Bild zeigt ein Fläschchen mit Impfstoff gegen Covid-19.
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RNA-Impfstoffe

„Königsklasse“ gegen das Coronavirus

Die EU steht vor der Zulassung der ersten Impfstoffe gegen SARS-CoV-2. Zwei der Präparate, die in Kürze auf den Markt kommen, basieren auf der mRNA-Technologie. Sie ist bisher noch nie bei der Produktion von Massenimpfstoffen zum Einsatz gekommen. Skepsis ist laut Fachleuten aber nicht angebracht, auch wenn die Impfstoffe – wie alle anderen – Nebenwirkungen haben können. Der Nutzen überwiege die Risiken bei Weitem.

Bereits kommende Woche will die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) über eine Zulassungsempfehlung für den Impfstoff BNT162 von Biontech/Pfizer entscheiden, bis 12. Jänner dann über jene für das Vakzin MRNA-1273 von Moderna. Bei beiden handelt es sich um mRNA-Impfstoffe. „Die Technologie ist umwerfend. Das ist die Königsklasse“, sagt der Wiener Infektiologe Herwig Kollaritsch, der auch Mitglied des Nationalen Impfgremiums ist, gegenüber ORF.at.

Bei herkömmlichen Impfstoffen werden dem Körper Virusantigene mit Hilfe von abgetöteten oder abgeschwächten Krankheitserregern verabreicht. MRNA-Impfstoffe dagegen übermitteln dem Körper den Bauplan für die Virus-Antigene, die dann in den Zellen hergestellt werden und eine Immunantwort hervorrufen. Das geschieht über Ribonukleinsäure (RNA), die gewissermaßen die Botschaft samt Konstruktionsplan überbringt.

„Was denen vor die Flinte kommt, wird abgelesen“

Die Messenger-RNA (mRNA) wird im Labor mit Information für bestimmte Proteine codiert, die wichtig sind für die Immunabwehr. Im Fall von SARS-CoV-2 enthalten einige Impfstoffkandidaten die genetische Information für einen Bestandteil des „Spike-Proteins“ auf der Virusoberfläche. Dieses benötigt das Coronavirus, um in die Zellen einzudringen.

Der Hauptsitz der Firma Pfizer in New York.
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Der Impfstoff BNT162 von Biontech/Pfizer dürfte der erste sein, der in der EU zugelassen wird

Die Messenger-RNA wird verimpft und gelangt in die Zelle. Dort sitzen die Zellorganellen, genannt Ribosome, die „nichts anderes zu tun haben, als herumschwimmende Ribonukleinsäure zu schnappen, abzulesen, und die zugehörigen Proteine zu produzieren“, erläutert Kollaritsch. „Ribosomen ist im Prinzip egal, ob die abgelesene RNA für ein zelleigenes oder zellfremdes Protein codiert. Was denen vor die Flinte kommt, wird abgelesen und daraus ein Protein gemacht.“ Die Proteine werden danach von den Zellen an deren Membran „ausgestülpt“ und dem Immunsystem präsentiert, so Kollaritsch, „und dann beginnt die Kaskade der Immunabwehr zu laufen“.

Keine Erbgutveränderung

Das Erbgut des Menschen wird durch das Einbringen der mRNA nicht verändert. „Beim Menschen befindet sich das Genom in Form von DNA im Zellkern“, hieß es etwa beim Paul-Ehrlich-Institut, das in Deutschland für die Sicherheit von Impfstoffen zuständig ist, gegenüber der Nachrichtenagentur dpa. „Eine Integration von RNA in DNA ist unter anderem aufgrund der unterschiedlichen chemischen Struktur nicht möglich.“

Zudem ist RNA chemisch sehr instabil. „Wenn die mRNA in die Zellen gelangt, wird sie sehr schnell wieder abgebaut“, sagte Ulrike Protzer, Direktorin des Instituts für Virologie an der Technischen Universität München (TUM). Um die Haltbarkeit zu erhöhen, wird die verimpfte mRNA in einer Schutzhülle verpackt, die aus Nanopartikeln aus Fetten besteht. „Was diese Zusatzstoffe bewirken, müssen wir beobachten“, so Protzer. „Man geht von einer guten Verträglichkeit aus, aber da fehlen noch Langzeiterfahrungen.“

Hohe Wirksamkeit

Beiden kurz vor der Zulassung in der EU stehenden Impfstoffen wird in Studien hohe Wirksamkeit bescheinigt. BNT162 von Pfizer wurde bisher an über 43.000 Personen erprobt. Die Hälfte der Teilnehmenden bekam den Impfstoff verabreicht, die andere Hälfte ein Placebo. Während der Testphase erkrankten insgesamt 170 der Teilnehmenden an Covid-19 – 162 davon hatten ein Placebo erhalten, acht den Impfstoff. Von diesen acht nahm die Erkrankung bei einem Betroffenen einen schweren Verlauf. Die rechnerische Wirksamkeit liegt bei 95 Prozent. In der Gruppe der über 65-Jährigen – für die das Coronavirus eine besondere Gefahr darstellt – betrug sie 94 Prozent.

An der Studie zu Modernas MRNA-1273 nahmen 30.000 Menschen teil. 50 Prozent von ihnen erhielt den Impfstoff, die andere ein Placebo. 7.000 Teilnehmende waren über 65 Jahre alt, 5.000 weitere unter 65, litten aber an Vorerkrankungen. Von den Probandinnen und Probanden infizierten sich insgesamt 196 mit SARS-CoV-2. 185 von ihnen war ein Placebo verabreicht worden, elf der Impfstoff. Keine der Personen, die den Impfstoff erhielten, erkrankte schwer. Aus all diesen Faktoren lässt sich eine Effektivität von 94,1 Prozent errechnen.

