Biogasanlage
Reuters/Mike Blake
Grünes Gas

Klimahoffnung mit vielen Fragezeichen

Um bis 2040 wirklich klimaneutral zu sein, muss Österreich noch viele Hebel in Bewegung setzen. In den kommenden 20 Jahren müssen fossile Brennstoffe wie Erdöl und Erdgas durch CO2-neutrale Varianten ersetzt werden. Eine wichtige Rolle könnte dabei Grünes Gas spielen. Doch so groß die Erwartungen an den erneuerbaren Energieträger sind, so viele Fragen sind noch offen.

Kurz vor Jahresende wird in den EU-Ländern mit den ersten CoV-Impfungen begonnen. Das befeuert zumindest die Hoffnung, dass ein Ende der Pandemie hierzulande in absehbare Nähe rückt. Eine Krise ganz anderen Ausmaßes harrt hingegen weiterhin ihrer Lösung – und mit einer gut wirksamen Impfung ist es dort nicht getan. Soll die vom Menschen verursachte Erderhitzung auch nur einigermaßen eingedämmt werden, muss in den kommenden Jahrzehnten an mehr als nur einer Stellschraube gedreht werden. Sehr oft hat eine Drehung hier ganz gravierende Auswirkungen auf eine Schraube dort.

Geht es um die Frage der Energie und wo diese herkommt, sind mit einem Schlag fast alle gesellschaftlichen Bereiche auf einmal betroffen. Beispielhaft zeigt sich das beim Thema Grünes Gas, das ganz aktuell auch der Koalition aus ÖVP und Grünen Kopfzerbrechen bereitet. Hinter dem Schlagwort verbergen sich Konzepte, um das Gasnetz auch in einer klimaneutralen Zukunft zu nutzen. Dann soll nicht mehr Erdgas durch die Leitungen fließen, sondern eben Grünes Gas. Der Weg dorthin ist aber alles andere als eben, ja zurzeit noch gar nicht auf einer Karte verzeichnet.

100.000-mal das Volumen des Stephansdoms

1.451 Petajoule (PJ) oder rund 400 Terawattstunden (TWh) an Energie wurden vergangenes Jahr in Österreich verbraucht. Zum Vergleich: Österreichs größtes Donaukraftwerk Altenwörth produziert im Jahr rund ein Zweihundertstel dieser Energiemenge. Freilich fällt unter diese gewaltige Summe nicht nur der Stromverbrauch. Darin enthalten ist etwa auch die Energie für jeden mit einem Auto gefahrenen Kilometer, für jedes beheizte Zimmer und jedes in Österreich hergestellte Produkt. Mehr als zwei Drittel des Energieverbrauchs entfiel dabei auf fossile Brennstoffe.

Rund 22 Prozent, also fast 90 Terawattstunden, gingen dabei 2019 auf das Erdgas-Konto. Das entspricht etwa acht Milliarden Kubikmetern des fossilen Energieträgers. Ein großer Teil davon wurde für die Stromproduktion (manchmal auch kombiniert mit Fernwärme) und für Industrieprozesse, die hohe Temperaturen benötigen, gebraucht. Rund ein Sechstel floss in private Raumheizungen. Ein kleiner Teil des Erdgases wurde auch „nicht energetisch“ genutzt. Das Gas – beziehungsweise der daraus gewonnene Wasserstoff – diente zum Beispiel als Ausgangsstoff für die Herstellung von Ammoniak.

Um diese Mengen irgendwie in ein Bild zu bekommen: Mit dem gesamten jährlichen Erdgasverbrauch in Österreich ließe sich der Innenraum des Stephansdoms rund 100.000-mal füllen. Wenn Österreich, wie es auch im Regierungsprogramm von ÖVP und Grünen steht, bis 2040 klimaneutral sein möchte, dann bedeutet das unter anderem auch: Die Energie aus diesen acht Milliarden Kubikmetern Erdgas muss entweder eingespart oder auf anderem Weg gewonnen werden.

Multitalent Grünes Gas

Dabei scheint die Lösung erst einmal sehr einfach. Gibt es für Erdgas doch tatsächlich eine klimaneutrale Alternative: eben Grünes Gas. Darunter fällt zum einen aufbereitetes Biogas, das sich aus Pflanzen, aber auch aus tierischen Ausscheidungen und biogenem Abfall gewinnen lässt. Zum anderen gehört dazu Wasserstoff, der mit Strom aus Wasser gewonnen wird. Er lässt sich in einer Brennstoffzelle wieder in elektrische Energie umwandeln. Oder man mischt ihn – vereinfacht gesagt – mit Kohlenstoff und erhält so wieder Methan – den Hauptbestandteil von Erdgas. Bis zu einem gewissen Grad könnte sich in Zukunft auch reiner Wasserstoff im Gasnetz hinzumischen lassen.

