Karl Renner

Streben und Schmeicheln für die Republik

Zwei runde Gedenktage erinnern zurzeit an den „Vater zweier Republiken“, Karl Renner. Der Sozialdemokrat verstand es, mit wendigem Geschick, Staatsverantwortung und auch Andienerei Österreich durch wildes Fahrwasser zu bringen. Auch wenn seine politische Bedeutung enorm war, bis auf ein paar Eckdaten brannte sich über die Person Renner, den „schlauen alten Fuchs“, im kollektiven Gedächtnis nicht viel ein.

Immer wieder wurde das Denkmal des christlichsozialen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger (1844–1910) beschmiert, in den vergangenen Oktober-Nächten wurde Wache gehalten, um ein „Schande“-Graffito auf Luegers Denkmal in Wien zu schützen. Die Auseinandersetzung mit Lueger ist nicht neu, 2012 wurde bereits der Wiener Lueger-Ring wegen dessen antisemitischer Haltung umbenannt. Manche Historiker sind der Ansicht, dass ein ähnliches Schicksal der Erinnerung an Karl Renner gebühre. Auch dieser habe sich antisemitisch geäußert – also solle, quasi im Abtausch, auch der Wiener Renner-Ring umbenannt werden.

Renner, der sozialdemokratische „Republiksvater“, doppelter Geburtshelfer Österreichs, wird als Staatsmann und Macher respektiert. Er war nach Ende der Monarchie Staatskanzler, Außenminister, führte 1945 die provisorische Regierung an und war erster Bundespräsident der Zweiten Republik. Er schaffte es in Zeiten schwerer Verwerfungen, Sowjets, Briten und Amerikaner zu überzeugen.

„Kinder eines gefärbten Diskurses“

Doch Renners sudetendeutsches Selbstverständnis schlug sich auch in einer deutschnationalen Haltung nieder. Er begrüßte 1938 den „Anschluss" Österreichs an Nazi-Deutschland (was er später widerrief) und verfasste darüber hinaus die 80-seitige Denkschrift „Die Gründung der Republik Österreich, der Anschluß und die Sudetendeutschen. Dokumente eines Kampfes“, die als „Sudetenbroschüre“ Jahrzehnte später publik wurde.

Darin lobte er die Einverleibung der sudetendeutschen Gebiete durch das NS-Regime und die „beispiellose Beharrlichkeit und Tatkraft der deutschen Reichsführung“. Auch hatte Renner zuvor keine Angst gezeigt, sich mit dem austrofaschistischen Regime zu arrangieren.

Staatskanzler Dr. Karl Renner nach der Konstituierung der Provisorischen Staatsregierung am 29. April 1945.
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Auf dem Weg in eine neue Republik: Renner als Staatskanzler nach der Konstituierung der Provisorischen Staatsregierung 1945 (rechts: Theodor Körner, hinten Leopold Figl)

„Diese Punkte geben Anlass zur Kritik“, so der Historiker Florian Wenninger vom Arbeiterkammer-nahen Institut für Historische Sozialforschung (IHSF). Doch bei allem, was man Renner vorwerfen könne – ein Antisemit sei er aller Wahrscheinlichkeit nicht gewesen. Er habe, im Gegenteil, sich über den christlichsozialen Antisemitismus lustig gemacht und keinerlei Berührungsängste mit jüdischen Funktionären gehabt. Auch habe Renner einen jüdischen Schwiegersohn gehabt.

„Die Quellen, die es bisher gibt, sind nicht stichhaltig“, so Wenningers Urteil im Gespräch mit ORF.at. Renner wie auch Otto Bauer oder Jura Soyfer seien aber „Kinder eines antisemitisch gefärbten Diskurses“ gewesen, in dem Stereotypen oder einschlägige Redewendungen verbreitet waren.

„Das hätte niemand sonst geschafft“

Auch der Historiker Stefan Karner, Gründer des Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung und Renner-Spezialist, sieht in ihm keinen Antisemiten, „obwohl er immer wieder in diversen Reden und Schriften, oft unterschwellig, gewisse Stereotype anklingen ließ, die man heute natürlich nicht mehr verwendet“. Karner hatte es 2015 geschafft, den Briefwechsel zwischen Renner und dem Sowjetdiktator Josef Stalin 1945 nach Österreich zu holen und gab so einen Einblick hinter die Kulissen der Nachkriegstage.

