Sigmund Freud und seine Tochter Anna bei der Ankunft in London im Jahr 1938
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Psychoanalyse

Freud als Übervater der Flüchtlinge

Sigmund Freud hatte zeitlebens ein ambivalentes Verhältnis zu Österreich, trotzdem flüchtete er erst im allerletzten Moment vor den Nazis. Doch selbst in der kurzen Zeit seines Londoner Exils wurde Freud zu einer zentralen Figur für die anderen österreichischen Flüchtlinge: Sowohl seine eigene Fluchterfahrung als auch Sprache und Denkweise der Psychoanalyse machten Freud für viele seiner Landsleute zu einem Angelpunkt in ihrem Leben und Wirken. Und vor allem leisteten sie wichtige Beiträge zu einer „Vermenschlichung“ des gesellschaftlichen Dialogs in Großbritannien, so die These eines neuen Buches über österreichische Emigranten und Flüchtlinge und das Erbe der Psychoanalyse in Großbritannien.

Etwa 31.000 Österreicherinnen und Österreicher flüchteten vor den Nazis nach Großbritannien, etwa 90 Prozent waren Juden. Unter ihnen nicht wenige, die sich als Künstlerinnen oder Wissenschaftler bereits in Wien einen Namen gemacht hatten. Viele waren in Großbritannien de facto ohne Rechte, manche völlig besitzlos – und es gab neben Unterstützung teils auch eine ablehnende bis antisemitische Stimmung.

Freud – der Anfang Juni 1938 in London ankam und dort im September des darauffolgenden Jahres starb – und das psychoanalytische Sehen der Welt halfen vielen Exilantinnen und Exilanten, ihr Leben nach dem Trauma der Flucht selbstbestimmt neu zu gestalten.

„Vermenschlichung“ durch Psychoanalyse

In dem von der Kultur- und Designhistorikerin Elana Shapira und der Germanistin und wissenschaftlichen Leiterin des Freud-Museums, Daniela Finzi, herausgegebenen Sammelband „Freud and the Emigre: Austrian Emigres and Exiles and the Legacy of Psychoanalysis in Britain“ wird darüber hinaus aber noch eine weitere, bisher wenig beleuchtete Facette der Geschichte der Vertreibung der Psychoanalyse nach London beleuchtet: Der enge Bezug auf die Psychoanalyse führte bei einigen Wiener Emigrantinnen und Emigranten dazu, dass
Selbstreflexion und soziale Verantwortung das künstlerische und wissenschaftliche Schaffen prägten. Das wiederum habe zu einer „Vermenschlichung“ des Diskurses geführt, wie es Shapira in der Einleitung nennt.

Herausgearbeitet wird das anhand bekannter Österreicherinnen und Österreicher wie der Psychoanalytikerin Anna Freud, dem Schriftsteller Stefan Zweig, dem Filmdirektor Berthold Viertel, dem Maler Oskar Kokoschka, der Sozialpsychologin Marie Jahoda, den Kunsthistorikern Ernst Kris und Ernst H. Gombrich und der Autorin Hilde Spiel.

Das Gemälde „Travelers“ von Marie Louise von Motesiczky
Marie-Louise von Motesiczky Charitable Trust 2021
In „Die Reisenden“ verarbeitete die Wiener Malerin Marie-Louise von Motesiczky 1940 ihre Flucht vor den Nazis nach England. Sie griff dabei auf das Motiv eines mit Menschen beladenen Schiffes zurück.

Psychoanalytische Konzepte für eine Demokratisierung

Unmittelbar nachvollziehbar wird das etwa an Freuds Tochter Anna. Diese war in London nach dem Tod ihres Vaters einerseits mit internen Richtungsdebatten innerhalb der psychoanalytischen Bewegung beschäftigt. Vor allem aber baute sie mit ihrer langjährigen Freundin Dorothy Burlingham das Kriegskinderheim Hampstead War Nurseries auf. Sie behandelte dort ab 1940 zahlreiche Kinder und half ihnen dabei, mit den durch den Krieg und insbesondere die Luftangriffe durch Nazi-Deutschland ausgelösten Ängsten und Stress fertigzuwerden. Später wurden auch Waisenkinder aus dem KZ Theresienstadt von Anna Freud und ihrem Team betreut. Gleichzeitig beobachtete und untersuchte Anna Freud die Kinder psychoanalytisch.

