Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel
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Gipfel als Erbe

Merkels Lehre aus dem Griechenland-Drama

Der Platz in den Geschichtsbüchern ist der deutschen Kanzlerin Angela Merkel sicher. Wer so lange das mit Frankreich wichtigste Land der EU anführt, hat automatisch besonderes Gewicht. Dazu kamen historische Entscheidungen – auch solche, für die sie heftige Kritik einstecken musste. Dazu zählt vor allem das von ihr dirigierte harte Vorgehen gegen Griechenland und andere schwer verschuldete Staaten in der Euro-Krise. Am Höhepunkt ihrer europäischen Macht hat sie auf dem EU-Gipfel nun die Lehren daraus gezogen.

Denn es war ein Gipfel, auf dem gleich mehrere Entscheidungen von möglicherweise historischer Reichweite getroffen wurden: Die Anhebung des Klimaziels auf 55 Prozent bis 2030, der – verwässerte aber in Summe trotzdem verschärfte – Rechtsstaatlichkeitsmechanismus und der lang umkämpfte Budgetrahmen, ohne den die EU ab Jänner auf Autopilot (aliquote Fortschreibung des bisherigen Budgets ohne Möglichkeit von Schwerpunktsetzungen, Anm.) hätte umschalten müssen. Doch die wohl überraschendste Wendung versteckt sich in einem anderen Beschluss – nämlich jenem zum Wiederaufbaupaket nach der Pandemie.

Wie so oft in der EU fiel die Entscheidung in Schritten – der Grundsatzbeschluss war schon Monate zuvor, auf dem Gipfel im Sommer gefallen. Doch nun wurden die Details ausverhandelt und im EU-Rat fixiert. Alles andere als eine breite Zustimmung im EU-Parlament wäre eine Sensation.

Sprung über eigenen Schatten

Deutschland, der größte Nettozahler, stimmt nun erstmals der gemeinsamen Schuldenaufnahme nicht nur zu, sondern hat das 750 Milliarden Euro schwere Paket zur Bewältigung der pandemiebedingten Wirtschaftskrise selbst maßgeblich initiiert und vorangetrieben. Dabei haben Berlin und insbesondere Merkel jene rote Linie überschritten, die bisher als sakrosankt für das Land galt: eine gemeinsame Schuldenaufnahme.

In dem Hilfspaket ist vereinbart, dass die EU-Kommission selbst für die gesamte Union Geld auf dem Finanzmarkt aufnehmen darf. Als Vertreterin der gesamten Union erhält Brüssel deutliche bessere Kreditkonditionen als das Gros derjenigen Länder, die von der Wirtschaftskrise besonders betroffen sind, wie beispielsweise Italien, Spanien, Polen und Ungarn.

Nur wenige Staaten wie Deutschland, die Niederlande und Österreich könnten sich auch selbst zu ähnlich günstigen oder noch besseren Konditionen Geld leihen. In Deutschland galt die gemeinsame Verschuldung, mit dem Schlagwort der „Schuldenunion“ gleich mit einer entsprechend negativen Prägung versehen, stets als totales „No-Go“.

Die damaligen Finanzminister von Deutschland und Griechenland, Wolfgang Schäuble und Yanis Varoufakis im Jahr 2015
AP/Michael Sohn
Die damaligen Finanzminister, Wolfgang Schäuble und Yanis Varoufakis, lieferten sich in der Euro-Krise oft harte Schlagabtäusche

Stereotype feierten fröhliche Urständ

Noch vor wenigen Jahren hatte Merkel selbst diese Linie bis zur letzten Konsequenz vertreten und vor allem den Mittelmeer-Ländern Griechenland, Italien und Spanien einen teils brutalen Sparkurs auferlegt, der bis heute tiefe Spuren in deren Wirtschaften und Gesellschaften zieht. Die Wogen gingen damals enorm hoch, in Griechenland wurden historische Erinnerungen an die Besetzung durch Nazi-Deutschland wach und bemüht. Umgekehrt feierten Vorurteile und Stereotype von den angeblich faulen Südländern unverblümt fröhliche Urständ. Ein gefährlicher Riss zwischen Süden und Norden, Arm und Reich tat sich auf – die EU wirkte weniger als Heilmittel gegen Spaltung, sondern eher als Spaltpilz.

Die Troika – aus Vertretern der Europäischen Zentralbank (EZB), EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds (IWF) – war regelmäßig in Athen, das am Tropf der EU und des Währungsfonds hing, um die Einhaltung der Sparvorgaben zu prüfen. Griechenland war de facto unter Kuratel gestellt – und das gesamte Land empfand das auch so. Kritik von Merkel, ihrem damaligen Finanzminister Wolfgang Schäuble und anderer Politiker von Nettozahlerländern, war dabei oft mindestens so sehr an die eigene Wählerschaft gerichtet wie an die Adresse Griechenlands.

„Außergewöhnliche Krise, außergewöhnlicher Weg“

Merkel begründete ihre Kehrtwende hin zur unerwarteten Großzügigkeit im Frühsommer gewohnt trocken: Die Krise sei außergewöhnlich, daher brauche es auch einen „außergewöhnlichen Weg“, um einen Ausweg zu finden. Im Blick hatte sie aber wohl zweierlei: Das Aufzwingen des Sparkurses in der Euro-Krise hat wohl auch Merkel mittlerweile, wenn nicht als Fehler, dann zumindest als nachteilig erkannt. Das war die Gelegenheit, um Lehren daraus zu ziehen – und die EU insgesamt damit in eine neue Richtung zu bewegen. Es war zugleich die Chance, den praktisch zum Erliegen gekommenen deutsch-französischen Motor zu reaktivieren, denn Merkel nahm damit – mit vielen Einschränkungen – eine jahrelange Forderung von Paris auf.

Und das Timing passt ebenfalls: Zu Jahresbeginn wirkte Merkel schon wie eine „lame duck“ – also eine Regierungschefin ohne Einfluss. Doch das änderte sich mit Ausbruch der CoV-Pandemie schlagartig: Die ruhige und an wissenschaftlicher Evidenz sich orientierende Merkel wurde rasch wieder zur Leit- und Orientierungsfigur in Deutschland und ganz Europa.

Vorgabe für die Zukunft

Zugleich muss sie sich keiner Wiederwahl mehr stellen und hat eine über die Jahre gewachsene Autorität, die weder im eigenen Land noch auf europäischer Ebene ihresgleichen hat. Das ermöglichte es ihr, nach Euro-Krise und Flüchtlingskrise auch in der Pandemiekrise den Weg vorzugeben.

Eine Vorgabe, die lange nach ihrem Abgang von der politischen Bühne nachwirken könnte: Wenn die gemeinsame Kreditaufnahme nämlich kein einmaliger Akt bleiben sollte, sondern zu einem stärkeren Zusammenwachsen des Wirtschaftsblocks führt – was wiederum die Position der EU, bei all ihrer fehlenden Schlagkraft im außen- und sicherheitspolitischen Bereich, im globalen Wirtschaftswettbewerb stärken könnte.