Der ehemalige französische Präsident Giscard d’Estaing
Reuters/Benoit Tessier
1926–2020

Valery Giscard d’Estaing ist tot

Der frühere französische Staatschef Valery Giscard d’Estaing ist tot. Der Zentrumspolitiker, der von 1974 bis 1981 im Elysee-Palast amtierte, starb im Alter von 94 Jahren in seinem Haus im zentralfranzösischen Departement Loir-et-Cher, wie die französische Nachrichtenagentur AFP heute Abend berichtete. Laut einer Erklärung der Familie starb er an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung.

Die Beisetzung solle im engsten Familienkreis stattfinden. Ein Termin wurde nicht genannt. Giscard d’Estaing war erst kürzlich nach einem fünftägigen Aufenthalt aus dem Krankenhaus im westfranzösischen Tours entlassen worden.

Er war ein überzeugter Europäer und äußerte sich in der französischen Öffentlichkeit bis ins hohe Alter zu EU-Fragen. In den 1970er Jahren bildete er mit dem damaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) ein vorbildhaftes deutsch-französisches Duo. Der hochgewachsene Franzose mit einem aristokratischen Auftreten überlebte seine Nachfolger Francois Mitterrand (1916–1996) und Jacques Chirac (1932–2019). An der Trauerfeier für Chirac im September 2019 in Paris nahm er noch teil.

Liberalisierung von Ehe- und Abtreibungsrecht

Giscard d’Estaing wurde am 2. Februar 1926 im deutschen Koblenz im damals französisch besetzten Rheinland geboren. Nach dem Zweiten Weltkrieg absolvierte er die französische Elitehochschule ENA. Er stieg dann zum Wirtschafts- und Finanzminister auf. Nach dem Tod von Präsident Georges Pompidou wurde er im Alter von 48 Jahren in das höchste Staatsamt gewählt.

Der ehemalige französische Präsident Giscard d’Estaing
Reuters/Vincent Kessler
Giscard d’Estaing galt als glühender Europäer

Giscard d’Estaing setzte im Elysee-Palast gesellschaftliche Reformen wie die Liberalisierung des Ehe- und Abtreibungsrechts durch. Gegen Ende seiner Amtszeit litt jedoch seine Popularität – unter anderem wegen der Affäre um ein Diamantengeschenk des zentralafrikanischen Diktators Jean-Bedel Bokassa.

Reformkonvent sollte EU erneuern

Von 2002 an führte Giscard den EU-Reformkonvent, der zur Erneuerung der Europäischen Union einen Verfassungsentwurf vorlegte. Mit dem Nein Frankreichs und der Niederlande bei Volksabstimmungen im Jahr 2005 scheiterte das Vorhaben jedoch spektakulär. Danach übernahm der EU-Vertrag von Lissabon wichtige Regelungen der abgelehnten Verfassung. 2003 erhielt der Europapolitiker Giscard d’Estaing den Karlspreis der Stadt Aachen.

Mehrere Bücher verfasst

Giscard d’Estaing nahm im Juni zu einem gegen ihn erhobenen Vorwurf der sexuellen Belästigung Stellung. „Das ist alles grotesk“, sagte er dem französischen Radiosender RTL. Eine Reporterin des WDR hatte ihm vorgeworfen, sie sexuell belästigt zu haben. Er habe ihr „nach einem Interview, das ich mit ihm im Dezember 2018 in Paris geführt habe, mehrfach an das Gesäß gefasst“, hatte Ann-Kathrin Stracke der dpa gesagt. Sie bestätigte, Strafanzeige wegen sexueller Belästigung gestellt zu haben. Die Pariser Staatsanwaltschaft nahm eine Untersuchung auf.

2003 wurde Giscard in die prestigereiche Gelehrtengesellschaft Academie francaise gewählt, deren Mitglieder „die Unsterblichen“ genannt werden. Er verfasste auch mehrere Bücher, unter anderem den Roman „Die Prinzessin und der Präsident“. Darin erzählt er, wie ein französischer Präsident namens Jacques-Henri Lambertye mit Prinzessin Patricia von Cardiff anbandelt.

Der Roman ist reich an Anspielungen – ganz Paris spekulierte danach, ob Giscard d’Estaing eine Affäre mit Prinzessin Diana hatte oder nur reich mit Fantasie gesegnet war. „Wir wollen mal nicht übertreiben: Ich kannte sie ein wenig, wir hatten ein vertrauensvolles Verhältnis“, sagte Giscard einmal.

Trauer in Frankreich

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron würdigte Giscard d’Estaing als „Diener des Staates“ und „Politiker des Fortschritts und der Freiheit“. Giscard D’Estaing habe „Frankreich verändert“. Seine Vorgaben würden „noch immer unsere Schritte leiten“. Es sei ihm gelungen, „das politische Leben in Frankreich zu modernisieren“, sagte der ehemalige Präsident Nicolas Sarkozy. Er habe „Bewunderung“ für ihn empfunden. Mit „großer Intelligenz“ habe dieser „auch die komplexesten internationalen Probleme“ gemeistert.

Sarkozys Nachfolger Francois Hollande sagte, Frankreich habe „einen Staatsmann verloren, der sich für eine Öffnung zur Welt“ entschieden habe. Giscard d’Estaing sei „entschieden europäisch“ aufgetreten und habe zur Stärkung der deutsch-französischen Beziehungen beigetragen.