Ein Mann dreht an einem Hahn einer Biogasanlage
APA/AFP/Martin Bernetti
In Biogasanlagen wird zum Beispiel aus biologischen Abfällen ein klimaneutraler Energieträger

Auf all das wird die Gasbranche nicht müde hinzuweisen. Erst Anfang November stellten der Fachverband der Gas- und Wärmeversorgungsunternehmungen (FGW) und die Österreichische Vereinigung für das Gas- und Wasserfach (ÖVGW) die Webseite „Zukunft Grünes Gas“ online. „Die Gasheizung, der Gasherd, das Gaskraftwerk, der Industriegasbrenner sowie das Gasauto können in Zukunft mit geringem Aufwand zu 100 Prozent mit Grünem Gas betrieben werden“, ist dort etwa zu lesen.

Studien mit unterschiedlichen Ergebnissen

Bereits bei der Frage nach dem theoretischen Potenzial für Grünes Gas gehen die Einschätzungen allerdings auseinander. Drei größere Studien beschäftigten sich in den vergangenen Jahren mit dem Thema – mit durchaus unterschiedlichen Ergebnissen. Die Einschätzungen reichen von zwei bis über vier Milliarden Kubikmeter Grünes Gas, das bis 2050 zur Verfügung stehen könnte.

Das hängt einerseits davon ab, welche Rohstoffe für die Biogasproduktion herangezogen werden. Anderseits ergeben sich die Unterschiede durch die Art der Technik, mit der das Gas in Zukunft produziert werden soll. Teilweise gehen aber auch die Annahmen, wie viel Rohstoff überhaupt zur Verfügung steht, deutlich auseinander.

Optimistische Zukunftsmusik

Im Moment ist jedenfalls die Annahme jeder der drei Studien optimistische Zukunftsmusik. Grüner Wasserstoff wird derzeit nur in Testanlagen produziert. Von Mengen, wie sie etwa die Industrie benötigen würde, ist die Produktion noch Jahre entfernt. Auch die Biogasproduktion ist hierzulande noch überschaubar. Etwas mehr als 400 Biogasanlagen sind zurzeit in Österreich in Betrieb.

Die meisten davon verbrennen das Biogas gleich an Ort und Stelle für die Stromproduktion. Nur ein ganz kleiner Bruchteil speist gereinigtes Biogas bereits in das Gasnetz ein. 15 Stück sind es laut Zahlen der European Biogas Association. Laut E-Control pumpten sie im vergangenen Jahr rund 150 GWh Biomethan ins Gasnetz. Das sind nicht ganz 13 Mio. Kubikmeter, oder – um beim vorherigen Vergleich zu bleiben – 163-mal der Innenraum des Stephansdom.

Biogasproduzenten vor „Scherbenhaufen“

Laut Regierungsprogramm soll diese Zahl in den kommenden zehn Jahren deutlich ansteigen. Fünf TWh Grünes Gas sollen bis 2030 ins Gasnetz eingespeist werden, umgerechnet über 430 Mio. Kubikmeter. Geht es nach den heimischen Biogasanlagenbetreibern könnte diese Summe sogar noch deutlich überschritten werden. „Bis 2030 können wir uns 700 Mio. Kubikmeter vorstellen“, sagt Franz Kirchmeyr im Gespräch mit ORF.at. Er ist Fachbereichsleiter Biogas beim österreichischen Kompost & Biogas Verband, der eben auch alle Biogasanlagenbetreiber vertritt. Laut dem Verband würde das in den kommenden zehn Jahren Investitionen von insgesamt rund zwei Milliarden Euro bedeuten.

Gasstation Baumgarten (Niederösterreich)
Gas Connect Austria GmbH
Mit Grünem Gas könnte das heimische Gasnetz zum großen Energiespeicher werden

Kirchmeyr sieht in dem Energieträger aus biologischen Rohstoffen ein wichtiges Rückgrat für die Energiewende. Biogas könnte in Zukunft gemeinsam mit Speicherkraftwerken die verlässlichste Energieform darstellen – und vor allem als Energiespeicher für den Winter eine wichtige Rolle spielen, sagt er. Mit den bis in zehn Jahren anvisierten 700 Mio. Kubikmeter Biogas ließen sich etwa die heimischen Gaskraftwerke 20 bis 30 Tage betreiben. Ob es so weit kommt, ist allerdings eine andere Frage. „Momentan stehen wir vor einem Scherbenhaufen“, sagt Kirchmeyr.

