Zeltlager im Flüchtlingscamp auf Samos, Griechenland
Reuters/Jose Cortez
Flüchtlinge auf griechischen Inseln

Lage „nicht nur auf Lesbos katastrophal“

Ein Großbrand im bis dahin größten Flüchtlingslager innerhalb der Europäischen Union hat den Namen Moria, aber auch die seit Jahren festgefahrene Flüchtlingsproblematik im September in die Öffentlichkeit gerückt. Monate später sitzen auf der griechischen Insel Lesbos weiter Tausende Menschen – unter anderem im Moria-Ersatzlager Kara Tepe – fest. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) spricht von „unmenschlichen Bedingungen“ – und damit seien auch die auf anderen griechischen Inseln wie Samos, Leros, Kos und Chios Gestrandeten weiter konfrontiert.

„Die Lage lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Katastrophal“, heißt es dazu auf Anfrage von ORF.at. Familien mit kleinen Kindern seien bei Wintertemperaturen in dünnen, im Schlamm stehenden Zelten untergebracht, „in einer Hauptwindschneise direkt am Meer, wo sie den Witterungen stark ausgesetzt sind“. Den MSF-Ausführungen zufolge seien selbst die Grundbedürfnisse nicht gedeckt: „Es wurde nicht einmal für eine adäquate Wasserversorgung gesorgt – geschweige denn für ausreichend medizinische Hilfe.“

Das sei mit Blick auf die laufende Coronavirus-Pandemie „besonders kritisch“. Die in den Flüchtlingslagern untergebrachten Menschen unterlägen zwar seit März einem strengen Lockdown samt restriktiven Ausgangsbeschränkungen – vorbeugende Maßnahmen gegen das Virus gebe es in den Lagern allerdings keine.

Ratten und Tetanus-Impfaktion

„Bezeichnend“ für die Zustände in den Flüchtlingslagern sei schließlich auch die Tatsache, „dass wir auf der Insel Samos eine Tetanus-Impfkampagne durchführen mussten“. Der von Ärzte ohne Grenzen genannte Hintergrund: „Durch die unhygienischen Bedingungen ist das dortige Lager voller Ratten, immer wieder wurden Kleinkinder mit Rattenbissen zur Behandlung in unsere Klinik gebracht.“

„Solche Tetanus-Impfaktionen führen wir sonst nur in eskalierten humanitären Krisensituationen durch, in denen die medizinische Hilfe zusammengebrochen ist, oder wenn Bevölkerungsgruppen völlig vernachlässigt werden.“ Für die Hilfsorganisation sei es nun auch „bezeichnend und aus unserer Sicht inakzeptabel, dass wir diese Präventionsstrategie nun auf EU-Boden durchführen müssen“.

Das auf rund 600 und mit mehreren tausend Menschen gleich mehrfach überbelegte Aufnahmezentrum Vathy gab schon zuvor immer wieder Anlass zur Sorge. Anfang Oktober verwies eine auf Samos tätige Hilfsorganisation auf „jahrelange unmenschliche Lebensbedingungen, Wechselwirkung von bestehender Spannung und Frustration mit der Angst vor COVID-19, unzureichender Zugang zu medizinischer Versorgung und mangelnde Kommunikation seitens der Behörden“. Allesamt Bedingungen, die auch zur Katastrophe in Moria führten, wie es in einer Aussendung von Samos Volunteers dazu weiter heißt.

„Menschenverachtender Zynismus“

Laut Ärzte ohne Grenzen gibt es nun eine weitere, erneut für Beunruhigung sorgende Entwicklung – konkret würden sich die Lager immer mehr zu einer Art „Black Box“ entwickeln. Man beobachte mit „großer Sorge“, dass etwa „humanitäre Helferinnen und Helfer zunehmend ausgeschlossen, und sogar Medien durch eine neue Gesetzgebung der Zutritt verwehrt“ werde. „Das langfristige Ziel dürfte sein, die neu geplanten Lager zu geschlossenen Einrichtungen zu machen“, wie Ärzte ohne Grenzen hier befürchtet.

Die Menschenrechtsorganisation Reporter ohne Grenzen (RSF) berichtete zuletzt von einer „generellen Informationssperre“, die nun auch eine österreichische Recherchegruppe auf Lesbos daran gehindert habe, das derzeit von über 7.000 Geflüchteten „unter menschenunwürdigen Bedingungen“ bewohnte Moria-Nachfolgelager Kara Tepe zu besuchen. „Menschenverachtender Zynismus kennt innerhalb der Europäischen Union keinerlei Grenzen mehr“, wie RSF-Österreich-Präsidentin Rubina Möhring dazu per Aussendung mitteilte.

Betroffen von dem von RSF scharf kritisierten Zugangsverbot war eine Wiener Journalistengruppe, die Anfang Dezember nach Lesbos gereist war. Die Informationsreise wurde den RSF-Angaben zufolge vom Bischof der Diözese Innsbruck, Hermann Glettler, und der Initiatorin der Aktion „Courage – Mut zu Menschlichkeit“ der Schauspielerin Katharina Stemberger organisiert.