Sie habe damit einen wichtigen Beitrag in der völlig neuartigen Debatte, die in den 1930er Jahren angesichts der neuen Kriegsgefahr aufgeflammt war, so die Autorin des Beitrags, Michal Shapira: jene über die Folgen für die psychische Gesundheit der Zivilbevölkerung.

Tiefsitzende Ängste als gesellschaftliche Gefahr

Denn die Bedrohung durch Nazi-Deutschland und dann die Erfahrung der Luftangriffe Nazi-Deutschlands rückten erstmals die mentale Gesundheit der Zivilbevölkerung in Großbritannien in den Mittelpunkt. Psychoanalytikerinnen wie Anna Freud leisteten dabei einen wesentlichen Beitrag zu einem neuen Verständnis und neuen Umgang mit vom Krieg geprägten „schwierigen“ Erwachsenen und vor allem Kindern.

Anna Freud erkannte etwa, dass das eigentlich traumatische für Kinder an den Angriffen der Deutschen Wehrmacht weniger die Bombenangriffe waren – viel schwerer traf sie die Trennung von den Eltern. Bei Kindern, die während des Kriegs evakuiert und zu Adoptivfamilien aufs Land gebracht wurden, wurden oft Bettnässen und Angstzustände festgestellt. Das Ziel von Anna Freuds Waisenhaus in Hampstead Heath war es, einen Familienersatz zu bieten, die Ängste der Kinder zu verringern und so „soziale Anpassung“ zu erreichen.

Anna Freud beleuchtete die Beweggründe psychoanalytisch – etwa, dass Kinder eine Trennung von den Eltern oft als Strafe für eigene, ganz normale Eifersuchtsgefühle verstehen. Eine solche Sichtweise wurde – auf Kosten der traditionellen Form des Um-jeden-Preis-die-Nerven-Bewahrens – zusehends populärer.

Anna Freud beschrieb die Gefahr, die von Ängsten geplagte Kinder für eine demokratische Gesellschaft darstellen können, und entwickelte Konzepte zur professionellen Begleitung in der Nachkriegszeit. Die größte Gefahr sah Anna Freud dabei in der Trennung von der Mutter. Das könne die Kinder krank und gewalttätig machen.

Arbeitszimmer von Sigmund Freud in seinem Londoner Wohnhaus
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Freuds Londoner Arbeitszimmer, das in vieler Hinsicht der Praxis in der Berggasse glich und Besuchern Kontinuität vermittelte

Dekonstruktion der NS-Propaganda

Auch das Beispiel der Kunsthistoriker Kris (er war auch Psychoanalytiker) und Gombrich ist instruktiv. Kris kannte Sigmund und Anna Freud aus Wiener Zeiten sehr gut. Er und Gombrich hatten sich bereits in Wien für eine psychologische Sicht auf Kunst eingesetzt. Zusammen hatten sie noch in Wien das Manuskript für das gemeinsame Buch „Psychologie und Kunst der Karikatur“ fertiggestellt. Beide arbeiteten nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in London zunächst als Propagandaanalysten für die BBC – und ihre Arbeit über Gebrauch und Missbrauch von Karikaturen war so etwas wie die perfekte Vorbereitung darauf.

Während Gombrich in London blieb, gelangte Kris via Kanada in die USA und setze dort seine aufklärerische Arbeit über die Wirkweise von NS-Propaganda fort, was schließlich in dem gemeinsam mit Hans Speier herausgegebenen Buch „German Radio Propaganda“ gipfelte.

Die „Haltet den Dieb“-Technik

Gombrich wiederum brachte sein – soziologisch und psychologisch geprägtes – Verständnis von Propaganda 1941 in einem Brief an Kris auf den Punkt: Propaganda sei zuallererst eine spezifische Art, alle Ereignisse – vergangene, gegenwärtige oder künftige – zu interpretieren. „Alles muss da hineinpassen und die ‚Moral‘ von allem muss immer sein ‚Ich habe es dir ja gesagt …‘.“ Und all dem liege der „allereinfachste und primitive Mechanismus“ der Projektion zugrunde. Die „Haltet den Dieb“-Technik (beispielsweise: die Feinde streben die Weltherrschaft an), die man in der deutschen Propaganda so richtig „genießen“ könne, rühre daher, so Gombrich mit einem Schuss Sarkasmus.

