

Zum Schutz verbrachte die Familie immer häufiger die Nächte bei Bekannten. Bald durften die Kinder nicht mehr draußen spielen, sie sollten sich von den Fenstern fernhalten. „Mein Vater hat plötzlich angefangen, eine Waffe zu tragen, und meine Mutter hatte ein Klappmesser“, erinnert sich Melika. „Ich dachte: Krass, meine Eltern haben jetzt Waffen.“

Melika Ramic als Kind mit Cousinen
Melika Ramic
Melika (M.) und ihre Cousinen, zu denen Familie Ramic 1992 in Oberösterreich gezogen ist

Angst und Stress bestimmen das Leben

Die Gefühle und Ängste, die den Alltag der Kinder in Kriegsgebieten prägen, sind vielfältig. Die größte Angst ist, dass Familienangehörigen oder ihnen selbst etwas zustößt, erklärt der Gesundheitstrainer Abdalla Mohammad vom Verein AFYA. Mohammad arbeitet mit Kindern an Schulen in Wien, die Flucht- und Migrationshintergrund haben.

Die eigenen Eltern in Angst und Sorge zu sehen, kann in den Kindern großen Stress verursachen. Dazu kommen auch Schuldgefühle: „Wenn Kinder nicht verstehen, was um sie herum passiert, und sie die Eltern in Angst sehen, machen sie sich oft selbst dafür verantwortlich“, erklärt Mohammad im Interview.

Schule fällt als Halt weg

Gleichzeitig kommen zu den belastenden Gefühlen von Angst und Sorge auch die Trauer, nicht mehr in die Schule gehen und seine Freunde treffen zu können. Schule biete Kindern in jeder Situation, vor allem auch in Krisensituationen, Halt und Struktur, erklärt der Psychologe.

Der Schüler Yussef Ghannam
Harald Schweidler
Yussef lebt heute in Österreich

Flucht als letzter Ausweg

Im Sommer 2015 fassten die Eltern von Yussef den Entschluss, dass er Aleppo verlassen muss. Zu gefährlich sei das Leben in der syrischen Stadt, vor allem für junge Männer. „An einem Montag im September sagte mein Bruder zu mir: ‚Übermorgen fahren wir.‘ Verabschiede dich von deinen Freunden und pack deine Sachen.“ Yussef erinnert sich, dass er traurig und verwirrt zugleich war: „Ich wollte meine Familie und Freunde nicht verlassen, gleichzeitig wollte ich in Sicherheit leben.“

Auch für Melika kam der Tag der Flucht überrumpelnd. Im Februar 1992 beschloss der Vater, dass die Familie zu Bekannten aufs Land zieht – der Anfang ihrer Flucht nach Österreich. Melika hatte keine Zeit, sich von Freunden und ihren geliebten Großeltern zu verabschieden. Nur von der Lieblingstante war ein Abschied möglich: „Es war tiefster Winter, ganz hoher Schnee, und alle haben geweint. Es war so eine Mischung zwischen – wir sehen uns bald, aber keine Ahnung, wann wir uns wiedersehen.“

Melika Ramic auf einer Brücke
Melika Ramic
Melika Ramic arbeitet heute als freischaffende Theaterregisseurin. Hier ein Urlaubsfoto.

Kriege hinterlassen tiefe Spuren

Bei Kindern mit Kriegserfahrung treten Traumasymptome wie Flashbacks und Alpträume oft erst in Sicherheit auf, erklärt Mohammad. Wiederkehrende Alpträume können dazu führen, dass die Kinder das Schlafengehen vermeiden. Eine permanente Übermüdung und Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, sind die Folge. Betroffene überreagieren emotional, können manchmal sich selbst oder andere verletzen. „Wenn Kinder unter psychischen Traumafolgen leiden, löst das oft eine Angst aus, verrückt zu sein“, so Mohammad.

Die Kinder seien unbewusst ständig damit beschäftigt, die schlimmen Erinnerungen und Gedanken im Kopf zu unterdrücken. Vor allem, wenn die Betroffenen bereits in jungen Jahren wichtige Bezugspersonen verloren haben, kann der Verlust sie daran hindern, Vertrauen zu entwickeln und neue Freundschaften einzugehen.

Mit dem Erlebten umgehen lernen

„Schreckliche Erfahrungen müssen einen Menschen aber nicht zerbrechen“, sagt die Historikerin Barbara Stelzl-Marx vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung. Stelzl-Marx untersucht Kriegs- und Nachkriegskindheiten aus der Zeit vom Zweiten Weltkrieg. Die Untersuchungen haben gezeigt, dass Betroffene auch Resilienz bilden können, also psychische Widerstandskraft. „Es gibt äußere und innere Faktoren, die dazu beitragen, dass die Menschen aus so einer schwierigen Situation gestärkt herausgehen können“, erklärt Stelzl-Marx im Interview. Dazu gehören ein sicheres, förderndes Umfeld sowie enge Bezugspersonen, die den Betroffenen Geborgenheit vermitteln.

Die Zeit danach

Über die Türkei und Griechenland flüchtete Yussef im Herbst 2015 nach Wien. Heute lebt er in Wien und macht gerade seinen Schulabschluss. Wie das Erlebte ihn geprägt hat, kann Yussef nicht genau sagen. „Ich habe viel dadurch gelernt. Es kann sein, dass mein Verhalten sich verändert hat, aber das kann ich nicht wirklich sagen, weil wir über einen Zeitraum von fünf Jahren reden.“

Im Sommer 1992 kam Melikas Familie in der Nähe von Linz an. Nach ihrem Schulabschluss zog Melika für das Studium nach Wien und arbeitet heute als freischaffende Theaterregisseurin. Lange wollte sie sich nicht mit den Themen Krieg und Flucht auseinandersetzen. Das änderte sich, als Melika 2010 bei den Wiener Festwochen mitarbeitete. Der Programmschwerpunkt über Künstlerinnen und Künstler und ihre Kriegserfahrungen hieß damals „Generation (Ex) Yu“. „Das war verrückt für mich, dass mich das Theater genau zu dem Thema zurückholt, mit dem ich mich nicht beschäftigen wollte.“ Schritt für Schritt hat Melika begonnen, sich seitdem mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen – und auch mit ihr zu versöhnen.