Sitzung im EU-Parlament
Reuters/Olivier Matthys
Weniger Treibhausgase

EU-Gipfel einigt sich auf neues Klimaziel

Die Europäische Union verschärft ihr Klimaziel für 2030 deutlich. Um mindestens 55 Prozent soll der Ausstoß von Treibhausgasen unter den Wert von 1990 sinken. Das beschloss der EU-Gipfel nach langem Ringen Freitagfrüh, wie Ratschef Charles Michel in Brüssel mitteilte. Bisher galt ein Ziel von minus 40 Prozent.

Michel schrieb nach der Einigung auf Twitter: „Europa ist im Kampf gegen den Klimawandel führend.“ Die EU verpflichtet sich, bis 2050 klimaneutral zu sein – also nicht mehr Treibhausgas zu produzieren, als durch Wälder und andere natürliche CO2-Speicher ausgeglichen werden kann. Aus EU-Kreisen hatte es schon am Donnerstagnachmittag geheißen, es gebe „breite Unterstützung“ für das neue Ziel.

Der Einigung waren stundenlange Verhandlungen gerade mit osteuropäischen Ländern wie Polen, Tschechien und Ungarn vorausgegangen, die mehr finanzielle Hilfe für den Übergang von ihrer kohlegestützten Energieerzeugung zu nicht fossiler Stromproduktion gefordert hatten. Dass das Klimaziel keine leichte Hürde und die Debatte über das ambitionierte Ziel lang wird, zeichnete sich schon im Vorfeld des Gipfels ab.

Nächste Hürde EU-Parlament

Eine gemeinsame Position der Mitgliedsstaaten ist Voraussetzung für die noch anstehenden Verhandlungen mit dem EU-Parlament. Die Abgeordneten hatten sich im Oktober darauf verständigt, für ehrgeizigere Ziele einzutreten. Sie fordern ein Reduktionsziel von 60 Prozent für 2030. Vor dem virtuellen UNO-Klimagipfel am Samstag war der Druck zusätzlich hoch: Bei der Videokonferenz will die EU ihre verschärften Klimaziele vorstellen.

Gemäß dem Pariser Klimaschutzabkommen sind alle Vertragsstaaten, auch die EU, verpflichtet, bis zum 31. Dezember überarbeitete nationale Pläne bei der UNO einzureichen. Für die EU, die sich selbst als Vorreiter beim Klimaschutz sieht, wäre es eine Blamage gewesen, auf dem Klimagipfel mit leeren Händen zu erscheinen.

Kurz und Gewessler erfreut

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen begrüßte den Kompromiss: „Er bringt uns auf einen klaren Weg in Richtung Klimaneutralität in 2050“, schrieb sie auf Twitter. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), der am Verhandlungsmarathon in Brüssel teilgenommen hatte, zeigte sich erfreut über das Ergebnis. „Ich bin froh, dass es uns nun fünf Jahre nach Abschluss des Pariser Klimaabkommens gelungen ist, eine Einigung auf ein neues Klimaziel für 2030 zu erreichen.“

Gleichzeitig betonte er, dass auch die Wirtschaft nicht vergessen werden dürfe: „Parallel dazu müssen Maßnahmen gesetzt werden, um die Wettbewerbsfähigkeit in Europa zu erhalten. Es muss verhindert werden, dass europäische Unternehmen in Zukunft abwandern und anderswo unter schlechteren Standards produzieren und somit in Europa Arbeitsplätze vernichtet werden. Dazu bekennt sich der Europäische Rat in aller Klarheit.“

Erfreut äußerte sich auch Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne). „Diese Einigung ist ein dringend notwendiger Schritt, um die Klimakrise abzuwenden. Jetzt müssen dem Beschluss Taten folgen", so Gewessler. „Wir haben keine Zeit zu verlieren, es gibt keine Ausreden mehr. Das bedeutet auch: Es sind nun alle Mitgliedsstaaten gefordert, ihren Beitrag zu leisten“, so Gewessler Freitagfrüh in einer Aussendung.

NGOs sehen verpasste Chance

Die Umweltorganisation Global 2000 sieht weiteren Verbesserungsbedarf: „Damit wir eine gefährliche Überhitzung des Weltklimas verhindern können, braucht es noch viel weitergehende Schritte der EU. Eine Reduktion um mindestens 65 Prozent ist machbar und notwendig“, so Johannes Wahlmüller, Sprecher von Global 2000, am Freitag in einer Aussendung. Die Umweltschutzorganisation WWF Österreich bewertete die Einigung als „mutlosen Kompromiss auf Kosten der Zukunft“. Der aktuell geplante Schritt gehe nicht annähernd weit genug. Das sei eine verpasste Chance.

Lösung in Budgetstreit gefunden

Dass die Klimafrage den ersten Gipfeltag praktisch bis in die Früh in Beschlag nimmt, war im Vorfeld nicht abzusehen gewesen. Vor allem, weil schon am Abend eine Einigung im Budgetstreit vermeldet wurde – immerhin eine Frage, die in den vergangenen Wochen in der EU für Unruhe gesorgt hatte. Hier stand Polen – an der Seite von Ungarn – im Mittelpunkt. Mit einem von Deutschland ausgehandelten „Kompromiss“ konnte man den Konflikt nun beilegen, der Weg für das 1,8 Billionen Euro schwere Finanzpaket der EU ist damit frei.

