Kerzen in der Wiener Innenstadt
APA/Georg Hochmuth
Anschlag in Wien

Verfassungsschutz machte schwere Fehler

Das Justizministerium und das Innenministerium haben am Mittwoch den ersten Bericht der Untersuchungskommission zum Terroranschlag in der Wiener Innenstadt veröffentlicht. Die Kommission ortet darin schwere Fehler des Verfassungsschutzes im Vorfeld des Angriffs am 2. November, bei dem vier Menschen ermordet wurden. Der Justiz wurde unterdessen ein „korrektes Handeln“ bescheinigt.

Der das Innenressort betreffende Teil wurde aus nachrichtendienstlichen Gründen nicht zur Gänze veröffentlicht, wie der Generalsekretär des Ministeriums, Helmut Tomac, sagte. Die veröffentlichten Passagen belegen allerdings eklatante Versäumnisse der Verfassungsschützer im Umgang mit dem späteren Attentäter.

Der Angreifer wurde im Dezember 2019 vorzeitig bedingt aus einer 22-monatigen Haftstrafe wegen terroristischer Vereinigung – er hatte sich in Syrien der radikalislamistischen Terrormiliz Islamischer Staat (IS) anschließen wollen – entlassen. Bei einer Gefährderansprache am 17. Dezember verhielt er sich laut Kommission unkooperativ und wurde daher vom Wiener Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) für eine Risikoeinschätzung vorgesehen.

Erster Bericht zu Terroranschlag

Die Untersuchungskommission nach dem Terrorattentat vom 2. November in der Wiener Innenstadt hat ihren ersten Zwischenbericht vorgelegt, den Justiz- und Innenministerium getrennt veröffentlichten.

Eine solche wurde vom LVT allerdings erst am 11. September 2020 vorgelegt, sie musste obendrein zweimal nachgebessert werden und wurde erst am 7. Oktober – knapp vier Wochen vor dem Anschlag – abgeschlossen. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde der Attentäter von einem „moderaten Risiko“ auf ein „hohes Risiko“ hochgestuft – mehr dazu in wien.ORF.at.

Dauer der Erstbewertung „nicht akzeptabel“

Fazit der Kommission: „Dass eine Erstbewertung fast zehn Monate dauert, erscheint nicht akzeptabel.“ Seitens des LVT wurde die lange Dauer gegenüber der Untersuchungskommission mit Ressourcenknappheit und Zeitmangel erklärt, was das Gremium unter Vorsitz der Strafrechtlerin Ingeborg Zerbes einen – sollte der Einwand berechtigt sein – „Organisationsmangel“ nennt.

Obwohl deutschen Verfassungsschützern bekannt war, dass sich der 20-Jährige Mitte Juli mit deutschen und Schweizer Islamisten mehrfach in Wien traf und eine Observation der Gruppe durch heimische Beamte veranlasst wurde, war dem für die operative Gefahrenabwehr in der Bundeshauptstadt zuständigen Wiener LVT die Brisanz dieser Begegnung nicht bewusst.

Dabei habe es sich um eine „durchaus als anschlagsbereit eingeschätzte Terrorzelle“ gehandelt“, wird in dem 25-seitigen Bericht der Untersuchungskommission betont. Ein einziger LVT-Mitarbeiter sei sich zwar klar gewesen, dass eine „hochgefährliche Terrorzelle“ zusammenkam, das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) habe ihn jedoch „nachdrücklich zum Schweigen verpflichtet“, hält die Kommission fest. Das BVT bestreitet diesen Vorgang.

Eindeutige Hinweise aus Slowakei

Aus Sicht der Kommission geschlampt wurde auch, als eindeutige Hinweise der slowakischen Behörden gemeldet wurden, dass der 20-Jährige am 21. Juli 2020 versucht hatte, in Bratislava Munition für ein automatisches Sturmgewehr zu kaufen, das er später beim Terroranschlag benutzte.