Laut dem Historiker Louis Rose einte Kris und Gombrich – gemeinsam mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern – die Sorge, dass nach dem Krieg faschistische Kräfte wiedererstarken könnten. Der integrative Ansatz, der sozialwissenschaftliche und psychologische Methoden mit anderen Disziplinen verband, erhielt durch die Erfahrung von Vertreibung und Flucht und den Kampf gegen den Faschismus eine ungeahnte Bedeutung. Sie schuf laut Rose eine eigene Denkweise und ließ neue intellektuelle und politische Netzwerke wie jenes rund um Kris und Gombrich entstehen.

Eine Sprache zum Finden und Erfinden neuer Stimmen

Der Band, der aus einem internationalen Symposium im Sigmund-Freud-Museum heraus entstand, wirft einen besonderen Blick auf das für Österreich bis heute zentrale zeitgeschichtliche Kapitel: die NS-Herrschaft und die Folgen traumatischer Erlebnisse von Vertreibung und Flucht aus der Heimat.

Die Psychoanalyse ermöglichte den geflüchteten Österreichern nicht nur eine vielfach konstruktive Bearbeitung des persönlichen Traumas, sie war für viele auch eine wichtige Verbindung zu ihrem ansonsten verlorenen Wiener Leben – und sie wurde für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Künstlerinnen und Künstler gerade im Exil zu einem zentralen Arbeitswerkzeug. Nicht alle Kapitel sind gleich konzise, was die Ausleuchtung dieser Aspekte betrifft. Es entsteht aber ein vielschichtiges Kaleidoskop der Geflüchteten und ihrer verschiedenen Wege, mit ihrem Schicksal umzugehen.

Paradigma der Fluchterfahrung

Der britische Historiker Daniel Snowman wies bereits vor Jahren darauf hin, dass die Psychoanalyse sich besonders für das Thema Exil und Flucht eigne, fuße sie doch auf einer „Theorie des Verlusts“. Es sei eine Form von Therapie, die Menschen helfe, „in einer neuen Welt zu überleben, wo sie ihrer ursprünglichen, emotionalen Einflüsse beraubt sind – für immer vertrieben sozusagen von dem halb-erinnerten frühkindlichen Paradies“. In dieser Hinsicht sei die Psychoanalyse „beinahe ein Paradigma der Fluchterfahrung, der emotionalen Odyssee eines Emigranten“ und sei deshalb von Emigranten weltweit aufgegriffen und verbreitet worden, so Snowman.

Hinweis

Elana Shapira, Daniela Finzi (Hg.): Freud and the Emigre. Austrian Emigres, Exiles and the Legacy of Psychoanalysis in Britain, 1930s–1970s. Palgrave Macmillan, 235 Seiten, 102 Euro.

Instrumentarium gegen totalitäre Tendenzen

Europa wurde nach 1945 wesentlich als Projekt neu gegründet, Faschismus jeder Art mit seinen bekannten Folgen – Krieg, Tod und Vertreibung von Millionen – in Schach zu halten. Auch der Umgang mit nach Europa Flüchtenden war jahrzehntelang von der Erfahrung geprägt, dass während des Zweiten Weltkriegs Millionen Menschen aus Europa fliehen mussten. Spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015 wird dieser historische Grundkonsens durch Diskurse und Politiken der Routenschließungen und Abschottung – ob nun so intendiert oder nicht – zusehends erodiert.

Diese aktuellen Entwicklungen lassen sich bei der Lektüre von „Freud and the Emigre“ gar nicht ausblenden. Im Buch wird freilich ein soziodemografisch sehr spezifischer Personenkreis untersucht – allein schon deshalb wären allzu einfache Schlussfolgerungen für die Gegenwart irreführend. Der vorliegende Band beleuchtet allerdings, wie die Psychoanalyse zu einem Instrument für ein Engagement gegen Totalitarismus wurde – und es auch heute sein kann. Denn die zentrale These des Sammelbands lautet: Das Ziel der Psychoanalyse ist stets die soziale Integration, und die Stärkung sozialer Inklusion ist ihr inhärent.