Außenansicht des österreichischen Verfassungsgerichtshofs
ORF.at/Christian Öser
VfGH zu Sterbehilfe

Regierung reagiert zurückhaltend

Skeptisch bis ablehnend sind die Reaktionen auf die VfGH-Entscheidung ausgefallen, die Strafbarkeit der Beihilfe zum Suizid aufzuheben. Die Regierungsspitze reagierte zurückhaltend und verwies auf eine genaue Prüfung der Folgen des Erkenntnisses. Bis 31. Dezember 2021 hat der Gesetzgeber nämlich Zeit, die verfassungswidrige Bestimmung zu reparieren.

Jetzt müsse man „prüfen, welche gesetzlichen Schutzmaßnahmen notwendig sind“, erklärte die für Verfassungsfragen zuständige Kanzleramtsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) am Freitag. Sie zeigte sich überrascht, dass der VfGH von seiner eigenen Rechtsprechung abgewichen sei – und betonte: „Das Leben ist das höchste Gut und genießt aus gutem Grund verfassungsrechtlich höchsten Schutz. Wir werden auch weiterhin dafür sorgen, dass niemand den Wert seines Lebens infrage stellen muss.“

Schweigsam zeigten sich Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Vizekanzler Werner Kogler (Grüne). Sie verwiesen auf Stellungnahmen von Parteikolleginnen. Grünen-Klubobfrau Sigrid Maurer sagte: „Die Folgen der Entscheidung des VfGH zum Thema Beihilfe zum Suizid bedürfen einer umfassenden Prüfung. Im Wissen darum, dass das Thema Sterbehilfe gerade auch angesichts Österreichs Geschichte besonders sensibel ist, braucht es aus grüner Sicht eine breite Einbindung von Expertinnen und Experten und der Zivilgesellschaft.“

„Recht auf freie Selbstbestimmung“

Der VfGH hat am Freitag die Strafbarkeit von Beihilfe zum Suizid aufgehoben und damit eine schwerwiegende Entscheidung getroffen. Der Straftatbestand der „Hilfeleistung zum Selbstmord“ verstoße gegen das Recht auf Selbstbestimmung. Es sei verfassungswidrig, jede Art der Hilfe zur Selbsttötung ausnahmslos zu verbieten, befand der VfGH. Tötung auf Verlangen bleibt dagegen weiterhin strafbar.

VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter
APA/Georg Hochmuth
VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter verkündete am Freitag das Ergebnis der Beratungen zur Sterbehilfe

„Dieses Recht auf freie Selbstbestimmung umfasst sowohl das Recht auf die Gestaltung des Lebens als auch das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben“, sagte VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter. Zur freien Selbstbestimmung gehöre die Entscheidung, wie man sein Leben gestalte. „Ebenso gehört dazu aber auch die Entscheidung des Einzelnen, ob und aus welchen Gründen er sein Leben in Würde beenden will.“ Und: „Das Recht auf freie Selbstbestimmung umfasst auch das Recht des Suizidwilligen, die Hilfe eines (dazu bereiten) Dritten in Anspruch zu nehmen.“

In welchem Ausmaß Beihilfe zum Suizid künftig erlaubt sein wird – ob es nur möglich sein wird, einen Sterbewilligen zu einem Sterbehilfeverein in die Schweiz zu fahren, oder auch, ihm Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen – ist noch völlig offen. Der Gesetzgeber ist nun gefordert, entsprechende Regelungen und Schutzmaßnahmen gegen Missbrauch zu schaffen. Dafür hat die Politik ein Jahr Zeit, denn die Aufhebung der Beihilfe zum Suizid tritt mit 1. Jänner 2022 in Kraft.

SPÖ für offene Diskussion

SPÖ-Justizsprecherin Selma Yildirim sprach sich für eine offene und breite Diskussion über zentrale Fragen am Ende des Lebens aus: „Es müssen Themen weit über das Strafrecht hinaus diskutiert werden, weil das Strafrecht an sich kein geeignetes Instrument ist, um ein Sterben in Würde herbeizuführen.“

Erfreut reagierte NEOS-Gesundheitssprecher Gerald Loacker: „Diese Entscheidung ist für viele todkranke Menschen in Österreich eine lange ersehnte Nachricht. Sie gibt ihnen die Aussicht auf ein selbstbestimmtes Lebensende, auf ein Sterben in Würde.“ NEOS sei klar gegen aktive Sterbehilfe, „aber wir waren immer dafür, die Mitwirkung an der Selbsttötung von unheilbar kranken Patienten unter bestimmten Umständen zu erlauben“.

Katholische Kirche „bestürzt“

Die katholische Kirche reagierte auf die VfGH-Entscheidung mit „Bestürzung“. Das Urteil sei ein Kulturbruch und gefährde die Solidarität, kritisierte der Vorsitzende der Bischofskonferenz, der Salzburger Erzbischof Franz Lackner. „Jeder Mensch in Österreich konnte bislang davon ausgehen, dass sein Leben als bedingungslos wertvoll erachtet wird – bis zu seinem natürlichen Tod. Diesem Konsens hat das Höchstgericht mit seiner Entscheidung eine wesentliche Grundlage entzogen“, sagte Lackner. Er sprach von einem „Dammbruch“ – mehr dazu in religion.ORF.at.