Das BVT erhielt am 27. Juli Bilder aus der Überwachungskamera des slowakischen Waffengeschäfts, die jedoch erst am 24. August an das Wiener LVT mit der Bitte um Identifikation des Abgebildeten weitergeleitet wurden. Tags darauf meldete das LVT dem BVT, dass auf den Fotos „augenscheinlich“ der „einschlägig bekannte“ 20-Jährige zu sehen sei.

Kerzen und Blumen im Bereich des Tatorts des Wiener Terroranschlags
APA/Helmut Fohringer
Bei dem Anschlag am 2. November wurden vier Menschen ermordet. Die Polizei erschoss den Attentäter.

Ein LVT-Mitarbeiter erkannte laut Kommission nun eine „bedenkliche Verdichtung von Hinweisen“ – seine Anregung, Maßnahmen nach dem Polizeilichen Staatsschutzgesetz zu ergreifen, sei von seinen Vorgesetzten und dem BVT aber nicht aufgegriffen wurde. Letzten Endes wurde der spätere Attentäter aus Sicht des BVT erst am 16. Oktober eindeutig als gescheiterter Munitionskäufer in Bratislava identifiziert. Bemängelt wird von der Untersuchungskommission auch, dass die Staatsanwaltschaft keine Kenntnis von den Vorgängen um den 20-Jährigen und dessen missglücktem Munitionskauf erlangte.

„Große Verunsicherung“ beim BVT nach Razzia

Die Kommission, die drei Sitzungen mit dem BVT und zwei mit dem Wiener LVT absolviert hat, hält in dem Bericht ausdrücklich fest, dass sich Mitarbeiter beider Behörden „über ihre hohe Belastung und die fehlenden technischen und personellen Ressourcen“ beklagt hätten, „die sich unmittelbar auf die Qualität der Arbeit auswirken könnten“.

Darüber hinaus sei beim BVT „eine große Verunsicherung der Belegschaft wahrnehmbar, die insbesondere auf die Durchsuchungsaktion im Jahr 2018 (gemeint: die inzwischen als rechtswidrig erkannten Hausdurchsuchungen im Februar 2018 in den Räumlichkeiten des BVT und in Wohnungen von Mitarbeitern im Zuge eines Ermittlungsverfahrens der Korruptionsstaatsanwaltschaft, Anm.) zurückzuführen ist“.

Lob zollt die Kommission den Einsatzkräften, die beim Anschlag am 2. November beteiligt waren. Diese hätten „ausgesprochen schnell, gezielt und aufeinander abgestimmt reagiert“. Was die aufgezeigten Versäumnisse betrifft, räumt die Kommission ein: „Keine der festgestellten Schwächen im Informationsfluss, keine Verzögerung kann auch nur annähernd als kausal für den Anschlag am 2. November gewertet werden. ‚Was wäre passiert, wenn‘ – eine solche Frage, auf die sich viele eine einfache Antwort wünschen, lässt sich nicht lösen. Eine risikofreie Gesellschaft kann es ebenfalls nicht geben.“

Tomac: Parlament soll Einblick erhalten

Tomac sicherte dem Parlament umfassende Einblicke in die ersten Erkenntnisse der Untersuchungskommission zu, deren Endbericht Ende Jänner vorliegen soll. „Jene Ausschnitte, die nicht veröffentlicht werden können, da ansonsten Ermittlungen gefährdet, aber auch die Zusammenarbeit mit Partnerdiensten erschwert würde, werden selbstverständlich dem geheimen Unterausschuss im Parlament zur Verfügung gestellt.“ Der Zwischenbericht werde im Innenministerium jetzt eingehend studiert, so Tomac. Man habe eine eigene Ermittlungsgruppe eingerichtet, „die dienstrechtliche Schritte prüft und danach entsprechende Ableitungen trifft“.

