Ein Mann geht an einer Schlande Lastkraftwägen vorbei.
Reuters/Simon Dawson
Versorgungsengpass

Grenzchaos wegen Mutation setzt Briten zu

In Großbritannien wächst die Furcht vor Engpässen weiter. Hintergrund sind die neue CoV-Variante und deshalb geschlossene Grenzen zu dem Inselstaat. Der britische Einzelhandelsverband British Retail Consortium (BRC) warnte vor weitreichenden Folgen für Verbraucher und Verbraucherinnen, sollte der Warenverkehr am Ärmelkanal nicht bald wieder aufgenommen werden. Paris will nun die Sperre für Reisende lockern, für Transportunternehmen soll es bald Infos geben, hieß es unterdessen aus London.

Bereits am Vortag kam es zu einem Transportchaos an den Grenzen und zu einem Ansturm auf die Supermärkte. Es sei ein „Vorgeschmack“ auf einen „No Deal“-Brexit, so Beobachter. „Es gibt ein potenzielles Problem direkt nach Weihnachten, und da geht es um frische Produkte. Wir reden hier über Dinge wie Salat, Gemüse, frisches Obst, die hauptsächlich aus Europa kommen in dieser Jahreszeit“, sagte Andrew Opie, der beim BRC für Lebensmittel zuständig ist, der BBC am Dienstag.

Das Problem seien leere Lastwagen, die auf der englischen Seite des Kanals stecken bleiben. 2.180 Fahrzeuge seien auf dem stillgelegten Flughafen Manston geparkt worden, sagte eine Sprecherin der Kommunalverwaltung der südostenglischen Grafschaft Kent am Dienstagabend. Etwa 630 weitere Lastwagen parkten auf mehreren Spuren der Autobahn M20 zwischen London und dem Hafen Dover. Handelsverbände gingen sogar von 4.000 Lastwagen aus, die derzeit auf Ausreise warten.

Lkw-Stau auf einer Autobahn in der englischen Grafschaft Kent vor dem Eurotunnel
AP/PA/Steve Parsons
Der riesige Stau Richtung Eurotunnel am Montag

Sollten sie sich nicht bald wieder in Bewegung setzen, kämen Früchte wie Himbeeren und Erdbeeren nicht mehr rechtzeitig an. „Solange es heute noch geklärt werden kann, wird es nur minimalen Einfluss auf Verbraucher haben“, sagte Opie.

Lockerungen ab Mittwochfrüh

Demächst könnte sich die Lage aber wieder entspannen: Flugzeuge, Schiffe und der von London aus fahrende Eurostar-Zug könnten ab Mittwochfrüh wieder verkehren, teilte der Beigeordnete Minister für Verkehr, Jean-Baptiste Djebbari, am Dienstagabend via Twitter mit. Französische Staatsbürger, Menschen mit Wohnsitz in Frankreich und andere autorisierte Reisende müssten einen negativen CoV-Test haben.

„Gute Fortschritte heute und eine Einigung mit der französischen Regierung“, berichtete der britische Verkehrsminister Grant Shapps am Abend. Er kündigte Informationen für Transportunternehmen an. Frankreich hatte am Sonntagabend wegen der raschen Ausbreitung einer neuen Variante des Coronavirus einen generellen Stopp für Reisende aus Großbritannien beschlossen. Diese Notmaßnahme wurde auf zunächst 48 Stunden begrenzt.

Supermärkte gestürmt

Am Montag hatten die Briten und Britinnen die Supermärkte gestürmt. In ganz London bildeten sich große Warteschlangen vor Supermärkten, berichtete Reuters am Montag. In einigen Geschäften seien Bananen, Fleisch und Milch bereits ausverkauft. Auch am Dienstag war es in den Supermärkten dicht gedrängt. Der britische Supermarktriese Sainsbury’s hatte am Montag vor bald eintretenden Lieferengpässen – gerade bei frischen Lebensmitteln wie Obst und Gemüse – gewarnt.

Menschen warten vor einem „Waitrose and Partners“ Supermarkt in London.
Reuters/Hannah Mckay
Lange Schlangen bildeten sich am Montag auch vor den Supermärkten – etwa in London

Sainsbury’s forderte die Regierungen in London und Paris auf, für eine sofortige Abfertigung von Lebensmittellieferungen in den Häfen zu sorgen. Auch vom Kontinent schickten laut BRC nur wenige Fuhrunternehmen ihre Fahrer nach Großbritannien – ohne eine Garantie, dass diese auf den Kontinent zurückkehren können.

Brüssel für Ende von Reiseverboten für Großbritannien

Die EU-Kommission schickte am Dienstag einen Appell an die EU-Mitglieder. Es sei zwar wichtig, vorläufige Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, zugleich müssten unerlässliche Reisen aus und nach Großbritannien sowie der Warenverkehr möglich sein, hieß es in einer Empfehlung an die EU-Staaten am Dienstag. „Flug- und Zugsverbote sollten eingestellt werden, da unverzichtbare Reisen sichergestellt und Unterbrechungen der Lieferketten vermieden werden sollten.“

In den Empfehlungen der EU-Kommission, die für die EU-Staaten nicht bindend sind, hieß es weiter, dass die Mitgliedsländer koordiniert vorgehen sollten. So sollten alle nicht notwendigen Reisen bis auf Weiteres vermieden werden. Unter anderem für EU-Bürgerinnen und EU-Bürger sowie Britinnen und Briten mit Wohnsitz in einem EU-Staat solle es Ausnahmen vom Reiseverbot geben, falls sie einen CoV-Test machten oder in Quarantäne gingen.