„Bestürzt“ über die Lockerung des Sterbehilfeverbots war Alfred Trendl, der Präsident des Katholischen Familienverbandes. „Schmerzlich“ ist die Aufhebung des Verbots des assistierten Suizids für Waltraut Klasnic, die Vorsitzende des Dachverbandes Hospiz Österreich. Für das „Salzburger Ärzteforum für das Leben“ ist diese Entscheidung des VfGH ein „Dammbruch“, der weitreichende negative Folgen haben könnte.

Auch der Kärntner Bischof Josef Marketz forderte die Politik auf, unmissverständlich den Missbrauch des nötigen neuen Gesetzees zu verhindern. Er plädierte vehement für den weiteren Ausbau und die noch intensivere Stärkung von Hospiz- und Palliativeinrichtungen sowie der Suizidprävention. Heftige Kritik am VfGH-Entscheid übte der steirische Bischof Wilhelm Krautwaschl: „Das menschliche Leben ist schützenswert – von Anfang bis zum Ende. Diese grundlegende Botschaft unseres Glaubens und damit auch des Verständnisses vom Menschen und dem Miteinander in der Gesellschaft wird durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes ausgehebelt“, meinte er laut Kathpress.

Die Evangelische Kirche war zwar für einen „gewissen Spielraum“ einer Straffreiheit für dramatische Ausnahmefälle. Darüber sei der VfGH jetzt aber hinausgegangen. Damit die Neuregelung – für die der VfGH Zeit bis zum 31. Dezember 2021 gegeben hat – „nicht unbarmherzig wird“, müsse es klare Auflagen geben.

Ärzte bedauern Entscheidung

„Diese Entscheidung ist bedauerlich“, befand auch Thomas Szekeres, der Präsident der Österreichischen Ärztekammer. Denn es drohe die Gefahr, „dass ältere und kranke Menschen vermehrt unter Druck geraten, ihre Daseinsberechtigung und ihren Lebenswillen zu rechtfertigen“. „Kategorisch abzulehnen“ sei „geschäftsorientierte Sterbehilfe“. Vor allem dürfe aber keine Ärztin und kein Arzt „dazu gezwungen werden, gegen ihr oder sein Gewissen zu handeln und zur Tötung eines Menschen beizutragen“.

Die Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Notfallmedizin (ÖGARI) war erleichtert, dass Tötung auf Verlangen und Verleitung zum Suizid weiterhin strafbar bleiben. „Mit großer Sorge“ sieht Präsident Klaus Markstaller aber die Entkriminalisierung der Beihilfe zum Suizid. Die Österreichische Palliativgesellschaft (OPG) verlangte ebenfalls klare Auflagen – inklusive eines strikten Verbots kommerzieller Anbieter.

Das Salzburger Ärzteforum äußerte „große Sorge und Betroffenheit“ in einer Aussendung. Mit diesem „Dammbruch“ durch den Verfassungsgerichtshof werde eine „schiefe Ebene betreten, deren Dynamik man in den Benelux-Staaten, der Schweiz oder Kanada in verschiedensten Variationen vor Augen geführt bekommt“. Das Urteil werde weitreichende Folgen haben, die noch gar nicht abzusehen seien – mehr dazu in salzburg.ORF.at.

„Historischer Durchbruch“

Einen „historischen Durchbruch“ sah hingegen die Österreichische Gesellschaft für ein humanes Lebensende (ÖGHL). Selbstbestimmtes Sterben sei nun „auch in Österreich ein Menschenrecht“. Österreich ziehe damit im internationalen Vergleich nach, wenn auch mit einiger Verspätung. „Es ist eine Entscheidung, die schwerkranken Menschen, die nicht mehr länger leiden möchten, das Sterben ein Stück humaner macht“, sagte Wolfgang Obermüller, Politiksprecher der ÖGHL, in einer Aussendung.

VfGH kippt Verbot von Suizidbeihilfe

Der Straftatbestand der „Hilfeleistung zum Selbstmord“ verstoße gegen das Recht auf Selbstbestimmung. Das urteilte der Verfassungsgerichtshof am Freitag. Aktive Sterbehilfe bleibt jedoch weiterhin verboten.

Zufrieden war auch der Schweizer Verein Dignitas, der die Verfassungsklage initiiert hat. Die Freiheit, über Art und Zeitpunkt des eigenen Lebensendes selbst zu bestimmen, sei ein vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 2011 bestätigtes Grundrecht. Bisher sei es in Österreich ignoriert worden. Aber nun habe der VfGH „ein von Sachverstand getragenes Urteil gefällt“, hieß es in einer Aussendung von Dignitas. Der Sterbehilfeverein hatte die von Anwalt Wolfram Proksch namens vierer Antragsteller – drei Betroffene und ein Arzt – eingebrachte Verfassungsklage initiiert.

Für den Wiener Pastoraltheologen Paul Zulehner zeigt die Debatte über den assistierten Selbstmord eine „in der Tiefe der Kultur“ vorhandene gesellschaftliche Polarisierung. Auf den Gesetzgeber komme jetzt eine „Heidenarbeit“ zu: Er müsse etwa erst klären, was unter „menschenwürdigem Sterben“ in einer solidarischen Kultur und unter „unerträglichen Schmerzen“ in einer Zeit der Hightech-Medizin zu verstehen sei. Und es müsse verhindert werden, dass Sekundärinteressen wie etwa Belastung durch Pflege oder Kosten des oft langen Sterbens das hehre Argument freier Selbstbestimmung unterwandern.