Mitglieder des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs (VfGH)
APA/Georg Hochmuth
Sterbehilfe

VfGH kippt Verbot von Beihilfe zum Suizid

Der Straftatbestand der „Hilfeleistung zum Selbstmord“ verstoße gegen das Recht auf Selbstbestimmung, urteilt der Verfassungsgerichtshof (VfGH). Tötung auf Verlangen bleibt dagegen strafbar.

Das Höchstgericht kippt – mit Wirksamkeit 1. Jänner 2022 – die Strafbarkeit der Beihilfe zum Selbstmord. Der Straftatbestand der „Hilfeleistung zum Selbstmord“ verstoße gegen das Recht auf Selbstbestimmung. Es sei verfassungswidrig, jede Art der Hilfe zur Selbsttötung ausnahmslos zu verbieten, befand der VfGH. Tötung auf Verlangen bleibt dagegen weiterhin strafbar.

Die Aufhebung der Beihilfe zum Selbstmord tritt mit Ablauf des 31. Dezember 2021 in Kraft. Bis dahin hat der Gesetzgeber Zeit, Maßnahmen gegen Missbrauch zu treffen. In welchem Ausmaß Beihilfe zum Selbstmord künftig erlaubt sein wird – ob es nur möglich sein wird, einen Sterbewilligen zu einem Sterbehilfeverein in die Schweiz zu fahren oder ihm auch Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen – ist noch völlig offen.

VfGH kippt Verbot von Suizidbeihilfe

Der Straftatbestand der „Hilfeleistung zum Selbstmord“ verstoße gegen das Recht auf Selbstbestimmung. Das urteilte der Verfassungsgerichtshof am Freitag. Aktive Sterbehilfe bleibt jedoch weiterhin verboten.

Recht auf freie Selbstbestimmung

Vier Antragsteller, darunter zwei Schwerkranke und ein Arzt, hatten den Antrag eingebracht, die Strafbarkeit von „Tötung auf Verlangen“ und „Mitwirkung am Selbstmord“ zu kippen. Die Beratungen darüber begannen bereits im Juli, im September hielt der VfGH eine mehrstündige öffentliche Verhandlung dazu ab. In einem Punkt folgte das Höchstgericht nun dem Antrag: Die Wortfolge „oder ihm dazu Hilfe leistet“ in Paragraf 78 des Strafgesetzbuches ist verfassungswidrig. Sie verstößt gegen das Recht auf Selbstbestimmung, weil dieser Tatbestand jede Art der Hilfeleistung unter allen Umständen verbietet. Der VfGH leitete seine Entscheidung aus dem Recht des Einzelnen auf freie Selbstbestimmung ab.

„Dieses Recht auf freie Selbstbestimmung umfasst das Recht auf die Gestaltung des Lebens ebenso wie das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben. Das Recht auf freie Selbstbestimmung umfasst auch das Recht des Sterbewilligen, die Hilfe eines dazu bereiten Dritten in Anspruch zu nehmen. Das Verbot der Selbsttötung mit Hilfe eines Dritten kann einen besonders intensiven Eingriff in das Recht des Einzelnen auf freie Selbstbestimmung darstellen. Beruht die Entscheidung zur Selbsttötung auf der freien Selbstbestimmung des Betroffenen, so ist dies vom Gesetzgeber zu respektieren“, befand der VfGH. Und: „Das Recht auf freie Selbstbestimmung umfasst auch das Recht des Suizidwilligen, die Hilfe eines (dazu bereiten) Dritten in Anspruch zu nehmen.“

Widersprüchlichkeiten im Gesetz

Nach Auffassung der Verfassungsrichter steht es zu dem sowohl in der verfassungsrechtlich begründeten Behandlungshoheit als auch in Paragraf 49a Abs. 2 Ärztegesetz 1998 zum Ausdruck kommenden Stellenwert der freien Selbstbestimmung im Widerspruch, dass Par. 78 zweiter Tatbestand StGB jegliche Hilfe bei der Selbsttötung verbietet.

Wenn einerseits der Patient darüber entscheiden kann, ob sein Leben durch eine medizinische Behandlung gerettet oder verlängert wird, und andererseits durch Par. 49a Ärztegesetz sogar das vorzeitige Ableben eines Patienten im Rahmen einer medizinischen Behandlung in Kauf genommen wird, sei es nicht gerechtfertigt, dem Sterbewilligen die Hilfe durch einen Dritten bei einer Selbsttötung zu verbieten und derart das Recht auf Selbstbestimmung ausnahmslos zu verneinen.

Maßnahmen zur Missbrauchsverhinderung angeraten

Der Verfassungsgerichtshof übersehe nicht, dass die freie Selbstbestimmung auch durch vielfältige soziale und ökonomische Umstände beeinflusst wird. Dementsprechend habe der Gesetzgeber zur Verhinderung von Missbrauch Maßnahmen vorzusehen, damit die betroffene Person ihre Entscheidung zur Selbsttötung nicht unter dem Einfluss Dritter fasst.