„Deal beim mehrjährigen EU-Finanzrahmen und dem Wiederaufbaupaket“, schrieb EU-Ratspräsident Michel am Donnerstagabend auf Twitter. „Nun können wir mit der Implementierung anfangen und unsere Wirtschaft wieder sanieren“, so Michel. „Unser richtungsweisendes Konjunkturpaket wird unsere grüne und digitale Transformation vorantreiben.“

Der Kompromiss sieht eine Zusatzerklärung zu dem neuen Mechanismus vor, mit dem bestimmte Rechtsstaatsverstöße durch Kürzung von EU-Mitteln geahndet werden können. Darin sind Möglichkeiten festgelegt, wie sich Ungarn und Polen gegen die Anwendung der Regelung wehren könnten. Dazu gehört eine Überprüfung durch den EuGH, was die Anwendung des Verfahrens deutlich hinauszögern könnte.

Polen und Ungarn erfreut – und stellen Klage in Aussicht

Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki nannte den ausgehandelten Kompromiss zur neuen Rechtsstaatsklausel einen „doppelten Sieg“. „Zum einen kann der EU-Haushalt starten, und Polen bekommt daraus 770 Milliarden Zloty (rund 174 Mrd. Euro). Zum anderen sind diese Gelder gesichert, denn der Mechanismus der Bedingungen wurde durch sehr genaue Kriterien begrenzt“, sagte Morawiecki. Die Vereinbarung verhindere, dass die Regeln später gegen Polens Interessen geändert werden könnten.

Kompromiss im EU-Budgetstreit

Auf dem EU-Gipfel in Brüssel hat der Streit über das 1,8 Billionen Euro schwere EU-Budget mit einem Kompromiss geendet.

Auch Ungarn wertete die Einigung als Erfolg für sich. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban sagte in einem kurzen Video, das auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht wurde: „Wir haben die Interessen Ungarns geschützt. Die Landung war erfolgreich.“

Umgehend kündigten die beiden Mitgliedsstaaten auch eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) an. „Natürlich werden wir das tun, denn wir glauben, dass überprüft werden muss, ob das im Einklang mit den (europäischen) Verträgen ist“, so Polens Regierungschef.

Kommission will Regelung im Jänner in Kraft setzen

Die EU-Kommission will die Regelung zur Kürzung von EU-Mitteln im Fall von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsstaaten aber jedenfalls ohne Verzögerung anwenden. „Ab dem 1. Jänner gilt der Rechtsstaatsmechanismus“, sagte von der Leyen am Freitag im Anschluss an den EU-Gipfel. Ab dann werde ihre Behörde die Lage der Rechtsstaatlichkeit „auch im Rahmen des Mechanismus betrachten“.

In der EU ist man auf Klagsankündigung Ungarns und Polens zudem offenbar vorbereitet. Kommissionsvizepräsidentin Vera Jourova sagte gegenüber „Politico“, dass man durch diesen Prozess keine wesentliche Verzögerung erwarte. Es sei „ihr Recht“, den Mechanismus auf seine Rechtmäßigkeit prüfen zu lassen. „Es wird sich meiner Ansicht nach hier eher um Monate als um Jahre handeln“, so Jourova.

Coronavirus als erster Punkt auf Tagesordnung

Nach einigen Planänderungen machte den Auftakt am frühen Nachmittag die Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie, besonders im Hinblick auf die bevorstehende Impfung. Kurz lobte den „hochprofessionellen“ Prozess, um einen Impfstoff in der EU zu erwerben. Jetzt gehe es um die entsprechende Zulassung – dabei müssten „alle wissenschaftlichen Kriterien“ erfüllt sein. Er hoffe auf eine „rasche und unbürokratische“ Zulassung durch die EMA.

In der Abschlusserklärung heißt es, dass man die bisherige Koordinierung begrüße. Insbesondere bei den möglichen Lockerungen der bisherigen Reisebeschränkungen wolle man zusammenarbeiten – sobald es die gesundheitliche Situation erlaube. Wenn bald Impfstoffe eingesetzt werden könnten, heiße das nicht, „dass die Pandemie vorbei ist“. Die epidemiologische Situation in Europa bleibe besorgniserregend.

Weitere Maßnahmen gegen Türkei beschlossen

Die schwierigen Beziehungen zur Türkei wurden am Abend besprochen – lange nach Mitternacht wurden dann neue Sanktionen beschlossen. Grund sind die nicht genehmigten türkischen Erdgaserkundungen vor Zypern. Die Sanktionen könnten sowohl Einzelpersonen als auch Unternehmen treffen, die an als illegal erachteten Probebohrungen beteiligt sind. Sie sollen vom Ministerrat endgültig beschlossen werden und Einreiseverbote und Vermögenssperren umfassen.

Sanktionen gegen ganze Wirtschaftszweige oder ein EU-Waffenembargo wird es hingegen vorerst nicht geben. Entsprechende Forderungen wegen der anhaltend konfrontativen Politik der Regierung in Ankara fanden nicht die erforderliche einstimmige Unterstützung.