„Die Frauen hatten den Vorteil, die konnten das Filmprogramm im Handtasch’l mitnehmen“, sagt Wilfinger gegenüber ORF.at. „Die Männer hätten es für die Rocktasche falten müssen – also haben sie es mit der Post bestellt.“ So begründet er, dass das akribische Sammeln von Filmprogrammen nach Nummern heute ein fast rein männliches Phänomen ist. Jedenfalls sind die Programme heute ein Kuriosum, das Wilfinger, seit 1996 auch selbst Gestalter von Filmprogrammen, persönlich am Herzen liegt.
Er hält damit eine Tradition am Leben, die zu den Anfängen der Filmgeschichte zurückweist: Am 28. Dezember 1895 fand im Keller des Pariser Grand Cafe erstmals eine öffentliche Filmvorführung statt. Es gab es zehn Kurzfilme zu sehen, die zusammen 20 Minuten dauerten. An dem historischen Ereignis nahmen neben Filmpionier Georges Melies nur 32 Zuschauer teil.
Orientierung und wertvolle Quelle
Schon im Jahr darauf wurden in Österreich begleitende Filmtexte herausgegeben, die in den Kinos auflagen, Informations- und letztlich Werbetexte. Anfangs waren das keine reinen Filmtexte, sondern Kinospielpläne, weil es zu Beginn ja nur kurze Filme gab, so Wilfinger: „Der Vorläufer waren weniger die Theater- und Opernprogramme, sondern eher Programme von Variete und Zirkus, in der Form der Abfolge der Programmnummern.“
Da stand oft nicht mehr als „Komödie – zum Totlachen“ oder „Drama – hochdramatisch“, die Filmtitel waren großteils niemandem bekannt. Ab 1911 ging man dazu über, einen Umschlag zu gestalten, in den Zettel zu den einzelnen Filmen eines Kinoabends gelegt wurden. „Während der Stummfilmzeit ist zu jedem Film ein Programm erschienen, weil die Kinobesitzer gesagt haben, wenn das Publikum den Inhalt nicht liest, versteht es den Film nicht.“ Schließlich war das Medium Film etwas Neues für das theatergewöhnte Publikum – und anfangs gab es noch keine erklärenden Zwischentitel.
„Außerdem hat die Zensur auch herumgeschnipselt“, so Wilfinger – erst eine Inhaltsangabe konnte beim Verständnis der Handlung helfen. Aus diesem Grund sind Filmprogramme aus den 1910er Jahren heute eine unschätzbare Primärquelle: Nicht selten sind diese Programmzettel der einzige Nachweis, dass ein Stummfilm überhaupt existiert hat. „Oft kennen auch die amerikanischen Filmhistoriker den Filminhalt nicht, und wir können die Handlung aufgrund der Filmprogramme ausführlicher wiedergeben oder vervollständigen.“
Massenmedium im Sonderformat
Später wurden die Programme zu den bis heute existierenden vierseitigen bebilderten Filmprogrammen, oft kunstvoll gestaltet und in verschiedenen Kleinverlagen hergestellt. In den 30er Jahren war das Filmprogramm ein erfolgreiches Massenmedium im Sonderformat – ein historisch bisher wenig erschlossener Aspekt der Alltagskultur, mit dem sich Wilfinger bereits seit 30 Jahren befasst.
Er selbst, Cineast aus Leidenschaft und ursprünglich Bauingenieur, hat im Laufe der Jahrzehnte an die 20.000 Programme gesammelt. Gemeinsam mit der Sammlung des Filmarchivs Austria ist das die wahrscheinlich weltweit umfangreichste Sammlung ihrer Art, die Wilfinger nun mit dem zweibändigen Grundlagenwerk „Kino zum Mitnehmen – Filmprogramme in Österreich 1896–2020“ erstmals aufgearbeitet hat. Die großzügig illustrierte Publikation ist nicht nur filmhistorisch bedeutend, sondern zugleich ein hochvergnüglicher Spaziergang durch 124 Jahre Film- und Kinogeschichte.
Liebhaberstücke in Kleinstauflage
Auch kleine und größere Kuriositäten lassen sich an Filmprogrammen ablesen, etwa bei „Casablanca“, in dem Conrad Veidt in der 1947 angelaufenen Originalversion den Nazi-Offizier Major Strasser spielt. „In der deutschen Fassung, die in den 50er Jahren ins Kino gekommen ist, fehlt die Figur des Major Strasser komplett, und das ist auch am Filmprogramm nachzuvollziehen“, so Wilfinger – an das unbequeme Faktum, dass Nazis real existieren, wollte man das deutschsprachige Publikum lieber nicht erinnern.
Inzwischen haben die Filmprogramme, die Wilfinger seit fast 25 Jahren in vier Reihen mit unterschiedlichen Schwerpunkten selbst gestaltet, nur noch ein Liebhaberpublikum, etwa 200 Abonnenten verbleiben. Auch im Coronavirusjahr 2020, wo nur etwa halb so viele Filme wie regulär im Kino gestartet sind, ist Wilfinger den Filmprogrammen treu geblieben: „Ich habe viele Programme gemacht zu Filmen, die anders als geplant nie einen Kinostart erlebt haben“ – darunter zuletzt David Finchers „Mank“, der auf Netflix zu sehen ist. Wilfinger ist unverdrossen und glaubt ans Kino: „Es wird weiterproduziert.“