Renner habe „zweimal die Republik Österreich geformt, demokratisch geformt“, so Karner zu ORF.at. „Er wusste offenbar, in den schwierigen Tagen, in denen es auf schnelle, aber weitreichende Entscheidungen ankam, einen Ton zu finden, der beim Gegenüber Vertrauen erweckte. Was er etwa bei Stalin erreichte, ich glaube, das hätte 1945 niemand sonst geschafft.“ Der flexible Realpolitiker Renner war aber innerhalb der Sozialdemokratie auch stark umstritten. Hängen geblieben sei Friedrich Adlers Attacke auf Renner, so Wenninger.

Adler, der 1916 aus Protest den österreichischen Ministerpräsidenten Karl Stürgkh erschoss, hatte Renner als „Lueger der Sozialdemokratie“ bezeichnet und ihm „Prinzipienlosigkeit“ vorgeworfen. Doch Renners Loyalität zur Partei sei „für seinen Intellekt dennoch geradezu übermenschlich“ gewesen, sagt Karner. „Die Linken hatten ihn gleichsam fallweise zum Aussätzigen gemacht, dennoch blieb Renner brav bei der Stange.“ Er sei „die Inkarnation eines deeskalierenden Politikers“ gewesen, „sowohl bei den eigenen, als auch im Verhältnis zu seinen politischen Gegnern“.

Streng, aber wohlmeinend

Im akademischen Rahmen ist viel bekannt darüber, wie Renner 1945 das politische Spiel lenkte, raffiniert und aus der Taktik heraus unterwürfig, zwischen geschickten Formulierungen und verdeckten Winkelzügen. Auch Renners politische Fähigkeit zur Verrenkung ist aufgearbeitet. Durch seine Haltung 1938 und etliche seiner politischen Schritte sei er „punziert“ gewesen, so Karner.

„Was man bei anderen etwas versteckte, kramte man bei Renner heraus und stellte es ins Licht.“ Dennoch – und trotz seiner geschichtlichen Bedeutung – gibt es für Renner „keinen vorderen Platz im kollektiven Gedächtnis“. Denn „den großen, publikumswirksamen Auftritt“ habe zehn Jahre später Leopold Figl (ÖVP) gehabt. Bei dessen Worten „Österreich ist frei!“ war Renner aber schon tot.

Zwei runde Gedenktage

Am Montag jährt sich Renners Geburtstag zum 150. Mal, am 31. Dezember sein Todestag zum 70. Mal.

Über Renner gibt es im Gegensatz zu Figl nicht einmal Anekdoten. Dafür war er einfach nicht der Typ, so Karner. „Da war er zu wenig leutselig, eigentlich immer eine strenge, wohlmeinende Vaterfigur.“ Wenninger sieht das ähnlich: „Die ganze Inszenierung der Person Karl Renner zielte vor allem nach 1945 darauf ab, ihn als ‚Vater der Republik‘ zu framen.“ Renner habe ein anderes Selbstverständnis als Politiker gepflegt, ein „jovialer Schulterklopfer“ wie Figl sei er nicht gewesen, sondern „distanziert, zurückhaltend, immer abwägend“.

Aufstieg aus der Armut

Renner wurde am 14. Dezember 1870 als letztes von 18 Kindern in eine Weinbauernfamilie im südmährischen Untertannowitz (heute Dolni Dunajovice) hineingeboren. Der Hof war völlig verarmt und wurde schließlich versteigert. Renner erlebte als Kind den Umzug der Familie ins Armenhaus – ein Ereignis, das ihn stark prägte. Er engagierte sich politisch, 1907 wurde er sozialdemokratischer Reichsratsabgeordneter. Mit dem Ende der Monarchie entstand eine demokratische Republik mit einer Konzentrationsregierung aus Sozialdemokraten, Christlichsozialen und Deutschnationalen unter Staatskanzler Renner.

Der Pragmatiker Renner vertrat einen gemäßigten Flügel der Sozialdemokratie, oft im Gegensatz zu den radikaleren Thesen Otto Bauers. Nach dem Ersten Weltkrieg sah er seine Aufgabe im Aufbau einer Republik „Deutsch-Österreich“, gleichzeitig jedoch in deren Anschluss an eine sozialistisch regierte „Deutsche Republik“.