„Der erste Zwischenbericht zeigt und belegt, wie wichtig es war, die Kommission einzusetzen und die Vorgänge zu untersuchen“, sagte der Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit, Franz Ruf, auf den vorgelegten Bericht. „Dem Innenminister, mir und dem Landespolizeipräsidenten Gerhard Pürstl war von Anfang wichtig, dass es volle Aufklärung und Transparenz gibt. Die Ergebnisse werden vor allem für die bereits laufende Reform des Verfassungsschutzes einen wesentlichen Beitrag leisten.“

„Korrektes Handeln“ der Justiz

Was den justiziellen Teil betrifft, „attestiert der Zwischenbericht ein korrektes Handeln der Justiz“, so Justizministerin Alma Zadic (Grüne). Zadic machte die die Justiz betreffenden Feststellungen der Kommission öffentlich – „im Sinne der Transparenz und Aufklärung“, wie sie betonte.

In dem Bericht heißt es hinsichtlich der bedingten Entlassung des späteren Attentäters, der im Dezember 2019 vorzeitig aus einer 22-monatigen Haftstrafe wegen terroristischer Vereinigung auf freien Fuß gesetzt wurde, das Gericht sei der Empfehlung der Jugendgerichtshilfe betreffend ein Kontaktverbot und einer psychotherapeutischen Behandlung des jungen Mannes nicht gefolgt. Dabei handle es sich um eine Entscheidung der unabhängigen Rechtsprechung auf Grundlage der Gesetze.

Die Untersuchungskommission legte der Justiz zwei konkrete Empfehlungen vor. Einerseits sollte bei verurteilten Islamisten zukünftig „die Deradikalisierungsarbeit, die gerade auch bereits im Vollzug wichtig wäre, strukturell und gesetzlich besser verankert und finanziell besser ausgestattet werden“, ist dem Bericht wörtlich zu entnehmen. Zweitens sollten vor der Entlassung verurteilter terroristischer Straftäter Fallkonferenzen eingerichtet werden, „in denen die verschiedenen Institutionen, die alle zur Gefahrenabwehr beitragen sollen, in einem vertraulichen Rahmen regelmäßig Informationen austauschen“.

Opposition fordert Konsequenzen

Die SPÖ fühlt sich durch den Bericht in ihrer Kritik am BVT bestätigt. „Das BVT hat schleppend gearbeitet, die Kommunikation zwischen den Behörden scheint nicht zu funktionieren, die Gefährdungslage durch den Täter wurde falsch eingestuft und aus der Evidenz nicht die richtigen Schlüsse gezogen“, so SPÖ-Sicherheitssprecher Reinhold Einwallner. Der Zwischenbericht zeige das Bild eines nicht funktionalen BVT, der seit Jahrzehnten unter ÖVP-Ministern gearbeitet hat. Trotz großer Ankündigungen von Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) „hat sich an dieser Situation offenbar nichts geändert“, kritisierte Einwallner.

Die FPÖ forderte Nehammers Rücktritt. Das BVT sei „Kristallisationspunkt des Versagens im Vorfeld des grausamen Attentats“, sagte FPÖ-Sicherheitssprecher Hannes Amesbauer. „Dieses durch jahrzehntelange tiefschwarze Personalpolitik völlig zerstörte Amt ist offenbar nicht einmal willens und in der Lage, andere Behörden des BMI über brisante Gefahren zu informieren“, so Amesbauer, und weiter: „Auch wenn sich Innenminister Nehammer für die Arbeit des BVT offensichtlich wenig interessiert hat und daher nun behauptet, über den späteren Attentäter nichts gewusst zu haben, ist er für dieses tödliche Versagen politisch verantwortlich. Die einzig richtige Konsequenz ist sein Rücktritt.“

Scharfe Kritik kam auch von NEOS: „Das BVT, das von Beginn an von der ÖVP als parteipolitische Spielwiese missbraucht wurde, war nicht imstande, entscheidenden Hinweisen nachzugehen und Menschenleben zu schützen“, sagte Sicherheitssprecherin Stephanie Krisper. Eine vollkommene Neuaufstellung der Behörde sei notwendig. „Nicht mangelnde Rechtsgrundlagen oder Befugnisse waren das Problem. Das Problem lag ausschließlich an einer politisch lahmgelegten Behörde“, sagte auch Verteidigungssprecher Douglas Hoyos.