Eine Frau mit Handschuhen legt eine Probe auf ein Mikroskop
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Drosten zu CoV-Mutation

„Nicht aus der Ruhe bringen lassen“

Auf die Furcht vor einer Ausbreitung der in Großbritannien entdeckten neuen Coronavirus-Variante haben Fachleute zurückhaltend reagiert. Man benötige mehr Daten zur Mutation und müsse weitere Erkenntnisse abwarten. Man dürfe sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, sagte der deutsche Virologe Christian Drosten am Montag.

Die neue Variante ist nach Einschätzung des Experten bereits in Deutschland angekommen, für ihn aber vorerst kein Grund zur Sorge. „Es ist schon in Italien, in Holland, in Belgien, in Dänemark, sogar in Australien, warum sollte es nicht in Deutschland sein“, sagte er: „Davon darf man sich jetzt auch wirklich nicht irgendwie aus der Ruhe bringen lassen.“ Drosten sagte, er sei jetzt „alles andere als beunruhigt, was das angeht“.

Er wolle allerdings auch nicht verharmlosen, vieles sei noch unklar bei der in Großbritannien stärker aufgetretenen Mutation. Auf Twitter schrieb Drosten bereits am Sonntag, dass die Verbreitung ein Zufall sein könnte. Die Mutationen verschafften dem Virus nicht zwingend einen Selektionsvorteil, auch wenn das möglich sei. Ein Selektionsvorteil kann dazu führen, dass sich ein Virus leichter ausbreiten kann.

Virologe Christian Drosten
APA/AFP/Michael Kappeler
Der deutsche Virologe Drosten zeigte sich nicht beunruhigt über die neue Variante des Coronavirus

In einem am Montag ausgestrahlten Interview mit dem Deutschlandfunk sagte der Virologe, dass er nicht verharmlosen wolle: „Es lohnt sich, darüber zu reden.“ Als Politiker müsse man reagieren – derzeit seien die Reaktionen aber mit Alarmismus behaftet. Die Angabe über eine 70-prozentig höhere Ansteckungsrate im Vergleich zur Ursprungsvariante sei aber ein Schätzwert. Die Zahl ist laut Drosten "einfach so genannt worden“.

„Nicht ungewöhnlich“

Auch Bernd Lamprecht, Chef der Lungenheilkunde im Kepler Uniklinikum in Linz, äußerte sich ähnlich. „Prinzipiell muss man sagen, dass Mutationen bei Viren nicht ungewöhnlich sind, und solche Mutationen müssen nicht zwingend dazu führen, dass sich diese neuen Varianten dann auch durchsetzen. Veränderungen können sowohl zu milderen als auch zu schwereren Verläufen führen oder nur die Ansteckungsfähigkeit beeinflussen“ – mehr dazu in ooe.ORF.at.

Für eine fundierte Einschätzung zur Gefährlichkeit der vor allem in Großbritannien kursierenden neuen Variante von SARS-CoV-2 ist es noch zu früh, hieß es dazu von Andreas Bergthaler vom Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM) in Wien. Zwar gebe es Hinweise zu einer beschleunigten Ausbreitung, der Krankheitsverlauf sei aber offenbar nicht verändert, wie Bergthaler dazu gegenüber dem Ö1-Mittagsjournal sagte.

Viele genetische Veränderungen

Großbritanniens Premierminister Boris Johnson sagte am Sonntag, dass die SARS-CoV-2-Variante VUI-2020/12/01 bis zu 70 Prozent ansteckender sei als die bisher bekannte Form. Seit ihrem ersten Auftreten Mitte September in London und der südöstlichen Grafschaft Kent habe sich diese Variante mittlerweile zur „dominanten“ Form entwickelt, so auch der oberste wissenschaftliche Berater der britischen Regierung, Patrick Vallance. Verlässliche Studien dazu gibt es allerdings noch nicht.

Ersten Analysen britischer Wissenschaftler zufolge verfügt die neue Variante über ungewöhnlich viele genetische Veränderungen, vor allem im Spike-Protein. Dieses Protein sitzt auf der Oberfläche des Virus. Der Erreger benötigt es, um in menschliche Zellen einzudringen.

Bergthaler: „Argument für Strategiewechsel“

Was man derzeit nicht weiß, sei, ob irgendeine dieser Mutationen zu Veränderungen des Virus führt, sagte Andreas Bergthaler von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) im „Kurier“.

Bergthaler sagte, er habe den Eindruck, „dass die britischen Politiker diese Virusvariante als Argument für ihren Strategiewechsel zu Weihnachten benützen“: „Denn im Vergleich dazu sind die Reaktionen der Wissenschaftler – auch der britischen – sehr vorsichtig. Man kann nicht ausschließen, dass diese Mutationen ansteckender sind, man hat aber keinen Beweis dafür.“ Seitens des Gesundheitsministeriums hieß es gegenüber ORF.at am Sonntag: „Diese Virusmutation wurde in Österreich bisher nicht nachgewiesen.“

„Wir brauchen mehr Daten“

„Es ist eine Warnung, dass wir genauer aufpassen müssen“, sagte Jesse Bloom, ein Evolutionsbiologe am Fred Hutchinson Cancer Research Center in Seattle, gegenüber der „New York Times“ („NYT“). Mutationen, die Viren infektiöser machen, machen sie allerdings nicht unbedingt gefährlicher. Nach Angaben von Englands oberstem Amtsarzt Chris Whitty gebe es bisher keinen Hinweis, dass die neue Virusvariante ein höheres Sterberisiko für die Infizierten bedeute.

