EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
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Brexit-Handelspakt

London und Brüssel erzielen Einigung

Nach monatelangen Verhandlungen über einen Brexit-Handelspakt ist der Europäischen Union und Großbritannien am Heiligen Abend überraschend eine Einigung gelungen. Ein chaotischer Bruch zum Jahreswechsel scheint damit abgewendet. Beide Seiten sprachen von einem „guten Abkommen“.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte in einer Pressekonferenz, es handle sich um ein faires und ausgewogenes Abkommen: „Es hat gedauert, aber nun haben wir ein Abkommen. Es war ein langer und steiniger Weg, aber das Ergebnis ist gut.“ Man werde weiter in allen Punkten mit Großbritannien zusammenarbeiten.

Das Abkommen garantiere faire Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen auf beiden Seiten und sehe auch Zusammenarbeit in Bereichen wie Klimapolitik, Energie oder Verkehr vor. Gemeinsam könne man immer noch mehr erreichen als allein. Brexit-Chefverhandler Michel Barnier bedankte sich bei allen Beteiligten und den Verhandelnden für ihre Anstrengung und Geduld: „Die Uhr tickt nicht mehr“, sagte Barnier in Anspielung auf den drohenden harten Bruch zwischen Großbritannien und der EU.

Einschätzung der Einigung

Die ORF-Korrespondentinnen Veronika Fillitz (Brüssel) und Eva Pöcksteiner (London) kommentieren das Ergebnis der Verhandlungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich.

Johnson: „Kontrolle zurückerlangt“

Auch die britische Seite zeigte sich erfreut über den „Brexmas“: Der britische Premierminister Boris Johnson sagte, man habe mit dem Abkommen „die Kontrolle über unser Schicksal“ zurückerlangt. „Wir werden unsere eigenen Standards setzen“, so der Konservative. „Ich wollte jegliche Unsicherheit beenden.“ Der Vertrag werde den britischen Unternehmen erlauben, noch enger zusammen mit Europa zu arbeiten. Das britische Parlament werde am 30. Dezember über den Text abstimmen.

Britischer Premierminister Boris Johnson
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Ein Weihnachtsgeschenk für Boris Johnson

Auch seitens der EU gibt es noch einiges zu erledigen. Alle 27 Mitgliedsstaaten und das EU-Parlament müssen der Einigung zustimmen. Bereits für Freitagvormittag wurden die Botschafter der EU-Staaten einbestellt, sie werden von Barnier über das Ergebnis unterrichtet. Anschließend müssen die Mitgliedsstaaten und das Parlament im Eilverfahren das Hunderte Seiten starke Abkommen prüfen. Die EU-Kommission will eine vorläufige Anwendung des Handelsdeals bis Ende Februar vorschlagen. Denn für eine reguläre Ratifizierung durch das Europaparlament reicht die Zeit bis Jahresende nicht mehr. Sie soll Anfang 2021 im Nachhinein erfolgen.

Britischer-Brexit-Chefverhandler David Frost
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Verhandler der britischen Seite in Brüssel

Mit der Einigung scheint ein harter wirtschaftlicher Bruch zum Jahreswechsel abgewendet. Der Brexit-Handelspakt soll Zölle verhindern und Reibungsverluste in den Hunderte Milliarden Euro schweren Wirtschaftsbeziehungen so gering wie möglich halten. Zudem soll er den EU-Fischern Zugang zu britischen Gewässern sichern und viele Alltagsfragen klären, etwa die Zusammenarbeit bei Polizei, Justiz oder Energieversorgung, aber auch den Studentenaustausch.

Fischereirechte und Wettbewerb als Knackpunkte

Der Streit über künftige Fischereirechte war der letzte große Knackpunkt in den Verhandlungen – entsprechend war es wohl auch kein Zufall, dass Johnson bei der Verkündung der Einigung eine Krawatte mit kleinen Fischen trug. Am Fischereithema wurde auch bis zuletzt gearbeitet. Bereits am Mittwochnachmittag war eine Grundsatzeinigung beim anderen großen Konfliktthema bestätigt worden: die EU-Forderung nach fairem Wettbewerb, dem Level Playing Field. Dabei geht es um vergleichbare Sozial-, Umwelt- und Subventionsstandards, um den EU-Binnenmarkt auf Dauer vor Dumping zu schützen.