Als im Herbst der Entwurf für das Erneuerbaren Ausbau Gesetz (EAG) präsentiert wurde, fehlten darin die Bestimmungen für Grünes Gas. Stattdessen, so die Ankündigung des Klimaschutzministeriums, soll das Thema nun in einem eigenen Gesetzespaket abgehandelt werden. Dabei handle es sich „nicht nur um ein Fördergesetz“, so das Ministerium gegenüber ORF.at. Anders als im Strombereich müsste beim Gas noch „Pionierarbeit“ geleistet werden. „Begleitend zum Aufbau erneuerbarer Gaskapazitäten“ müssten „auch Marktregeln, Lösungen für das Gasnetz und mehr“ definiert werden. Mit anderen Worten: Es gibt noch viel Diskussionsbedarf.

Bruchlinien zwischen Koalitionsparteien

Eine Ursache dafür sieht Biogas-Obmann Kirchmeyr in der „langjährigen Fokussierung der Energiewende rein auf den Energieträger Strom. Das rächt sich nun sträflich“, sagt er. Bei der Gesetzgebung für erneuerbare Gase versuche die Politik nun „zusätzlich viele weitere Themen der Gasnutzung gleich mit zu behandeln, ohne den dafür notwendigen Zeitbedarf und Diskussionsprozess zu berücksichtigen, und erlebt dabei natürlich die erwartbaren Hürden“, so der Vertreter der Bioagasanlagenbetreiber.

Dabei verlaufen die Bruchlinien ebenso zwischen den Koalitionsparteien. Das war auch während der Begutachtungsfrist des neuen EAG im Herbst zu beobachten. Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) erklärte im Oktober vor den heimischen Agrarlandesräten: „Biogas und in Zukunft auch Holzgas werden ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg sein. Umso mehr fehlt das Thema ‚Greening the gas‘ im Erneuerbaren Ausbau Gesetz.“ Laut dem grünen Energiesprecher Lukas Hammer macht hingegen genau der „Landwirtschaftsflügel der ÖVP“ seiner Partei zu schaffen. Die Grünen hätten Vorbehalte gegenüber der Forderung, sämtliche bestehenden Gasheizungen auf lange Sicht mit Biogas zu betreiben, sagte Hammer etwa gegenüber dem Branchenmagazin „Energie und Management“.

Genug für alle da?

Hinter den Unstimmigkeiten steht eine der, wenn nicht gar die entscheidende Frage rund um Grünes Gas: wo es in Zukunft Verwendung finden soll. Unweigerlich stellt sich dazu eben auch wieder die Frage, wie viel des klimaneutralen Energieträgers in Zukunft vorhanden sein wird.

Für alle bisherigen Anwendungen werde es kaum reichen, sagt Peter Traupmann, Geschäftsführer der Österreichischen Energieagentur im Gespräch mit ORF.at. „Sich zwischen den Sektoren um Grünes Gas zu streiten ist nicht sehr sinnvoll“, so Traupmann. Im Industriebereich gebe es für manche Hochtemperaturprozesse kaum Alternativen. „In der Raumwärme sieht das anders aus“.

Glasproduktion
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Zum Beispiel die Glasproduktion ist auf Gas als Brennstoff angewiesen

„Die Hoffnung, dass wir mit Grünem Gas alles abdecken, teile ich nicht. Deswegen mögen sich die Gebäude hinten anstellen“, sagt auch Peter Holzer vom Institute of Building Research and Innovation gegenüber ORF.at. Der Wohnbauexperte hat gemeinsam mit seiner Kollegin Renate Hammer eben erst in einer Studie im Auftrag der Stadt Wien untersucht, wie sich die Gasheizungen in Österreich auf erneuerbare Energieformen umstellen lassen. „Gas ist ein so energiedichter Brennstoff, dass man mit ihm Stahl kochen und Steine schmelzen kann.“ Dafür sollte man ihn einsetzen, „aber bitte nicht für lauwarmes Wasser“, so Holzer.

Volkswirtschaftliche Rechnung

Der Techniker hat allerdings auch eine sehr bestimmte Meinung zum Potenzial von Biogas. „Die Hoffnung, dass wir Grünes Gas wirtschaftlich in nennenswertem Umfang aus biogenen Reststoffen holen, ist gleich null“, sagt Holzer. Er geht daher davon aus, dass Grünes Gas in Zukunft zu überwiegenden Teilen mit Strom gewonnen wird. Das in Gasheizungen zu verbrennen sei nicht sehr effektiv, sagt er. Zwar sieht er Grünes Gas sehr wohl als Energiespeicher für den Winter, es sollte dann aber besser in Kombikraftwerken verbrannt werden, die neben der Stromproduktion auch die Abwärme in ein Fernwärmenetz einspeisen.

