Die Regelung greife eine bestimmte Religion, den Islam, ohne nähere Begründung heraus, was dem Gebot der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates widerspreche, begründeten die Verfassungsrichterinnen und -richter die Entscheidung. Sie sehen den Gleichheitsgrundsatz verletzt. Zwar beziehe sich das von der türkis-blauen Regierung eingeführte Verbot nicht ausdrücklich auf das Tragen eines islamischen Kopftuches.
In den Gesetzesmaterialien zum Schulunterrichtsgesetz komme jedoch die Absicht des Gesetzgebers zum Ausdruck, dass konkret das Tragen eines islamischen Kopftuches untersagt werden soll. Das selektive Verbot könne sich nachteilig auf die Inklusion der Schülerinnen auswirken und zu Diskriminierung führen, begründete VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter das Urteil.

„Islamische Herkunft ausgegrenzt“
„Durch die Regelung (…) wird islamische Herkunft und Tradition als solche ausgegrenzt.“ Das berge das Risiko, „muslimischen Mädchen den Zugang zur Bildung zu erschweren beziehungsweise sie gesellschaftlich auszugrenzen.“ Das Argument der Regierung, wonach Schülerinnen vor sozialem Druck (das Kopftuch zu tragen, Anm.) geschützt werden müssten, reicht aus Sicht des Verfassungsgerichtshofs für ein Verbot nicht aus.
Es obliege dem Gesetzgeber, unter Wahrung des Neutralitätsgebotes und des verfassungsrechtlichen Bildungsauftrages Instrumente zur Konfliktlösung zu finden und die nötigen Ressourcen bereitzustellen, um religiös begründetes Mobbing zu beenden, erklärte Grabenwarter.
Ungerechtfertigterweise seit Herbst 2019 verboten
Die Aufhebung des Verhüllungsverbots an Volksschulen hatten zwei Kinder (und deren Eltern) verlangt, die im Sinne der sunnitischen bzw. schiitischen Rechtsschule des Islam erzogen werden. Sie sehen einen unverhältnismäßigen Eingriff in Religionsfreiheit und religiöse Kindererziehung – und auch eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes, weil der Hidschab verboten sei, die jüdische Kippa und der Patka der Sikhs aber nicht.
Seit Herbst 2019 war „das Tragen weltanschaulich oder religiös geprägter Bekleidung, mit der eine Verhüllung des Hauptes verbunden ist“, an öffentlichen Schulen und an Privatschulen, die Öffentlichkeitsrecht besitzen, verboten. Die Regelung galt für Mädchen bis zu jenem Schuljahr, in dem sie zehn Jahre alt werden.
Laut Gesetz sollte es der „sozialen Integration von Kindern gemäß den lokalen Gebräuchen und Sitten, der Wahrung der verfassungsrechtlichen Grundwerte und Bildungsziele der Bundesverfassung sowie der Gleichstellung von Mann und Frau“ dienen. Kritiker sahen das Gesetz als Diskriminierung. Die Islamische Glaubensgemeinschaft (IGGÖ) sah dadurch die Religionsfreiheit und das Vorrecht der Eltern auf die Erziehung verletzt und brachte im Jänner dieses Jahres eine Beschwerde ein.
IGGÖ: „Populistische Verbotspolitik“ beendet
Die IGGÖ begrüßte das VfGH-Urteil. Dadurch werde eine „populistische Verbotspolitik“ beendet. Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes beweise, „dass unser Vertrauen in den Rechtsstaat und unsere Geduld sich ausgezahlt haben“, sagte IGGÖ-Präsident Ümit Vural. Die Durchsetzung der Chancengleichheit und Selbstbestimmung von Mädchen und Frauen erreiche man nicht durch Verbote.
„Die Entscheidung des Höchstgerichts ist zu respektieren, jetzt sind die Regierungsfraktionen am Zug“, hieß es am Freitag aus dem SPÖ-Klub. Nun gelte es, ein Gesamtkonzept für Integration zu entwickeln, „das Integration nicht mehr als populistischen Spielball, sondern als gesellschaftspolitische Aufgabe versteht“. Grünen-Klubchefin Sigrid Maurer betonte die freie Entfaltung und Selbstbestimmung von Mädchen und jungen Frauen. „Wir werden das Ziel, Mädchen in ihrer Selbstbestimmung zu bestärken, in der Bundesregierung mit anderen Maßnahmen verfolgen“, so Maurer.
Überaus positiv reagierte NEOS-Integrationssprecher Yannick Shetty auf die VfGH-Entscheidung. „Wir begrüßen die Entscheidung des VfGH, die unsere Auffassung bestätigt, dass ein einseitiges Kopftuchverbot grundrechtswidrig ist, weil es zwischen den Religionsgemeinschaften diskriminiert.“
Bedauern bei Faßmann und FPÖ
ÖVP-Bildungsminister Heinz Faßmann reagierte mit Bedauern auf die VfGH-Entscheidung. Über eine mögliche Neuregelung wollte man im Bildungsministerium noch nichts sagen. Faßmann: „Wir nehmen das Höchstgerichtsurteil selbstverständlich zur Kenntnis und werden uns mit den Argumenten auseinandersetzen.“ Er bedauere, „dass Mädchen dadurch nicht die Möglichkeit haben, frei von Zwang ihren Weg durchs Bildungssystem zu gehen“. Der Bund, konkret Bildungsminister Faßmann, muss den Antragstellenden die mit 3.640,80 Euro bestimmten Prozesskosten innerhalb von zwei Wochen ersetzen.
Für Verfassungsministerin Karoline Edtstadler und Frauenministerin Susanne Raab (beide ÖVP) ist die Entscheidung „natürlich zu akzeptieren, denn wir leben in einem Rechtsstaat“. Sowohl aus integrations- als auch aus frauenpolitischer Sicht findet es Raab „allerdings bedauerlich, wenn kleine Mädchen bereits in der Volksschule ein Kopftuch tragen und sich verhüllen müssen“.
Weniger zufrieden waren die Reaktionen auch aus der FPÖ. FPÖ-Chef Norbert Hofer bedauerte die Entscheidung und sieht nun das Parlament am Zug: „Durch eine 2/3-Mehrheit im Nationalrat haben wir die Möglichkeit, die Regelung durch ein Verfassungsgesetz wieder in Kraft zu setzen.“ Als „traurigen Tag für Kinderrechte“ bezeichnete der Wiener FPÖ-Stadtrat Dominik Nepp das Urteil. Der oberösterreichische FPÖ-Chef Manfred Haimbuchner sprach von einem „zivilisatorischen Rückschritt für die Gesellschaft“.