Renner zweifelte wie viele Menschen damals an der Lebensfähigkeit des noch übrigen Österreich, eines Rumpfstaats aus den Trümmern der Donaumonarchie. Für seine Vision der Republik dichtete er 1920 sogar den Text für eine nie offiziell anerkannte Bundeshymne. Obwohl der Friedensvertrag von Saint-Germain, den Renner selbst unterschrieben hatte, gemeinsam mit dem Anschluss an Deutschland auch den Namen „Deutschösterreich“ verbot, nahm die Hymne genau diesen Titel auf: „Deutschösterreich, du herrliches Land, wir lieben dich!“

Folgenreiche Kettenreaktion

Renner konnte aus den Resten des Kaiserreichs ein funktionierendes Staatswesen aufbauen. Er beauftragte Hans Kelsen mit der Erstellung einer Verfassung. Die Koalition von Sozialdemokraten und Christlichsozialen unter Renners Führung scheiterte aber 1920, er bekam im Übergangskabinett nur noch die Leitung des Außenressorts. Als Nationalratspräsident trat er 1933 zurück – der Schritt, von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß als Selbstausschaltung des Parlaments begrüßt, führte in einer Kettenreaktion zur Ständestaatsdiktatur.

Renner wurde sogar kurzzeitig verhaftet. Im April 1938 traf er schließlich jene Entscheidung, die bis heute vielfach als größter Fehler seines politischen Lebens beurteilt wird: Er erklärte öffentlich sein „Ja“ zur Volksabstimmung über den „Anschluss“ an Hitler-Deutschland.

Dr. Karl Renner beim abgeben seiner Wahlkarte am 25. November 1945.
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Staatsbürgerliche Pflicht: Renner bei der Abgabe seines Stimmzettels 1945

Die NS-Diktatur verbrachte Renner zwar unter Hausarrest, aber weitgehend unbehelligt und frei in seinem Haus in Gloggnitz. Dort schrieb er laut der Plattform Austria-Forum etwa ein Versepos in Anlehnung an Lukrez. Auch sei er einmal die Woche zu einer Tarockpartie nach Wien gefahren.

Stalin setzt auf Renner

Renners neuerlich politische Stunde schlug einen Tag nach dem sowjetischen Einmarsch: Während der sowjetische Diktator Josef Stalin nach Renner suchen ließ, um ihm die Regierungsbildung anzuvertrauen, marschierte Renner selbsttätig zum Kommando der 103. Gardeschützendivision im Raum Gloggnitz und erklärte, für eine Regierungsbildung zur Verfügung zu stehen. Stalin war auf der Suche nach einer ihm genehmen Regierung, wollte aber nicht auf die österreichischen Kommunisten setzen. Stalin wusste, mit der KPÖ sei keine Mehrheit zu gewinnen. Der Pragmatiker Renner, für Stalin „ein schlauer alter Fuchs“, kam ihm gerade recht.

Ohne die Westalliierten in Kenntnis zu setzen, gab Stalin Renner den Auftrag – zu einem Zeitpunkt, als die Truppen Nazi-Deutschlands noch am Stadtrand von Wien gegen die Rote Armee kämpften. Durch die Unterstützung der provisorischen Landeshauptleute der westlichen Bundesländer gelang es, Großbritannien und die USA zu überzeugen. Es war Renners Verdienst, dass die ersten demokratischen Wahlen schließlich abgehalten werden konnten.

Renner wurde Staatskanzler der provisorischen Regierung. Nach der ersten Nationalratswahl wählte ihn die Bundesversammlung zum ersten Bundespräsidenten. Renner bezog die Hofburg, in der gerade eine Zentralheizung installiert wurde, um die Distanz seines Amtes zur Parteipolitik zu dokumentieren.

Kein leichtes Spiel

Mit welchen politischen Schattenspielen es Renner gelang, sowohl die Westalliierten als auch die Sowjets von sich und seinen Vorstellungen zu überzeugen, zeigen die Briefe, die Karner erstmals nach Österreich holte. In den Schriften antichambrierte Renner geschickt und streute, nachdem er 1938 noch den „Anschluss“ an Nazi-Deutschland befürwortet hatte, nun den Sowjets Rosen.