Von Moria zu „Moria 2“

Was die Zustände in den griechischen Flüchtlingslagern betrifft, sieht – so wie Ärzte ohne Grenzen – auch Möhring nicht zuletzt die Europäische Union gefordert. „Ist dies inzwischen alles Schall und Rauch?“, wie Möhring mit Verweis auf den 2012 an die EU vergebenen Friedensnobelpreis infrage stellt. Ärzte ohne Grenzen verweist hier auf die zahllosen, bisher ungehörten Evakuierungsappelle. Man habe zudem immer gesagt, dass das Lager Kara Tepe nur eine Übergangslösung sein dürfe und keinesfalls „aus der Asche von Moria ein neues Elendslager entsteht“.

Genau das sei nun aber passiert, und heute könne Kara Tepe getrost als „Moria 2“ bezeichnet werden, so Ärzte ohne Grenzen, wobei die Hilfsorganisation dazu noch ernüchternd festhält: „Die Menschen leben dort unter noch schlimmeren Bedingungen wie zuvor, mit allen gesundheitlichen und psychologischen Folgen.“ Moria sei die Hölle für die dort festgehaltenen Menschen gewesen und das neue Lager Kara Tepe „um nichts besser“.

Angesichts der katastrophalen Lage und des herannahenden Winters sei es nun das Gebot der Stunde, die Lager auf den griechischen Inseln zu evakuieren. Außer Frage steht für Ärzte ohne Grenzen, „dass Griechenland dies allein nicht schafft“. Es sei somit auch „dringend nötig, dass auch andere EU-Länder Menschen von den Inseln aufnehmen – auch Österreich trägt hier eine Verantwortung“.

„Neues, qualitativ hochwertiges Aufnahmezentrum“

Die EU-Kommission hat sich indes gemeinsam mit den griechischen Behörden zuletzt auf den Bau eines neuen ständigen Flüchtlingslagers auf der Insel Lesbos geeinigt. Bis September 2021 werde dort ein „neues, qualitativ hochwertiges Aufnahmezentrum“ entstehen, so die Brüsseler Behörde am Donnerstag. „Dies ist ein wichtiger Schritt zur Lösung der Situation nach den Bränden, die im September das Lager Moria zerstört haben.“

Europas bis dahin größtes Flüchtlingslager war fast vollständig abgebrannt, mehr als 12.000 Menschen wurden obdachlos. Auf dem nahe gelegenen ehemaligen Truppenübungsplatz Kara Tepe wurde daraufhin ein provisorisches Zeltlager errichtet. Von Anfang an klagten die Bewohner über katastrophale Bedingungen, etwa dass es an Betten, Strom und fließendem Wasser fehle. Im Oktober zerstörten heftige Regenfälle 80 Zelte. Widrige Witterungsverhältnisse gab es in der Folge immer wieder. Erst vor wenigen Tagen fegte erneut ein orkanartiger Sturm mit stundenlangem Starkregen über die Insel.

Ein Mädchen hält einen Ballon im Zeltlager kara Tepe auf Lesbos
Reuters/Elias Marcou
Auch im Moria-Nachfolgelager Kara Tepe bleibt die Lage prekär

Im Rahmen eines EU-finanzierten Programms seien nun „geschlossene Lager“ mit Einlasskontrollen und „doppelter Umzäunung“ bis Sommer 2021 geplant. Die Camps sollen über Brandschutzsysteme verfügen und „menschenwürdige Lebensbedingungen“ bieten. Die Bedingungen in dem neuen Lager würden „im Einklang mit EU-Recht unter Berücksichtigung internationaler Standards“ stehen, etwa in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit und sanitäre Einrichtungen, heißt es Agenturberichten zufolge vonseiten der EU-Kommission.

UNHCR fordert „langfristige Lösungen“

Zunehmende Turbulenzen gibt es in der Asyl- und Flüchtlingsproblematik indes auch auf bilateraler Ebene. So eskalierte zuletzt ein Flüchtlingsstreit zwischen Griechenland und der Türkei. Die Regierung in Athen beschuldigte Ankara, Geflüchtete gezielt auf griechische Inseln zu schicken.

„Wir haben zuverlässige Informationen darüber, dass Schleuser in der Türkei bewusst Migranten aus Somalia sammeln und über Griechenland in die EU schicken“, sagte Migrationsminister Notis Mitarakis vor Journalisten in Athen. Man verlange von der Türkei, sich an den 2016 geschlossenen Flüchtlingspakt mit der EU zu halten, sagte Mitarakis und forderte in dieser Hinsicht auch Unterstützung seitens der EU.

In Griechenland sind in diesem Jahr nach Angaben des UNO-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) rund 15.000 Geflüchtete angekommen, knapp 9.500 von ihnen auf griechischen Inseln wie Lesbos, Chios und Samos. Was dort nach wie vor fehlt, sind UNHCR-Angaben zufolge „angemessene Aufnahmebedingungen, Zugang zu fairen und schnellen Asylverfahren, Integrationsmöglichkeiten für diejenigen, denen Asyl gewährt wurde, und eine rasche Rückkehr für diejenigen, die keinen internationalen Schutz benötigen“, und somit „langfristige Lösungen“.