Medizinisches Personal und andere unverzichtbare Arbeitnehmer sollen nicht in Quarantäne gehen müssen. Für Piloten, Lkw-Fahrer und Schiffskapitäne sollten Ausnahmen von Test- und Quarantänepflichten gelten. Der Warenverkehr müsse ungestört weiterlaufen. Unterdessen wollen die Niederlande Reisende aus Großbritannien und auch Südafrika in Kürze wieder ins Land lassen. Voraussetzung sei, dass sie ein negatives CoV-Testergebnis vorweisen könnten, sagte die Ministerin für Transport, Cora van Nieuwenhuizen, in Den Haag dem TV-Sender NOS. Reisende müssten dann noch für zehn Tage in Heimquarantäne.

Menschen in einem Sainsbury Supermarkt in London
Reuters/Hannah Mckay
Dichtes Gedränge auch am Dienstag in einem Sainsbury’s-Supermarkt in London

Lkw-Stau auf dem Weg nach Dover auch am Dienstag

Frankreich hatte am Sonntag überraschend den kompletten Warenverkehr von Großbritannien am Ärmelkanal gestoppt, nachdem die britische Regierung ihre Erkenntnisse über die neue Virusvariante mitgeteilt hatte. Der Regierung zufolge hatten sich in der Nacht auf Dienstag etwa 1.000 Lastwagen auf dem Weg zum britischen Hafen Dover gestaut. Laut BBC stieg diese Zahl jedoch bereits in der Früh rasch.

Eine Grafik zeigt den Eurotunnel zwischne Großbritannien und Frankreich
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

In den vergangenen Tagen hatten sich auf der britischen Seite des Eurotunnels und vor den Fährverbindungen auf den Kontinent lange Lastwagenstaus aufgebaut – teils wegen des Weihnachtsfrachtverkehrs, teils wegen der Unsicherheit vor dem Brexit-Stichtag. Nun kam die Abschottung der EU vor dem mutierten Coronavirus in Großbritannien hinzu. Normalerweise überqueren in der Vorweihnachtszeit etwa 10.000 Lastwagen täglich den Ärmelkanal. So ist nun wenige Tage vor dem endgültigen Ausscheiden des Landes aus der EU der Haupthandelsweg zwischen Großbritannien und Kontinentaleuropa unterbrochen.

Medien: Vorgeschmack auf „No Deal“-Brexit

Jetzt erhalte Großbritannien einen Vorgeschmack darauf, wie schlimm die Dinge in zwei Wochen sein könnten, wenn der „No Deal“-Brexit erst einmal eingetreten sei, hieß es etwa in einer Analyse von CNN, aber auch in britischen Medien. Die Handelsverbände versuchten die Sorgen der Konsumenten und Konsumentinnen vor Nahrungsmittelknappheit zwar zu verringern, warnten jedoch gleichzeitig vor Problemen, wenn es zu keinem Abkommen zwischen der EU und Großbritannien komme.

Die britische Polzie bagann einen Teil der Fahrzeuge auf der britischen Autobahn M20 zu eskortieren um den enormen Verkehr zu bewältigen.
APA/AFP/Adrian Dennis
Der Weg nach Frankreich via Hafen Dover bzw. durch den Eurotunnel ist die wichtigste Verbindung auf das europäische Festland

Premier Boris Johnson versuchte, die Bevölkerung zu beruhigen. „Die große Mehrheit von Lebensmitteln, Medikamenten und Versorgungsgütern erreichen uns wie immer“, sagte er. Die Lieferketten seien „stark und robust“. Über den seit Sonntagabend geschlossenen Hafen Dover würden nur 20 Prozent der Güter gehandelt, und das betreffe nur Waren, die von Menschen begleitet werden, also Lastwagen. „Jeder kann weiter einkaufen.“

Barnier: „Letzter Anlauf“ für Handelspakt

Großbritannien scheidet nach dem EU-Austritt Ende Jänner 2020 zum Jahreswechsel auch aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion aus. Der anvisierte Vertrag soll Zölle und Handelshemmnisse abwenden. Eine Frist, mit der eine Ratifizierung des Vertrags noch heuer möglich gewesen wäre, lief am Montag aus.

Am Dienstag gab es offenbar Bewegung in der Hauptstreitfrage des künftigen Zugangs für EU-Fischkutter zu britischen Gewässern. Ein Handelspakt in letzter Sekunde scheint damit wieder möglich. „Wir befinden uns wirklich an einem kritischen Moment“, sagte der EU-Chefunterhändler Michel Barnier in Brüssel vor einem Treffen mit den Vertretern der Mitgliedsstaaten. „Wir unternehmen noch einen letzten Anlauf.“