Beide Vakzine werden in zwei Dosen im Abstand von 28 Tagen verimpft. Ob die Vakzine nur vor einem schweren Verlauf schützen oder auch die Übertragung des Virus verhindern können, ist noch unklar. Daten dazu werden laut Kollaritsch in den nächsten drei Monaten zur Verfügung stehen.

„Klassische“ Nebenwirkungen

Die kurzfristigen Nebenwirkungen der mRNA-Impfstoffe unterscheiden sich nicht wesentlich von jenen herkömmlicher Vakzine, zeigt ein Bericht der US-Lebens- und Arzneimittel-Behörde (FDA) zum Impfstoff von Biontech/Pfizer. Häufigstes Symptom waren Rötungen um die Einstichstelle, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Schüttelfrost und Muskelschmerzen, ein geringer Anteil der Getesteten bekam Fieber. Nach einem Tag waren die Nebenwirkungen laut FDA aber wieder abgeklungen.

Die Vakzinologin Ursula Wiedermann-Schmidt von der Medizinischen Universität Wien bezeichnete diese Impfreaktionen gegenüber Ö1 als „klassisch“. „Die Wahrscheinlichkeit, dass man so eine Impfreaktion hat, ist relativ hoch. Das ist ein wichtiger Punkt, dass man den Leuten auch sagt: Das wird höchstwahrscheinlich auftreten, der Großteil der Leute reagiert so“ – mehr dazu in science.ORF.at.

In Großbritannien, wo der Biontech/Pfizer-Impfstoff bereits im Einsatz ist, haben die Behörden eine Warnung für Menschen mit schweren Allergien ausgesprochen, nachdem bei zwei Geimpften eine allergische Reaktion auftrat. Beide Betroffene erholten sich rasch. Laut NHS gilt die Warnung für Menschen, die anaphylaktische Schocks auf Medikamente, Lebensmittel oder Impfstoffe gezeigt hätten.

Wenig Zeit, großes Sample

Noch nie wurden Impfstoffe so schnell zugelassen wie jene gegen das Coronavirus. Der Faktor Zeit wurde mit der Samplegröße wettgemacht. „Alle Hersteller haben von den Arzneimittelzulassungsbehörden die Auflage bekommen, große – damit meine ich 30.000 plus – Gruppen von Probanden einschließen zu müssen. Einerseits, um die Effektivität des Impfstoffes klar zu definieren, andererseits, um die Verträglichkeit zu prüfen“, sagt Infektiologe Kollaritsch.

Über Nebenwirkungen, die bei mehr als einer von 10.000 Personen auftreten, werde man recht gut Bescheid wissen. Ganz seltene Nebenwirkungen aber, die mit einer Häufigkeit von beispielsweise unter eins zu 100.000 auftreten, „wird man wahrscheinlich nicht erfassen in den klinischen Studien“, sagt Infektiologe Kollaritsch. Hätte man in den aktuellen Studien versucht, diese aufzuspüren, würde sich die Impfstoffzulassung um zwei Jahre verzögern. „Das kann sich kein Mensch leisten. Und es ist auch sonst nicht üblich“, so Kollaritsch. „Seltene Nebenwirkungen werden erst in der ersten Phase nach der Einführung des Impfstoffes erfasst, was auch so im Zulassungsprozess vorgesehen ist.“

Die Pharmafirmen müssen in der Zeit nach der Erstzulassung engmaschig in kurzen Abständen Rapports dazu abliefern, „was sich tut an der Front“, so Kollaritsch. Parallel dazu starten die Gesundheitsbehörden der Länder die entsprechende Überwachung. „Wenn dann irgendwo ein Event aufpoppt, von dem man glaubt, es könnte in ursächlicher Beziehung mit der Impfung stehen, dann wird man sich das genau anschauen“, sagt Kollaritsch.

Nutzen überwiegt Risiken

Der Nutzen der Impfung überwiegt deren Risiken jedenfalls deutlich. „Die Infektionssterblichkeitsrate bei Covid-19 liegt irgendwo in der Größenordnung zwischen fünf Promille und einem Prozent – also fünf von 1.000 bis einer von 100 sterben an Covid-19, über alle Altersklassen gerechnet. Wenn wir einen Impfstoff haben, der keine Probleme macht bis auf die Ebene von eins auf 100.000 hinunter, dann brauchen wir bitte schön nicht drüber reden, ob der sinnvoll ist“, sagt Kollaritsch.

Der Hauptsitz der Firma Moderna in Cambridge, Massachusetts.
APA/AFP/Joseph Prezioso
Modernas Impfstoff könnte Mitte Jänner in der Europäischen Union auf den Markt kommen

Schwierige Lagerung

Ein Vorteil der mRNA-Impfstoffe ist potenziell auch die leichte Herstellbarkeit. Binnen weniger Wochen lassen sich große Mengen im Labor erzeugen. Und: Mögliche Mutationen von SARS-CoV-2 lassen sich – zumindest theoretisch – rasch in den Impfstoff einarbeiten.

Die größte Herausforderung betrifft die Logistik: Die chemisch instabile RNA benötigt eine ununterbrochene Kühlkette und sehr niedrige Temperaturen. Der Biontech-Pfizer-Impfstoff muss bei minus 70 Grad Celsius transportiert und gelagert werden. MRNA-1273 bleibt nach Angaben von Moderna bei Temperaturen von zwei bis acht Grad Celsius bis zu 30 Tage lang stabil. In Gefrierschränken mit minus 20 Grad Celsius kann der Impfstoff laut Unternehmen sechs Monate lang gelagert werden.