Expertin über Beihilfe zu Selbstmord

Der Verfassungsgerichtshof hat die Strafbarkeit der Beihilfe zum Selbstmord aufgehoben. Zu diesem kontroversiell diskutierten Thema ist Christiane Druml, Vorsitzende der Bioethikkommission, zu Gast im Studio.

Jemand anderen zur Selbsttötung zu verleiten, bleibt strafbar (erster Tatbestand des Par. 78 StGB). Die Entscheidung, sich unter Mitwirkung eines Dritten zu töten, ist nur dann grundrechtlich geschützt, wenn sie, wie bereits ausgeführt, frei und unbeeinflusst getroffen wird. Diese Bedingung ist von vorneherein nicht erfüllt (Tatbestand des „Verleitens“).

Nicht aufgehoben wird das Verbot der aktiven Sterbehilfe, also das Verbot der „Tötung auf Verlangen“. Auch aus formalen Gründen: Hätten die Verfassungsrichter diese Bestimmung (Par. 77 Strafgesetzbuch) gekippt, dann müsste Sterbehilfe als Mord verfolgt werden. Das hätte eine deutlich höhere Strafdrohung als bisher (sechs Monate bis fünf Jahre) zur Folge. Allerdings betonte Grabenwarter auch, dass die Gründe für die Aufhebung des Verbots der Mitwirkung am Selbstmord nicht ohne Weiteres auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Verbots der „Tötung auf Verlangen“ übertragbar seien.

ÖVP und Grüne reagieren zurückhaltend

ÖVP-Verfassungsministerin Karoline Edtstadler zeigte sich in einer ersten Reaktion überrascht bis ablehnend. „Mit dem Erkenntnis zur Sterbehilfe weicht der VfGH von seiner eigenen Rechtsprechung ab, wonach ein Verbot der aktiven Sterbehilfe im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers liegt. Insbesondere der Schutz der Älteren und der Schutz des Rechtes auf Leben sind zentrale Grundwerte unserer Politik. (…) Daher müssen wir nun prüfen, welche gesetzlichen Schutzmaßnahmen notwendig sind.“

Auch Grünen-Klubobfrau Sigrid Maurer reagierte sehr zurückhaltend. „Die Folgen der Entscheidung des VfGH zum Thema Beihilfe zum Suizid bedürfen einer umfassenden Prüfung. Im Wissen darum, dass das Thema Sterbehilfe gerade auch angesichts Österreichs Geschichte besonders sensibel ist, braucht es aus grüner Sicht eine breite Einbindung von Expertinnen und Experten und der Zivilgesellschaft.“

SPÖ für offene Diskussion

SPÖ-Justizsprecherin Selma Yildirim sprach sich für eine offene und breite Diskussion über zentrale Fragen am Ende des Lebens aus: „Es müssen Themen weit über das Strafrecht hinaus diskutiert werden, weil das Strafrecht an sich kein geeignetes Instrument ist, um ein Sterben in Würde herbeizuführen.“

Erfreut reagierte NEOS-Gesundheitssprecher Gerald Loacker: „Diese Entscheidung ist für viele todkranke Menschen in Österreich eine lange ersehnte Nachricht. Sie gibt ihnen die Aussicht auf ein selbstbestimmtes Lebensende, auf ein Sterben in Würde.“ NEOS sei klar gegen aktive Sterbehilfe, „aber wir waren immer dafür, die Mitwirkung an der Selbsttötung von unheilbar kranken Patienten unter bestimmten Umständen zu erlauben“.

Katholische Kirche „bestürzt“

Die katholische Kirche reagierte auf die VfGH-Entscheidung mit „Bestürzung“. Das Urteil sei ein Kulturbruch und gefährde die Solidarität, kritisierte der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Salzburger Erzbischof Franz Lackner. „Jeder Mensch in Österreich konnte bislang davon ausgehen, dass sein Leben als bedingungslos wertvoll erachtet wird – bis zu seinem natürlichen Tod. Diesem Konsens hat das Höchstgericht mit seiner Entscheidung eine wesentliche Grundlage entzogen“, sagte Lackner. Er sprach von einem „Dammbruch“ – mehr dazu in religion.ORF.at.

Auch Ärztekammer-Präsident Thomas Szekeres befürchtet nun, dass „ältere und kranke Menschen vermehrt unter Druck geraten, ihre Daseinsberechtigung und ihren Lebenswillen zu rechtfertigen“. Zudem sei nicht auszuschließen, dass, wie in Deutschland und der Schweiz, private Unternehmen die Sterbehilfe als Geschäftsmodell entdecken.

Differenziert reagierte der evangelisch-lutherische Bischof Michael Chalupka auf das VfGH-Erkenntnis: Positiv sei, dass Tötung auf Verlangen nicht straffrei gestellt wurde. Was die Beihilfe zum Selbstmord betrifft, sei das Urteil zu respektieren. Die evangelische Kirche habe sich für den Fall, dass das Verbot beibehalten worden wäre, auch dafür ausgesprochen, dass „in extremen Ausnahmefällen Barmherzigkeit und Straffreiheit möglich ist“.