Analyse von ZIB-Wissenschaftschef Günther Mayr

Wie gefährlich ist die CoV-Mutation in Großbritannien? Günther Mayr, Leiter der ZIB-Wissenschaftsredaktion, antwortet.

Die Aussage, dass die Mutation um bis zu 70 Prozent infektiöser sei als das herkömmliche Virus, basiere auf einer Modellierung und sei nicht in Laborexperimenten bestätigt worden, erinnerte Müge Cevik, Expertin für Infektionskrankheiten in Schottland. „Ich glaube, dass wir ein wenig mehr experimentelle Daten brauchen“, sagte die Forscherin, die auch die britische Regierung berät. „Wir können nicht ganz ausschließen, dass die Übertragbarkeit mit dem menschlichen Verhalten zusammenhängen könnte.“

Bauanleitung für Immunantwort

Theoretisch können Mutationen auch die Wirksamkeit des Impfstoffes beeinflussen – der zielt nämlich genau auf das Spike-Protein. Ändert sich dessen Aufbau, könnte das Immunsystem auch nach einer Impfung blind für den Erreger sein, so die Überlegung. Allerdings erzeuge der derzeit eingesetzte Impfstoff Immunreaktionen gegen das gesamte Protein, das sich auf der Oberfläche des Virus befindet, erläuterte Richard Neher vom Biozentrum der Universität Basel. „Selbst wenn eine Mutation vorhanden ist, verhindert dies nicht die Erkennung durch das Immunsystem.“

Passanten in der Londoner Regent Street
APA/AFP/Niklas Halle’n
Fußgänger in der Londoner Regent Street – mittlerweile sind strenge Ausgangsbeschränkungen in Kraft

Tatsächlich müssen auch Impfstoffe gegen andere Viruserkrankungen, etwa gegen Grippe, immer wieder an aktuell zirkulierende Virusvarianten angepasst werden. Bei den neuartigen mRNA-Impfstoffen, zu denen der in Großbritannien eingesetzte Coronavirus-Impfstoff gehört, geht das vergleichsweise einfach. Diese Impfstoffe enthalten keine vollständigen Viren, sondern nur eine genetische Information, eine Bauanleitung für ein Virusprotein. Diese Bauanleitung lässt sich relativ schnell an einen neuartigen Erreger anpassen.

„Wir haben tausend große Kanonen auf das Virus gerichtet hat“, sagte Kartik Chandran, Virologe am Albert Einstein College of Medicine in New York, laut „NYT“. Um der Immunität zu entkommen, müsse das Virus eine Reihe von Mutationen anhäufen, die es dem Erreger ermöglichen, die Wirksamkeit der körpereigenen Abwehr zu untergraben. „Egal, wie sich das Virus windet und windet, es ist nicht so einfach, eine genetische Lösung zu finden, die wirklich all diese verschiedenen Antikörperspezifitäten bekämpfen kann“, so Kartik.

WHO fordert striktere CoV-Maßnahmen in Europa

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) teilte am Sonntag mit, abgesehen von den Fällen in England sei die Virusvariante neunmal in Dänemark sowie jeweils einmal in den Niederlanden und Australien festgestellt worden. Am Sonntagabend wurde auch von einem Fall in Italien, einem Reiserückkehrer aus Großbritannien, berichtet. Dieser sei symptomfrei.

Die WHO twitterte in der Nacht auf Sonntag, sie stehe mit Großbritannien in engem Kontakt. Die britischen Behörden würden weiter Informationen und Ergebnisse ihrer Analysen und Studien teilen. Die WHO riet dazu, weiter alle Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um eine Ausbreitung des Virus zu verhindern, und diese gegebenenfalls auch zu verschärfen. „In Europa, wo die Übertragung hoch und weit verbreitet ist, müssen die Länder ihre Kontroll- und Vorbeugemaßnahmen verstärken“, sagte eine WHO-Sprecherin am Sonntag.

Keine Verbindung zu Variante in Südafrika

Zuletzt war auch in Südafrika eine neue Variante des Virus aufgetaucht. Mit jener in Großbritannien dürfte sie keine direkte Verbindung haben: „Die Variationen in England und Südafrika sind ähnlich, aber vermutlich unabhängig voneinander entstanden“, sagte der deutsche Wissenschaftler Wolfgang Preiser, Leiter der Abteilung für Medizinische Virologie an der Universität von Stellenbosch in Südafrika, der deutschen „Welt“ (Montag-Ausgabe).

Auch die europäische Gesundheitsbehörde ECDC teilte in einer Gefahreneinschätzung vom Sonntag mit, die Variante in Südafrika habe „keine enge evolutionäre Beziehung“ zu jener in Großbritannien. Sie zeige aber, dass die Entstehung erfolgreicher Varianten mit ähnlichen Eigenschaften womöglich nicht selten sei.