Er selbst habe Lenin getroffen und regelmäßig mit Trotzki verkehrt. Dass Renner ausgerechnet Stalins Feind Trotzki erwähnte, gilt bei manchen Kennern heute als genialer Schachzug. Renner habe Stalin suggerieren wollen, welch leichtes Spiel es mit ihm wohl werden würde, so etwa laut Karner das Urteil des Sozialphilosophen Norbert Leser.

Der Sitzungssaal des niederösterreichischen Landhauses, anläßlich der ersten Länderkonferenz nach dem Zweiten Weltkrieg in Wien.
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Länderkonferenz nach dem Zweiten Weltkrieg: Renner kann mit Hilfe der Landeshauptleute die Westalliierten überzeugen, ihre Blockade aufzugeben

Befremdlich mute heute auch an, dass Renner an Stalin schrieb: „Das Vertrauen der oest. Arbeiterklasse in die Sowjetrepublik ist grenzenlos. Dass die Zukunft des Landes dem Sozialismus gehört, ist unfraglich und bedarf keiner Betonung.“ Es schien aber, so Karner, auch die einzige Möglichkeit, um Stalin für sich einzunehmen.

Renner setzte sich unter anderem bei Stalin für Lebensmittelhilfen ein. Als diese gewährt wurden, dankte Renner überschwänglich: „Gefühle freudiger Überraschung und überströmender Dankbarkeit haben alle Mitglieder unserer Regierung überwältigt.“ Jetzt erst erkenne man den wahren Charakter „der jahrelangen Herabsetzung des russischen Regimes durch die Hitlerpropaganda. ‚Allen Respekt!‘, rief einer der bisher ungläubigen Thomase.“

Renner versicherte Stalin, in Österreich drohe von faschistischer Seite keine Gefahr mehr, und verband damit auch die Forderung nach einer Reduzierung der Besatzungstruppen. Auch Südtirol wollte er zurück bei Österreich sehen. Ohne den Süden sei Tirol „nur ein Flusstal, eine Chaussee, eine Bahnlinie“. In einem anderen Brief adressierte er „den hochverehrten Genossen“ Stalin untertänig: „Die Glorie Ihres Namens ist unsterblich!“

Zwischen Pragmatismus und Opportunismus

Nach der für die KPÖ desaströsen Nationalratswahl vertraute Stalin Renner aber nicht mehr. Die Westmächte hingegen gaben ihre Skepsis auf und erkannten die Konzentrationsregierung unter Figl sowie Renner als Bundespräsidenten freudig an. Die vollständige Freiheit Österreichs erlebte er aber nicht mehr. Er starb am Silvesterabend 1950 im Alter von 80 Jahren. Seine für den nächsten Tag geplante Neujahrsrede wurde noch ausgestrahlt.

Eine Radfahrerin am Karl Renner-Ring in Wien.
APA/Robert Jaeger
Debatte auch über Renner-Ring

Renners Verdienste sind im Fazit unstrittig, seine politische Wendigkeit nicht. Die Grenzen zwischen Pragmatismus und Opportunismus seien fließend, so Wenninger. Renner sei zwar Demokrat, aber auch Opportunist gewesen, „in allen Lebenslagen“.

Karners Urteil ist ein anderes: Bei Renners entscheidenden Momenten habe ihm auch etwas Fortune gefehlt. Die Zustimmung zum „Anschluss“ 1938 hänge ihm noch heute nach, dazu sei auch, bei allem Erreichten, Pech gekommen. Die Verhandlungen von Saint-Germain mit den Siegermächten des Ersten Weltkriegs und der Staatsvertrag 1919, den Renner unterzeichnete, „wurde zum nationalen Trauertag“. Was Renner getan habe, „war für das Land, für seine Menschen, denen er das Leben und Überleben zu sichern hatte“, so Karner.

Hundert Jahre nach Saint-Germain und 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sei es höchst an der Zeit, sich Renner und auch allen exponierten Spitzenpolitikern dieser Jahre ohne Scheuklappen zu nähern. Von Umbennungen von Straßen und Plätzen hält Karner generell nichts, diese seien „Potemkin’sche Verkleidungen“: „Ihre Denkmäler und Büsten zu verräumen ist ein Sich-Fortstehlen aus der Geschichte. An ihren Lebenswegen wird unsere eigene Geschichte und die unserer Republik in vielem erfahrbarer.“