Krawatte mit Fischen von Boris Johnson
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Johnsons Fisch-Krawatte als Statement

Banier äußerte sich am Donnerstag näher zum Thema Fischerei. Das Abkommen ermögliche beiderseitigen Zugang zu den Fischgründen, wobei künftig neue Fangquoten und eine neue Aufteilung der Fischereizonen gelte. Zudem wurde eine Übergangszeit von fünfeinhalb Jahren für die Kürzung der Fangquoten für EU-Fischer vereinbart. Mit Großbritannien in dieser Zeit eine Verringerung der Fangmengen um 25 Prozent vereinbart. Ab Juni 2026 solle dann jährlich erneut über die Fangquoten mit Großbritannien verhandelt werden.

„Dieses Abkommen verlangt Anstrengungen, das weiß ich“, sagte Barnier. Trotz des geringen wirtschaftlichen Gewichts ist der Sektor für Mitgliedstaaten wie Frankreich, die Niederlande, Dänemark und Irland von großer politischer und sozialer Bedeutung. Man werde den europäischen Fischern beistehen, so Barnier.

Die britische Fischereiindustrie zeigte sich unmittelbar nach der Einigung aber enttäuscht. Es gebe keinen definitiven Bruch, so Verbandschef Barrie Deas zu Reuters. „Es hat ein bisschen was von Schummelei.“

Dover-Chaos mit abschreckender Wirkung

Großbritannien hatte die EU Ende Jänner verlassen und ist nur noch in einer Übergangszeit bis 31. Dezember Mitglied im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion. Dann kommt der wirtschaftliche Bruch. Ohne Abkommen würden Zölle und aufwendigere Kontrollen notwendig. Wirtschaftsvertreter auf beiden Seiten warnten vor Verwerfungen und dem Verlust Zehntausender Jobs. Die Verhandlungen hätten eigentlich schon im Oktober abgeschlossen werden sollen, zogen sich jedoch immer weiter in die Länge.

Zuletzt hatte die Zuspitzung der Coronavirus-Pandemie in Großbritannien weiteren Druck aufgebaut. Nachdem eine mutierte Variante des Coronavirus entdeckt wurde, hatte Frankreich zeitweise seine Grenzen für Verkehr aus Großbritannien geschlossen. Deshalb stauten sich auf britischer Seite Tausende Lastwagen – aus Sicht von Kritikern ein Vorgeschmack auf die Lage bei einem „No Deal“-Brexit.

„Solide Grundlage“

Deutschland, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat, zeigte sich erfreut. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel lobte, dass es nun „klare Regeln“ für die zukünftige Zusammenarbeit gebe. Das sei von historischer Bedeutung. Merkel kündigte eine intensive Prüfung des Textes durch das eigene Kabinett sowie den Rat an.

EU-Brexit-Chefverhandler Michel Barnier und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
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Brexit-Chefverhandler Barnier und EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen zeigten sich erleichtert

Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron teilte mit, die „europäische Einheit und Standfestigkeit haben sich ausgezahlt“. Frankreich verfolgte im Brexit-Gezerre oft eine strenge Linie. Unter anderem hatte Frankreich während der Verhandlungen lange auf den Schutz seiner Fischer gedrängt. Auch der irische Ministerpräsident Micheal Martin begrüßt die Einigung. Das Abkommen sei ein guter Kompromiss und stelle ein ausgewogenes Ergebnis dar. Die Vereinbarung sei die am wenigsten schlechte Version des Brexit, die möglich sei. Spaniens Ministerpräsident Pedro Sanchez kündigt eine Fortsetzung des Dialogs mit Großbritannien über Gibraltar an. Auch EU-Parlamentspräsident David Sassoli und EU-Ratspräsident Charles Michel begrüßten die Einigung.

Erleichterung auch in Österreich

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) kündigte via Twitter an: „Wir werden die Vereinbarung nun sorgfältig prüfen“. Er dankte von der Leyen und Barnier für ihre „unermüdlichen Bemühungen“. Auch Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) begrüßte „den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich. Das Abkommen ist eine solide Grundlage für eine starke Partnerschaft der Zukunft.“ Auch Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) dankte Barnier und twitterte: „Das Abkommen wird die Grundlage für eine starke und nachhaltige zukünftige Partnerschaft bilden.“

SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner sagte, man sei erleichtert, da ein harter Brexit die schlechteste Option gewesen wäre. Demokratiepolitisch sei der Vorgang allerdings kritisch zu sehen: „Hier wird in letzter Minute ein 2.000 Seiten dickes Vertragswerk über einen Handelspakt durch die Institutionen gepeitscht“, die Sozialdemokratie werde daher genau auf die Folgen achten. Auch SPÖ-EU-Delegationsleiter Andreas Schieder merkte an, dass letztlich doch die Vernunft gesiegt habe, nachdem die britische Regierung „irrational und populistisch“ gehandelt habe.