Werde Grünes Gas in Raumheizungssystemen verbrannt, hätte das einen zwei- bis dreifach höheren Bedarf an grünem Strom zur Folge als eine Kombination aus Wärmepumpenanwendungen und Heizkraftwerken, die mit Grünem Gas befeuert werden, rechnet der Techniker vor. „Es klingt paradox, aber die direkte Raumheizung mit Grünem Gas ist ein Stromfresser." In der volkswirtschaftlichen Betrachtung ließen sich daher die Umstellungskosten der Gasheizungen jedenfalls aus den vermiedenen Investitionen in erneuerbare Stromproduktion finanzieren, sagt Holzer.

Gasbranche hält an Haushalten fest

Auch das Klimaschutzministerium sieht die Zukunft von Grünem Gas grundsätzlich nicht in der Etagenheizung. Zwar würde ein „pauschaler Ausschluss“ Haushalte, „die keine anderen Möglichkeiten haben, unnötig diskriminieren. Das Ziel ist trotzdem klar, die unnötige Verschwendung von Gas in der Raumwärme zu vermeiden“, so das Ministerium gegenüber ORF.at.

Anders sehen das die Gasnetzbetreiber und Gasversorger. „Es wäre nicht sehr schlau, nur die Industrie zu versorgen“, sagt etwa Manfred Pachernegg, Geschäftsführer der Energienetze Steiermark und Vorsitzender des Forschungsbeirats Gas bei der ÖVGW im Gespräch mit ORF.at.

Gastherme
ORF.at/Christian Öser
Die Gasbranche sieht auch eine Zukunft für Gasthermen

Die Industrie unterstehe zurzeit ohnehin bereits dem Emissionshandelssystem (ETS). In den Bereichen, die nicht durch das ETS geregelt sind, drohten Österreich hingegen hohe Strafzahlungen, sollte die CO2-Reduktion hinter den EU-Vorgaben bleiben, so Pachernegg. Klaus Dorninger, Geschäftsführer der Energie AG Oberösterreich, spricht gegenüber ORF.at von „bis zu 100 Mio. Euro, die das kosten wird“.

Finanzierung des Gasnetzes

Zugleich hat die Gasbranche noch ein weiteres Interesse, möglichst viele private Haushalte im Gasnetz zu halten. Der größte Teil der über 40.000 Kilometer langen Gasleitungen erstreckt sich auf der Netzebene drei. Dort sitzen die Haushalte und kleineren Gewerbebetriebe.

Von der Kundenanzahl her ist das zwar die größte Gruppe, auf sie entfällt aber nur rund ein Viertel des gesamten Gasverbrauchs. Dennoch finanzieren sie das Gasnetz zu einem großen Teil. Verabschieden sich also viele Privatkunden aus dem Gasnetz, würden die Kosten für die großen Unternehmen stark steigen. Werde die Industrie zu stark belastet, „dann wird sie abwandern“, sagt Pachernegg.

„Grünes Gas ist von enormer Bedeutung für die grüne Transformation der Industrie – unter diesem Aspekt muss auch die Bezahlbarkeit der Fördermaßnahmen berücksichtigt werden“, heißt es dazu aus dem Klimaschutzministerium. Die „zentrale Herausforderung“ liegt laut Ministerium deshalb in einer „klimapolitisch vernünftigen Lenkung der Fördermittel“.

Marktentwicklung vs. „Lock-in-Effekt“

„Die Stoffströme müssen sich erst entwickeln“, sagt auch Pachernegg, „dazu braucht es Innovationen und dafür den Markt.“ Für den sieht die Gasbranche allerdings die privaten Haushalte zurzeit als notwendig an. Doch was passiert, wenn dann am Ende nicht genug Grünes Gas für alle da ist – die Haushalte aber weiterhin auf ihre Gasheizungen angewiesen sind? Müsste dann unweigerlich weiter Erdgas zum Einsatz kommen? Vor einem solchen „Lock-in-Effekt“ warnen diejenigen, die Gasheizungen lieber bald durch alternative Heizungsformen ersetzt sehen wollen.

Einem fertigen Gesetzespaket für Grünes Gas wird also noch eine Zeit intensiver Diskussion vorausgehen. Man könnte aber natürlich auch optimistisch formulieren – wie zum Beispiel Energiegagentur-Geschäftsführer Traupmann: „Man ist schon weit, weil man die Herausforderungen erkannt hat. Es geht darum, dranzubleiben.“